Whitepaper Basisdemokratie oder Datendiktatur? - Wahlforschung
2013
Smart News Fachverlag GmbH

Wahlen funktionieren heute anders als noch vor einigen Jahren. Die Beziehungen zwischen Wählern und Parteien sind seit einigen Jahren deutlichen Veränderungen unterworfen, sie sind brüchiger geworden. Abnehmende Wahlfreude, zunehmende Wankelmütigkeit und eine Verlagerung der individuellen Wahlentscheidung bis spät in den Wahlkampf hinein sind Kennzeichen des heutigen Elektorats. Selbstverständlichkeiten im Wahlprozess, die es früher einmal gegeben hat, sind nicht verschwunden, aber doch seltener geworden. An die Stelle von Stabilität, die Wahlen in Deutschland über viele Jahre und Jahrzehnte geprägt hat, ist zunehmende Dynamik getreten. In der Folge – und das erleben wir ja gerade – werden Wahlkämpfe zwar nicht unbedingt interessanter für die Empfänger, aber in letzter Konsequenz eben doch wichtiger: Rund die Hälfte der Wähler hat sich eigenen Angaben zufolge im Lauf der Wahlkämpfe 2005 und 2009 erst am Schluss "entschieden". Dies zeigt: Die Entscheidung des demokratischen Souveräns steht vor dem Wahltag länger denn je zur Disposition.
Diese fundamentalen Verschiebungen können nicht ohne Folgen bleiben. Dies gilt zuvorderst für die Parteien und ihre Kandidaten, die ihre Bemühungen mehr und mehr auf die heiße Schlussphase verschieben. Es gilt aber in nicht minder akuter Weise für die kommerzielle und akademische Wahlforschung, denn die Beschreibung und Erklärung von stabilen Verhältnissen haben gänzlich andere Erfordernisse als die Beschreibung und Erklärung von Veränderung und Dynamik.
Wer sich den laufenden Wahlkampf und seine Begleitung durch die Wahlforschung anschaut, wird unmittelbar feststellen, was diese Folgen sind: Die großen Institute der Markt- und Meinungsforschung liefern uns praktisch täglich ein Häppchen Demoskopie, jedes Institut an einem anderen, "eigenen" Tag. Keine Veränderung in der politischen Stimmung, der Sonntagsfrage und der Kanzlerfrage bleibt unbeobachtet und sei sie auch noch so klein. Zugleich ist eine Vervielfältigung der Herangehensweisen erkennbar: Dies gilt nicht nur für die Art und Weise, wie politische Meinungsumfragen zustande kommen. Das alte Duo aus persönlichen und telefonischen Befragungen hat sich zu einem Trio erweitert, denn auch in die Wahlforschung haben sich Online-Umfragen Einzug gehalten. Auch dem (exklusiven) Handy-Nutzer sind die Macher von Meinungsumfragen heute verstärkt auf der Spur, um auch dadurch bedingte Verzerrungen zu vermeiden.
Über den Modus der Erhebung hinaus sind auch Innovationen in der Art und Weise, wie Umfragen realisiert werden, erkennbar. Panelbefragungen, in deren Rahmen ein identischer Personenkreis mehrfach befragt wird, machen Veränderungen sichtbar; Ansätze wie das Rolling-Cross-Section-Design versuchen ebenfalls, Veränderungen auf täglicher Basis im Wahlkampf offenzulegen. An anderer Stelle, nämlich in der Interviewsituation selbst, setzen implizite Verfahren (wie die Messung von Reaktionszeiten etwa bei der Sonntagsfrage) an. Wer lange zögert, bis er eine Antwort auf die Sonntagsfrage gibt, der wechselt vielleicht doch noch seine Wahl bis zum Wahltag. Für Demoskopen eine durchaus wichtige Information, wenn es um Einschätzung der (In-)Stabilität des Meinungsklimas geht.
Darüber hinaus sind auch ganz andere Ansätze erkennbar. Wahlbörsen versuchen durch Rückgriff auf den Markt und seine Schwarmintelligenz Wahlergebnisse vorherzusagen, andere schauen sich Zahl, Verteilung und die Inhalte von Tweets an, um zu interessanten Schlüssen über Wahlen und Wählerverhalten zu kommen. Auch die Anfragen in Suchmaschinen bergen sicherlich interessante Informationen, gerade auch mit Blick auf Wahlen. Thomas Gschwend und Helmut Norpoth geben seit einigen Jahren eine Wahlprognose ab, in die einzig und allein drei strukturelle Faktoren eingehen, nämlich die Stimmenanteile der Bundesregierung bei den vergangenen Wahlen, die Zahl der Amtsperioden der amtierenden Regierung sowie die Beliebtheit der Kanzlerin. All das ist spannend und funktioniert etwa im Falle der Gschwend’schen Prognose auch erstaunlich gut. Nicht an allen Stellen ist allerdings immer ganz klar, was genau der Mechanismus ist, der hier untersucht und beleuchtet wird und wie im Einzelnen die Zahlen und Prognosen zustande kommen. Was etwa ist die abstrakte Idee, die die Brücke von den Tweets zum Ausgang der Wahl baut?
Insgesamt ist an der Stelle zu sagen, dass gerade in Zeiten, in denen das Verhalten der Wähler weniger übersichtlich ist und in denen zugleich eine Diversifizierung von Verfahren und Herangehensweisen der Wahlforscher zu beobachten ist, Transparenz unerlässlich ist: Wie kommen die Zahlen zustande? Wie werden sie verarbeitet? Und wie tragfähig sind sie? Forderungen nach einem "demoskopischen Impressum" sind alt – aber vielleicht relevanter denn je.
Schließen möchte ich mit zwei Punkten. Der erste betrifft die Wahlbeteiligung: Zwar wird in diesem Wahlkampf 2013 viel darüber geredet. Auch in den Wahlkämpfen der Parteien spielt sie eine wichtige Rolle. Aber von Seiten der Wahlforschung hören wir zwar en masse Sonntagsfragen, was die Parteiwahl betrifft, aber keine einzige Schätzung, wie hoch wohl die Wahlbeteiligung ausfallen wird. Das ist schade – und hier besteht Handlungsbedarf.
Der zweite Punkt zielt auf die höchst spannende Frage, wie Umfragen eigentlich selbst das Verhalten der Wähler beeinflussen. Das ist ein alter Streit in der Wissenschaft und formulierte Hypothesen dazu gibt es reichlich. Zugespitzt wird die Situation in diesem Jahr durch die Tatsache, dass das ZDF erstmals auch in der Woche vor der Wahl eine Projektion machen wird. Wird diese "besser" sein? Wir wissen es nicht. Denn es könnte ja gerade sein, dass die rationalen, strategischen Wähler gerade auf diese letzte Umfrage umso heftiger reagieren, genau weil sie so zeitnah zum Wahltag veröffentlicht wird. In der Konsequenz würden die Reaktionen der Wähler auf die Umfrage die Umfrage vielleicht ad absurdum führen. Das bedeutet keineswegs, dass die Umfrage falsch war. Aber sie hat selbst eben Reaktionen ausgelöst.
Eine mögliche Konsequenz hat der amerikanische Politikwissenschaftler Herbert Simon schon 1954 formuliert: Demoskopische Institute müssten Werte projizieren, die wiederum in der Wählerschaft Reaktionen auslösen, die dazu führen, dass genau die ursprünglich publizierten Werte eintreten. Da das doch arg schwierig scheint, wäre eine einfachere Konsequenz vielleicht: Wir alle sollten entspannter mit (transparenten!) Umfragen umgehen: Sie sind wichtig, sie sind spannend – aber entscheidend ist immer noch "auf dem Platz" – und das in der Politik der Wahltag!