Tiefeninterview
[engl.: In-Depth-Interview, IDI]
Das Tiefeninterview (kurz TI) ist eine Befragungsmethode der Qualitativen Forschung. Kennzeichnend sind eine hohe Intensität und eine offene, non-direktive Gesprächsführung, die sich ganz auf die Interviewten konzentriert.
Ziel ist das Verstehen der interviewten Person in allen für den jeweiligen Gegenstandbereich relevanten Einstellungen und Erfahrungen, Motiven und Bedürfnissen, Bedeutungs- und Lebenszusammenhängen. Dabei werden auch schwer erfassbare Phänomene aufgedeckt, wie z. B. implizites Wissen, implizite Theorien, verborgene Bewusstseinsinhalte, Motive und Motivkonflikte.
Dahinter steht die (tiefen)psychologische Sichtweise, dass das menschliche Verhalten durch Motive, Werte und Erfahrungen gesteuert wird, die häufig unbewusst sind, aber durch geeignete psychologische Befragungsmethoden und -techniken bewusst gemacht werden können.
Anwendungsfelder in der Marktforschung
Tiefeninterviews werden immer dann eingesetzt, wenn ein ganzheitliches Verständnis gewonnen werden soll, das vor allem auch die implizite psychische Ebene betrachtet.
- Zielgruppenanalysen, z. B. für Consumer-Typologien, als Basis für die Entwicklung neuer Produkte und Geschäftsmodelle, Markenstrategien und Werbekonzepte
- Markenstudien, wie z. B. die Markenkern-Analyse, die alle mit einer Marke zusammenhängenden Motive, Bedürfnisse und Bedeutungszusammenhänge betrachtet
- Produkt-, Verpackungs- und Werbetests: Exploration der impliziten Wirkungen, vor allem auf der emotionalen und der Motivebene
- Customer Experience: Differenzierte Erfassung der Customer Journey, der Erlebnisqualitäten, Motive und Bedürfnisse an den verschiedenen Touchpoints
- Sensiblere und komplexere Themen: z. B. Krankheiten, kritische Lebensphasen, politische Überzeugungen, komplexe Entscheidungen und schwer verständliche Produkte
Durchführung und Analyse von Tiefeninterviews
Das leitfadenbasierte Interview geht in der Regel über 90 bis 180 Minuten und wird häufig persönlich durchgeführt im Teststudio oder bei den Befragten (In-Home, In-Office). Die Durchführung über Videokonferenz-Plattformen hat mittlerweile stark zugenommen. Telefonische Tiefeninterviews (Telephone Depth Interview, kurz TDI) sind seltener.
Das Gespräch folgt einem nicht-standardisierten, teilstrukturierten bzw. halbstrukturierten Leitfaden, der Explorationslogik und Themenabfolge in grundlegenden Zügen vorgibt. Davon ausgehend wird das Interview flexibel an die jeweilige Gesprächsdynamik und die interviewte Person angepasst.
Die Gesprächsführung erfordert spezifische Kompetenzen, wobei die Interviewenden sich, ihre Gesprächsführung und ihre Interpretationen immer wieder hinterfragen müssen. Sonst besteht die Gefahr, dass nicht die Sicht der Interviewten erhoben wird, sondern die Sicht der Interviewenden auf die Interviewten.

Abb.: Typischer Analyseprozess bei Tiefeninterviews
Die Analyse von Tiefeninterviews erfolgt in der Regel in mehreren Schritten. Zunächst verfassen die Interviewenden eine Interviewverdichtung, die Interviewverlauf, Ergebnisse und zentrale Aussagen der Interviewten beschreiben sowie erste Hypothesen formulieren. In einer Analysesitzung entwickelt das Interview- und Projektteam konsensual zentrale Hypothesen für die anschließende Gesamtanalyse. Unter Rückgriff auf die Interviewverdichtungen (-transkripte und -aufzeichnungen) werden hier die Hypothesen sukzessive verfeinert und überprüft.
Vorteile des Tiefeninterviews
Die Vorteile von Tiefeninterviews speisen sich aus der offenen Gesprächsführung, der vertrauensvollen Gesprächsatmosphäre und der intensiven psychologischen Exploration.
- Gewinnung neuer Erkenntnisse, Entdecken bisher unbekannter Phänomene durch die offene und flexible Exploration
- Ganzheitliche Analyse des jeweiligen Gegenstandsbereichs und der Zielgruppe in allen relevanten Aspekten
- Verstehen der Gründe für Bewertungen und Verhalten
- Tiefgreifende Exploration auch impliziter, unbewusster oder irrationaler Einstellungen und Motive, vordergründige Rationalisierungen werden aufgebrochen und auf ihre Bedeutung für den jeweiligen Gegenstandsbereich hin analysiert
- Weniger Soziale Erwünschtheit und Impression Management durch eine vertrauensvolle, offene Gesprächsatmosphäre
- Beobachtungsmöglichkeit schafft lebendigen und intensiven Eindruck der Zielgruppe
Nachteile des Tiefeninterviews
Zentrale Herausforderungen und Nachteile von Tiefeninterviews sind die folgenden.
- Hoher Aufwand vor allem bei Durchführung und Analyse
- Hohe Anforderungen an Interviewende und Interviewte
- Keine Quantifizierung: Das Tiefeninterview zielt nicht auf quantitative Aussagen ab. Es kann aber mit quantitativer Forschung kombiniert werden
- Beschränkte Vergleichbarkeit, da jedes Interview einzigartig ist. Allerdings wird durch ein Interview-Team und eine gemeinsame Analyse ein grundlegendes Maß an Intersubjektivität hergestellt (qualitatives Gütekriterium, Pendant zur Reliabilität)
- Mögliche Überschätzung der Handlungsrelevanz von explorierten Einstellungen und Motiven, da keine Prüfung der Hypothesen am tatsächlichen Verhalten erfolgt. Allerdings trifft das auf alle Befragungen zu. Um eine stärkere Verhaltensnähe zu erreichen, können Tiefeninterviews mit Verhaltensbeobachtung kombiniert werden.