Qualitative Forschung
[engl.: qualitative research]
Definition
Qualitative Forschung ist ein sozialwissenschaftlicher Forschungsansatz, dessen Ziel das Beschreiben und Verstehen von menschlichem Verhalten, psychischen oder sozialen Zusammenhängen ist. Im Unterschied zur quantitativen Forschung geht es nicht um Häufigkeiten, sondern um Qualitäten. Typische Fragen sind: Wie? Wieso? Warum? Was genau?
Da die qualitative Forschung auf Verstehen, die Gewinnung von Einsichten und Einblicken abzielt, wird dafür in der Marktforschung mittlerweile häufig der Begriff „Insights“ verwendet.
Basis der qualitativen Forschung sind verbale Daten, die systematisch analysiert und interpretiert werden. Die empirischen Erhebungen arbeiten mit kleineren Stichproben, die Frageformate sind nicht standardisiert (d. h. es werden keine Antwortalternativen vorgegeben), die Befragung ist offener und flexibler, dennoch systematisch und regelbasiert.
Qualitative Marktforschung: Anwendungsbeispiele
Qualitative Forschung kommt immer dann zum Einsatz, wenn es darum geht, Zielgruppen und Prozesse genauer zu verstehen oder einen Gegenstandsbereich zu erkunden, zu dem bislang kaum Erkenntnisse vorliegen. Anwendungsbereiche sind beispielsweise die folgenden.
- Zielgruppenanalysen: Um ein tiefergehendes, anschauliches und präziseres Verständnis für eine neue Zielgruppe zu gewinnen, werden in qualitativen Studien deren Motive und Bedürfnisse, Einstellungs- und Verhaltensmuster, Erfahrungs- und Lebenswelt aufgeklärt. Die Ergebnisse können in die Beschreibung von Personas einfließen oder Grundlage für psychologische Typologien und Segmentierungen sein.
- Innovation und Produktentwicklung: Vor allem in frühen Phasen hat qualitative Forschung eine wichtige Funktion. Sie wird z. B. für Zielgruppen- und Bedürfnisanalysen eingesetzt, für Ideengenerierung und Konzeptentwicklung, Konzepttests und Nutzungstests (User Experience).
- Branding und Kommunikation: Marken und Werbemittel arbeiten stark auf der emotionalen, unterschwelligen Ebene. Das dafür notwendige tiefe psychologische Verständnis von Motiven und Bedürfnissen, mentalen Mustern und emotionalen Prozessen liefern qualitative Studien (z.B. Markenkern-Analyse, qualitativer Test von Value Propositions und Werbekonzepten), häufig im Zusammenspiel mit einer anschließenden Quantifizierung.
- User Experience: Bei der Entwicklung von user-centred Designs wird die Zielgruppe in möglichst jeder Phase einbezogen, meist in qualitativen Studien, die Interviews mit Handlungs- und Beobachtungselementen kombinieren. Prototyp ist der Usability-Test, mit dem Nutzungsfreundlichkeit und -erleben exploriert und Optimierungsfelder identifiziert werden.
- Customer Experience: Hier kommt die qualitative Forschung bei Grundlagenstudien zur Aufklärung einer Customer Journey zum Einsatz sowie bei Vertiefungsstudien (Deep Dive), in denen für einen Touchpoint die Anforderungen der Kundschaft oder die Gründe für mögliche Unzufriedenheiten exploriert werden.
Wie diese Beispiele bereits zeigen, wird qualitative Forschung häufig mit quantitativer Forschung kombiniert, wobei deren Abfolge immer vom Erkenntnisziel abhängig ist.
- Qualitative Studie als Vorstudie zur Erkundung eines neuen Gegenstandsbereich und zur Hypothesengenerierung für die anschließende Quantifizierung
- Qualitative Studie als Vertiefungsstudie zum Deep Dive in einzelne Phänomene, die nach einer quantitativen Studie aufgeklärt werden sollen
Ein qualitatives Vorgehen wird unter forschungspragmatischer Perspektive auch dann gewählt, wenn eine quantitative Befragung nicht möglich ist, z. B. wenn die Grundgesamtheit sehr klein ist (so dass keine große Stichprobe gezogen werden kann (und auch nicht muss) oder die Zielgruppe sehr anspruchsvoll und nicht zu einer standardisierten Befragung bereit ist.
Prozess einer qualitativen Marktforschung
Ausgangspunkt ist wie bei jeder Studie die Definition der Untersuchungsziele und Forschungsfragen (auch wenn die Fragestellungen im Rahmen der qualitativen Studie erweiterbar sind). Davon ausgehend wird das Forschungsdesign entwickelt, das Erhebungs- und Auswertungsmethode sowie die Stichprobe festlegt.
Im Unterschied zur quantitativen Forschung wird die Stichprobe nicht nach statistischer Repräsentativität quotiert (d. h. sie muss in ihrer soziodemografischen Verteilung kein Abbild der Grundgesamtheit sein), sondern nach theoretischer oder psychologischer Repräsentativität: D. h. sie wird so zusammengestellt, dass möglichst alle relevanten Phänomene im jeweiligen Gegenstandsbereich erfasst werden können und die Aussagen verallgemeinerbar sind.
Der Forschungsprozess

Quelle: marktforschung.de
Steht das Forschungsdesign, werden die Erhebungsinstrumente entwickelt: z. B. Moderationsleitfaden, Beobachtungsleitfaden, Tagebuch etc. Die Instrumente sind nicht-standardisiert, folgen aber einer explorativen Systematik und sind zumindest teilstrukturiert bzw. halbstrukturiert (d.h. geben eine Explorationsabfolge vor). Auch wenn die qualitative Forschung offener gehalten ist, ist die Konzeptionsphase ein wichtiger Grundstein für den Forschungserfolg. Forschungsdesign und Forschungsinstrumente müssen so konzipiert sein, dass die auf die Forschungsfragen passen und sie verlässlich und umfassend beantworten (Gütekriterium Gegenstandsadäquanz bzw. Validität).
Die Erhebungs- bzw. Feldphase startet mit der Rekrutierung von Befragten entsprechend der Stichprobenvorgaben (Screeningbogen). Da qualitative Explorationen mit höheren Anforderungen an die Befragten verbunden sind, müssen die Erhebungen terminiert werden. In der Regel erfolgt die Rekrutierung durch spezialisierte Felddienstleister (Feldinstitute, Teststudios, Panels).
Bei der Durchführung ist die Moderationsqualität entscheidend für den Forschungserfolg. Anders als bei quantitativen Befragungen, bei denen das Forschungssubjekt (also die befragende Person) objektiv und im Hintergrund bleibt, steuert das Forschungssubjekt die qualitative Exploration. Dabei ist unvermeidlich, dass sich das Forschungssubjekt auch mit eigenen Einstellungen und Vorstellungen (mitunter Vorurteilen) einbringt. Wichtig ist, dass sich die Moderation dieses bewusst macht und während der Exploration oder in der Analyse korrigierend gegensteuert (Gütekriterium der Reflektierten Subjektivität).
In der Durchführungsphase sind Rückkopplungsschleifen und Iterationen möglich: Nach den ersten Explorationen können Anpassungen von Leitfaden und Stimuli für die weiteren Explorationen vorgenommen werden. Die Ergebnisse werden dokumentiert (z. B. Aufzeichnung, Transkript, Protokoll) und im Falle von Befragungen häufig in einem ersten Analyseschritt verdichtet (z.B. Interviewverdichtung).
Während die Auswertung von quantitativen Studien mit statistischen Verfahren erfolgt, werden die verbalen qualitativen Daten analytisch, interpretativ ausgewertet, wobei auch ein Rückgriff auf theoretische Modelle erfolgt. Analysemethoden sind z. B. Inhaltsanalyse und hermeneutische Verfahren. Gerade aufgrund der Offenheit qualitativer Forschung ist hier ein transparentes und systematisches Vorgehen wichtig. Hier greift das Gütekriteriums der Intersubjektivität (das qualitative Pendant zur Reliabilität), nach dem zwei Forschende mit demselben Datenmaterial und denselben Analyseinstrumenten zu dem gleichen Ergebnis kommen sollten. Analysesitzungen mit mehreren Forschungsbeteiligten sind z. B. ein Mittel um eine hohe Analysequalität zu gewährleisten.
Vergleich von Qualitativer Forschung und Quantitativer Forschung

Quelle: marktforschung.de
Arten der Datengewinnung und ihre Ziele
Es gibt eine Vielzahl an qualitativen Erhebungsmethoden. Die klassischen Methoden werden danach unterschieden, ob es sich um Befragung bzw. Selbstauskunft oder Beobachtung handelt, ob individuelles Verhalten oder soziale Prozesse im Vordergrund stehen.
- Interviewverfahren, z. B. Tiefeninterview, narratives Interview, Experteninterview: Klären individuelle Erfahrungen, Motive- und Einstellungen, Handlungsmuster und Entscheidungsprozesse auf
- Gruppenexplorationen, z. B. Gruppendiskussion bzw. Fokusgruppe, Workshop: Klären vor allem soziale Prozesse auf, z. B. soziale Meinungsbildung, Produktdiffusion in der sozialen Bezugsgruppe. Durch die wechselseitige Anregung der Teilnehmenden haben sie ein stärkeres kreatives Potenzial und werden deshalb auch häufig zur Ideengenerierung und Konzeptentwicklung eingesetzt.
- Verhaltensbeobachtung, z. B. nicht-teilnehmende Beobachtung, teilnehmende Beobachtung: Klärt das konkrete Verhalten auf z.B. bei einem Kauf, der Nutzung einer digitalen Anwendung, der Inbetriebnahme oder Nutzung eines Geräts. Die Beobachtung wird häufig kombiniert mit einem anschließenden Interview, beispielsweise beim Usability-Test
Die klassischen Befragungsmethoden und mit Einschränkungen die Verhaltensbeobachtung können vor Ort oder remote per Videokonferenz durchgeführt werden. Letzteres erlebte in der Corona-Pandemie einen Boom.
Davon zu unterscheiden ist die qualitative Online-Forschung, die sich seit ca. 2010 entwickelt hat und vor allem folgende Erhebungsmethoden umfasst:
- Online-Tagebuch (Diary, Blog): Besonders geeignet für die Exploration von Alltagserfahrungen und Handlungsprozessen: z.B. Alltagskontakte mit einer Marke, Informations- und Entscheidungsprozesse, Path to Purchase, Customer Journey
- Online-Forum (Board): Erfasst wie die Gruppendiskussion soziale Meinungsbildungsprozesse. Ist wegen der asynchronen Diskussion weniger spontan, bringt dafür elaboriertere Beiträge und Argumentationen, ist damit tiefergehend und eignet sich in Kombination mit Chats gut für die konstruktiv-kreative Entwicklung von Konzepten.
- Online-Chat (teilw. auch Online-Fokusgruppe genannt): Der textbasierte Live-Chat eignet sich besonders für die Erhebung spontaner Reaktionen und Assoziationen sowie die schnelle Ideengenerierung.
In der Market Research Online-Community (kurz: MROC, nicht zu verwechseln mit Kunden-Communities bzw. Kunden-Panels) werden die qualitativen Online-Methoden systematisch miteinander verzahnt (und ggf. durch Remote-Explorationen ergänzt). Damit kann die komplette Bandbreite des Denkens, Fühlens und Handelns einer Zielgruppe exploriert werden, es können tiefe Insights generiert werden und ein breites Spektrum an Wünschen und Ideen. Deshalb eignet sich die Online-Community besonders für Zielgruppen-Analysen, Innovation und Produktentwicklung, Customer Journey und Exploration von Kundenbedürfnissen. Die Online-Community läuft über mehrere Tage bis hin zu mehreren Wochen und kombiniert vorgegebene Themen und Aufgabenstellungen mit einer kontinuierlichen Moderation.
Vorteile der Qualitativen Forschung
Die Vorteile Qualitativer Forschung ergeben sich aus ihrer Offenheit und Flexibilität, ihrer Alltagsnähe und ihrem explorativen Charakter.
- Lässt bislang Unbekanntes entdecken: Während quantitative Studien nur die Antworten bringen, die im Fragebogen enthalten sind, liefert die qualitative Forschung neue Erkenntnisse und fördert neue Inhalte zutage, an die bislang nicht gedacht wurde.
- Verstehens- und handlungsorientiert: Klärt Gründe für Verhaltens- und Bewertungsmuster der Zielgruppe auf. Daraus lassen sich Maßnahmen und Strategien ableiten.
- Tiefgreifende, detaillierte und differenzierte Insights zum jeweiligen Gegenstandsbereich
- Nah der Zielgruppe und deren Lebenswelt durch die Offenheit der Befragung, die Konzentration auf die Befragten und die lebensnahe Befragungsform
- Beobachtungsmöglichkeit liefert auch internen oder externen Auftraggebern einen lebendigen Einblick in ihre Zielgruppe
- Breites Spektrum an Explorationsmethoden erlaubt auch die Erforschung schwieriger und komplexer Zusammenhänge
- Kreatives Potenzial: Vor allem Gruppenexplorationen, aber auch Interviews schöpfen das kreative Potenzial der Zielpersonen besser aus als standardisierte Befragungen.
Nachteile der Qualitativen Forschung
Zentrale Beschränkungen und Nachteile der qualitativen Marktforschung sind die Folgenden:
- Erlaubt bei kleinen Stichproben keine verlässlichen quantitativen Aussagen. Grundsätzlich sind verbale Daten aber über eine Inhaltsanalyse (Kodieren) quantifizierbar.
- Keine Quantifizierung von Potenzialen: Qualitative Forschung kann z. B. erklären, welches Konzept aus welchen Gründen ankommt. Sie kann aber nicht verlässlich bestimmen, bei welchem Anteil der Zielgruppe es ankommt oder in welchem Maße es besser ankommt als ein alternatives.
- Höherer Aufwand: Im Vergleich zur quantitativen Befragung sind Datenerhebung und -analyse aufwändiger, die Forschungsleitung ist häufig in alle Phasen des Forschungsprozesses involviert.
- Gefahr von Beliebigkeit im Forschungsprozess: Durch ihre Offenheit und Alltagsnähe erscheint die Qualitative Forschung leicht zugänglich. Mitunter wird vergessen, dass auch hier Systematik, Methoden-, Moderations- und Analysekompetenz erfolgskritisch sind.