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Maggy Mächler, TestingTime Wie man chinesische Touristen und andere schwer erreichbare Personen für UX-Tests rekrutiert

Nutzerforschung ist oft nur so gut wie die rekrutierten Testpersonen. Manchmal kann es jedoch schwierig sein, die richtigen Teilnehmenden für die Forschungsfrage zu finden - vor allem, wenn versucht wird, eine bestimmte Gruppe von Menschen zu finden, die schwer zu erreichen ist. Maggy Mächler zeigt in ihrem Beitrag mögliche Lösungen auf und diskutiert die unterschiedlichen Qualitäten der Rekrutierungswege.

Wie rekrutiert man eine so spezielle Zielgruppe wie chinesische Touristen in Amsterdam für einen Usability-Test? Maggy Mächler zeigt verschiedene Möglichkeiten auf (Bild: picture alliance / ANP).

Was wäre, wenn Sie zum Beispiel 500 Diabetiker, Touristen oder Entscheidungsträger in Bars rekrutieren müssten, um ein neues Produkt zu testen. Wie würden Sie vorgehen?

Was sind schwer erreichbare Testpersonen?

Zunächst ist es wichtig, ein klares Verständnis dafür zu haben, wie man schwer zu erreichende Teilnehmende definiert.

Testpersonen, die schwer erreichbar sind, besitzen bestimmte Merkmale, die ihre Rekrutierung zu einer Herausforderung machen:

  • Geringe Empfänglichkeit für finanzielle Anreize aufgrund hoher Einkommen
  • Zeitliche Einschränkungen aufgrund eines vollen Terminkalenders
  • Offenheit, sensible Themen (Gesundheit, Einkommen, usw.) zu diskutieren
  • Sie wohnen an einem abgelegenen Ort (wenn zum Beispiel Produkte vor Ort getestet werden müssen)
  • Begrenzte digitale Kompetenz
  • Körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen

Die Inzidenzrate (IR) kann so gering wie 1 Prozent sein, was bedeutet, dass nur einer von hundert Menschen die festgelegten Kriterien erfüllt. Diese Personen sind somit äußerst schwer zu erreichen. Dennoch sollten Sie diese Zielgruppe in ihrer Benutzerforschung nicht grundsätzlich außen vor lassen.

Warum Sie sich für schwer erreichbare Testpersonen interessieren sollten

Der Wert von User Research hat sich im Laufe der Jahre entwickelt, was sich in den gängigen Reifegradmodellen für die Benutzererfahrung (UX) widerspiegelt. Konkret bedeutet dies, dass Unternehmen erkannt haben, wie wichtig es ist, Forschung über die Bedürfnisse, Vorlieben und das Verhalten der Benutzer durchzuführen, um bessere Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Dies hat zu einer Entwicklung und Verfeinerung von Reifegradmodellen geführt, die Unternehmen dabei helfen, ihre Fähigkeiten im Bereich UX zu bewerten und zu verbessern. Diese Modelle berücksichtigen nun verstärkt den Wert und die Rolle von User Research in der UX-Entwicklung.

Als Recruiting-Plattform sehen wir bei TestingTime, dass nebst den gängigen B2C-Profilen, immer häufiger spezialisierte Profile (z.B. B2B, High-net-worth individuals (HNWI), Medical, etc.) angefragt werden. Mit steigendem UX-Reifegrad richten sich Unternehmen vermehrt auf die Bedürfnisse und Erwartungen von schwer erreichbaren Testpersonen aus.

Barrierefreiheit und Inklusivität beziehen sich darauf, die Bedürfnisse vielfältiger Zielgruppen zu erfüllen. Faktoren wie Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung, soziale Schicht, Alter und andere beeinflussen maßgeblich die Art und Weise, wie Menschen Produkte und Dienstleistungen erleben. Kurz gesagt: Es gibt nicht mehr “One size fits all”. Benutzergruppen müssen in der UX-Forschung in einer modernen inklusiven Organisation berücksichtigt werden.

Aus diesen Gründen sollte Ihre Forschungsperspektive möglichst inklusiv sein.

Wie Sie schwer erreichbare Testpersonen für UX-Studien rekrutieren können

1. Der “Grassroot”-Ansatz

Die erste Methode, um schwer zu erreichende Teilnehmende zu rekrutieren, ist der sogenannte "Grassroot"-Ansatz. Bei diesem Ansatz spricht man gezielt Menschen in Gemeinden, Stadtvierteln oder speziellen Interessengruppen an, um echte Interessenten für Studien zu finden. Diese Teilnehmer sind nicht nur interessiert, sondern setzen sich je nach Produkt und Dienstleistung auch aktiv dafür ein. Wenn Sie ein einmaliges Projekt durchführen möchten, ist der "Grassroot"-Ansatz eine gute Option.

Hier sind die Schritte zur Umsetzung:

1. Verstehen der Zielgruppe: Umso ungewöhnlicher die Zielgruppe ist, desto wichtiger ist dieser Punkt. Tauchen Sie in die Welt der Zielgruppe ein, vernetzen Sie sich mit ihnen und ergründen Sie ihre Interessen und Motivationen. Stellen Sie sicher, dass die Teilnahme einfach ist und positive Erfahrungen angestrebt werden.

2. Kreatives Rekrutieren: Nutzen Sie Empfehlungen, suchen Sie aktiv auf verschiedene Kanälen und greifen Sie auf persönliche Netzwerke zurück, um die richtigen Teilnehmenden zu finden.

3. Aufbau von Vertrauen: Kommunizieren Sie transparent den Zweck der Studie und ihre Absichten. Setzen Sie Anreize, die den Teilnehmern wichtig sind, und sorgen Sie dafür, dass die Teilnehmenden sich wertgeschätzt fühlen. Betonen Sie Ehrlichkeit und Authentizität in Interaktionen, um Vertrauen aufzubauen und den Erfolg des "Grassroots"-Ansatzes zu gewährleisten.

Zwei Beispiele aus der Praxis, die den "Grassroot-Ansatz verdeutlichen:

Im ersten Fall wollte das Van-Gogh-Museum in Amsterdam einen 3D-Garten testen und 150 chinesische Touristen rekrutieren. Die Lösung: Mit einem örtlichen Reiseleiter zusammenarbeiten, der das 3D-Garten-Erlebnis in die Tour integrierte, ohne zusätzliche Kosten.

Ein weiteres Beispiel: Eine Biermarke, die die Vorlieben von geschäftigen Führungskräften und Entscheidungsträgern in Bars verstehen wollte. Die Lösung: Es wurde eine exklusive Roof-Top-Veranstaltung mit Networking-Möglichkeiten und kostenlosem Essen und Trinken organisiert. Dieser Ansatz sprach das Bedürfnis nach Networking und exklusiven Erlebnissen an und lieferte wertvolle Einblicke in die Vorlieben der Zielgruppe.

Zusammenfassend kann man sagen, dass der "Grassroot"-Ansatz für einmalige Studien geeignet ist. Wenn Sie jedoch wiederholt Benutzerforschung mit derselben Zielgruppe durchführen wollen, sollten Sie einen Private Pool beziehungsweise ein privates Panel in Betracht ziehen.

2. Der Private-Pool-Ansatz

Aus folgenden Gründen kann es sinnvoll sein, eine eigene Benutzerdatenbank beziehungsweise einen Private Pool aufzubauen.

Das sind die Gründe:

Zuverlässiger Zugang: Sie erhalten einen zuverlässigen und kontinuierlichen Zugang zu einer Gruppe von Testpersonen, die schwer zu finden sind. Das bedeutet, dass die Rekrutierung nicht jedes Mal von vorne beginnen muss, wenn sie diese Testpersonen benötigen.

Effizienz: Es spart Zeit und Mühe bei der Rekrutierung. Die Suche nach schwer erreichbaren Testpersonen ist zeitintensiv. Daher ist es effizienter, wenn Sie bereits über eine vordefinierte Gruppe von Teilnehmern verfügen.

Konsistenz: Sie können sicherstellen, dass sie immer die gleiche Art von Testpersonen für ihre Forschungsprojekte verwenden, was die Konsistenz der Ergebnisse sicherstellt.

Vertrauen und Beziehung: Sie können ein Vertrauensverhältnis zu diesen Testpersonen aufbauen. Dies kann dazu beitragen, dass sie bereitwilliger an zukünftigen Projekten teilnehmen werden.

Wir von TestingTime haben bereits für einige UX-Teams den Aufbau von Private Pools übernommen. Das sind durchaus zeitaufwändige Aufgaben. Deshalb entscheiden sich viele UX-Teams dafür, die Rekrutierung auszulagern.

Um das Ganze zu verdeutlichen, hier ein konkretes Beispiel: Ein Unternehmen, das sich auf die Entwicklung von Geräten für Menschen mit Diabetes spezialisiert hat, wollte die physische Prüfung seiner Geräte vor Ort durchführen.

So haben wir diesen Pool etabliert:

  • Wir haben eine spezielle Landingpage auf unserer Webseite eingerichtet, um Testpersonen detaillierte Informationen zu den geplanten Tests bereitzustellen und sie zur Registrierung zu ermutigen.
  • Als nächstes haben wir Testpersonen aus unserem öffentlichen Pool gezielt nach Diabetes befragt und sie um Empfehlungen gebeten.
  • Wir haben intensive Social-Media-Marketing-Kampagnen durchgeführt, einschließlich Instagram-Beiträge. Die Zusammenarbeit mit Influencern half uns, die Reichweite zu erhöhen.
  • Posts von Beiträgen in Online-Communities, Online-Foren und Blogs.
  • Wir nutzten das Netzwerk des Auftraggebers und versandten gezielt Einladungen per E-Mail.
  • Darüber hinaus arbeiteten wir eng mit Diabetesvereinigungen und lokalen Gruppen zusammen, um die Rekrutierungsmöglichkeiten weiter zu erweitern. 

All diese gemeinsamen Anstrengungen führten zur Rekrutierung von ungefähr 1.500 Testpersonen in der Schweiz, Deutschland und UK. Damit legten wir eine solide Grundlage für die fortlaufende Rekrutierung, was maßgeblich zum Erfolg des Projekts beitrug.

3. Der “No-user”- Ansatz

Wenn keiner der beiden oben genannten Ansätze praktikabel erscheint, könnte stattdessen eine "No user" Forschung hilfreich sein:

UX-Experten-Bewertung

In Bezug auf die Durchführung von "No-user" Forschung gibt es einen alternativen Ansatz, die sogenannte UX-Expertenbewertung. Dabei übernehmen UX-Experten die Rolle der Testperson, um Usability-Probleme und Design-Stärken zu identifizieren. Obwohl er für bestimmte Aspekte wie Interviews möglicherweise nicht anwendbar ist, erweist er sich insbesondere für Usability-Tests als nützlich. Eine umfassende Forschungsstrategie sollte in diesem Fall idealerweise sowohl UX-Expertenbewertungen als auch Benutzerbeteiligung kombinieren, um ein genaues Verständnis der Benutzererfahrung zu erreichen.

Die Verwendung von KI für die Rekrutierung von Testpersonen

Die Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) für die Rekrutierung ist ein spannendes Forschungsgebiet, das moderne Benutzersimulationen einbezieht. Einige Studien, wie die verlinkte von der Harvard Business School und Microsoft, nutzen ChatGPT, um Umfragedaten zu generieren. Dies wirft die Frage auf, ob synthetisch erzeugte Daten durch KI-Modelle herkömmliche teilnehmerbasierte Forschung ergänzen können. Möglicherweise liegt die Zukunft in einem hybriden Ansatz, der sowohl echte Teilnehmende als auch synthetisch generierte Daten nutzt. Dennoch sollten KI-Simulationen nicht als vollständiger Ersatz für Benutzerforschung mit realen Personen angesehen werden, da menschliche Einsichten und Perspektiven oft Nuancen bieten, die KI nicht erfassen kann.

Zusammenfassung

Für eine umfassende Nutzerforschung ist es unerlässlich, die Herausforderungen zu verstehen und zu bewältigen, die sich durch schwer erreichbare Testpersonen ergeben.

Einige mögliche Ansätze, um sie zu finden und einzubinden, sind:

Der "Grassroot"-Ansatz: Er beinhaltet das Anzapfen persönlicher Netzwerke, die Suche nach Empfehlungen und die Nutzung von Mund-zu-Mund-Propaganda. Er fördert die Authentizität und stellt eine echte Verbindung zu den Teilnehmern her.

Der “Private-Pool- oder Panel”-Ansatz: Der Aufbau eines eigenen Private Pools ermöglicht eine gezielte Rekrutierung und ein optimiertes Engagement. Es ist jedoch wichtig, die Vorteile gegen mögliche Verzerrungen abzuwägen, die durch die Wiederverwendung von Teilnehmern entstehen können.

“No-User”- Forschung: Einsatz von UX-Experten-Bewertung zur Aufdeckung von Usability-Problemen und -Stärken oder von KI zur Generierung von Umfragedaten und zur Simulation von Nutzerinteraktionen als Ergänzung zu traditionellen teilnehmerbasierten Forschungsmethoden.

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Über die Person

Maggy ist eine erfahrene Senior-B2B-Marketing-Managerin mit einem Hintergrund in Wirtschaftspsychologie. Als Mitglied der UX-Community teilt Maggy ihre umfangreichen Erkenntnisse in verschiedenen Formaten. Sie organisiert regelmässig User-Research-Webinare, Podcasts und verfasst inspirierende Blog-Beiträge. Ihr Ziel ist es, nicht nur TestingTimes Plattform zu verbessern, sondern auch die gesamte UX-Community zu inspirieren und zu bereichern.

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