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Interview mit Lisa Wiese, eye square (Teil 2) „Digital Wellbeing ist als Reaktion auf negative Folgen durch die Nutzung digitaler Services entstanden"

Digitale Apps prägen bereits kurz nach dem Aufstehen unser Leben. Das Konzept des Digital Wellbeing prüft die langfristigen Folgen davon (Bild: picture alliance / Zoonar | Alexandra Troyan).
Positive UX gilt mittlerweile als Voraussetzung für ein Produkt oder eine Marke, um sich erfolgreich am Markt durchzusetzen. Sehen sie UX als einen Teil der Customer Experience (CX) oder als einen völlig eigenständigen Bereich?
Lisa Wiese: Positive UX ist für mich ein wesentlicher Teil einer positiven CX. Wie bereits erwähnt, reflektieren Nutzende ihre Technologie-Nutzung zunehmend und werden aktiv, um sich gegen negative Folgen zu schützen. Sie bemühen sich zudem, sich ein positives digitales Umfeld zu schaffen, das ihren Werten und Bedürfnissen entspricht und ihr Leben nachhaltig verbessert.
Entscheidend ist dabei ein positives Erleben oder eine Steigerung des Wohlbefindens bei beziehungsweise durch die Nutzung des Produkts an sich. Damit diese positiven Effekte der Produktnutzung – also der UX – eintreten können, müssen die Nutzenden aber zunächst auf das Produkt aufmerksam werden. Hier sind natürlich auch andere Touchpoints der CX wie Markenkommunikation und Vermarktung relevant, die mit UX synchronisiert werden müssen. Dafür müssen diese Bedürfnisse der Nutzenden im Marketing bekannt sein.
Wird “Digital Wellbeing” lediglich als Trend-Thema verstanden und nur im Marketing, nicht aber auf UX-Ebene adressiert, werden die Nutzenden das über kurz oder lang realisieren und Services anderer Wettbewerber ausprobieren.
Prinzipien des “Digital Wellbeing” können natürlich auch für die Optimierung weiterer CX-Touchpoints angewandt werden, zum Beispiel zur Förderung einer wertschätzenden Kommunikation innerhalb des Customer Supports. Nimmt ein Unternehmen das Thema “Digital Wellbeing” tatsächlich ernst, sollte es sich also entlang der gesamten Customer Journey widerspiegeln.
Bei UX geht es um das Nutzungserlebnis bei der Interaktion mit einem - digitalen - Produkt, einer Dienstleistung oder Umgebung. Was sind die KPIs entlang der Customer Journey, mit denen die UX eines Kunden gemessen und evaluiert werden sollte?
Lisa Wiese: Ich würde gerne ergänzen: es geht um das Nutzungserleben bei der Interaktion mit einem digitalen Produkt (On-Platform) und darüber hinaus (Off-Platform). Zumindest ist das so, wenn wir User Experience im Sinne von Digital Wellbeing erweitern.
Dann sollten auch langfristige Effekte im echten Leben und auf gesellschaftlicher Ebene betrachtet werden. Neben den typischen kurzfristigen UX-Metriken wie Abbruchrate, Fehlerrate, Zeitaufwand, Joy of Use, die sowohl behavioral - zum Beispiel Klickpfade - als auch per Selbstauskunft und Beobachtung erfasst werden können, sollten Aspekte des eudaimonischen Wohlbefindens miteinbezogen werden.
Besondere Vorsicht ist – aus Digital Wellbeing-Sicht – bei behavioralen Engagement-Metriken geboten (“was die Nutzenden tun”), denn dies spiegelt leider, vor allem vor dem Hintergrund von AI-optimierten Algorithmen in News- oder Social Media-Feeds, nicht immer das tatsächliche Interesse der Nutzenden wider. Deshalb ist es, wie bereits erwähnt, auch in Bezug auf langfristige Effekte wichtig, die Nutzenden zusätzlich direkt zu befragen, zum Beispiel in UX-Tracking-Studien. Schließlich spielen bei Digital Wellbeing auch langfristige CX-Metriken wie NPS, Empfehlungen oder Wiederbesuchsrate eine stärkere Rolle als kurzfristige Erfolgsindikatoren wie Engagement oder Joy of Use.
Ihre Promotion befasst sich damit, wie durch das Redesign alltäglicher Technologien eine respektvolle und freundliche digitale Kommunikation gefördert werden kann. Wo liegen da die großen Hebel?
Lisa Wiese: Generell gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, digitales Wohlbefinden durch die Gestaltung interaktiver Produkte und Services zu erhöhen. Dies wird sowohl im akademischen Bereich (zum Beispiel Positive Computing oder Positive Design) als auch im Interaction Design (zum Beispiel Digital Health Applikationen) bereits erforscht und angewandt. Meist werden dabei Determinanten, also Bedingungsfaktoren, des hedonistischen und eudaimonischen Wohlbefindens durch digitale Technologien unterstützt.
Meine Promotion stützt sich auf die oben beschriebenen Positiven Interventionen als Determinanten des Wohlbefindens, weil diese zum einen sehr gut erforscht sind, das heißt ihre Effektivität in Interventionsstudien belegt ist, sie zum anderen Wohlbefinden nachhaltig steigern können und sie sich schließlich leicht und kostengünstig in den Alltag integrieren lassen – also für alle zugänglich sind.
Im eHealth-Bereich werden Positive Interventionen bereits durch digitale Applikationen wie Dankbarkeits-Tagebücher, Ernährungs- oder Meditations-Apps unterstützt. Diese sogenannten Digital Behavior Change Technologies “übersetzen” sozusagen Positive Interventionen aus dem therapeutischen in den digitalen Bereich. Indem zum Beispiel Instruktionen nicht mehr in direktem persönlichen Kontakt, sondern über Videos oder Animationen vermittelt werden.
Meine Promotion verfolgt einen etwas anderen Ansatz. Und zwar geht es dabei gezielt um das Potential alltäglicher Technologien (zum Beispiel Email Clients, Website oder Social Media), deren Hauptziel nicht die Optimierung von Wohlbefinden ist, Positive Interventionen zu unterstützen. So werden beim Erstellen von Photobüchern positive Erinnerungen an vergangene Ereignisse ins Gedächtnis zurückgerufen und dabei noch einmal erlebt, was das positive Erleben insgesamt verlängert, und Wohlbefinden erhöht. Dies entspricht der Positiven Aktivität des ‘Savoring’, das bedeutet in etwa die „Hochregulierung positiver Emotionen“. Das ‘Memories’ Feature von Google Photos unterstützt diese Aktivität ebenfalls.
Aktuell sind digitale Erlebnisse wie die Gestaltung eines Photobuchs noch nicht mit dem expliziten Ziel gestaltet, Wohlbefinden durch die Unterstützung von ‘Savoring’ zu erhöhen. In meiner Promotion versuche ich daher, entsprechende Gestaltungsprinzipien und Messmethoden basierend auf der Literatur in der Positiven Psychologie abzuleiten.
In aktuellen Diskussionen zum „Digital Wellbeing“ geht es meist um die negativen Effekte bei der Nutzung von Digitalen Technologien. Sollten für Unternehmen – gerade mit Blick auf UX – nicht die positiven Effekte im Vordergrund stehen, wie sehen Sie das?
Lisa Wiese:
Der Begriff und das Forschungsinteresse rund um “Digital Wellbeing” sind tatsächlich als Reaktion auf ein zunehmendes Bewusstsein von Forschern, Unternehmen und Nutzenden für die negativen Folgen der Nutzung digitaler Services und Applikationen entstanden.
Eine gute Übersicht dieser negativen Folgen, die viele Bereiche unseres Lebens und unserer Gesellschaft betreffen, findet sich auf der Webseite des Center for Humane Technology und in der Netflix-Dokumentation The Social Dilemma. Dazu zählen zum Beispiel das Verbreiten von Fehlinformationen, die Beeinflussung von Wahlen, Cyber-Bullying, eine Zunahme an psychischen Problemen und sogar Veränderungen auf neurologischer Ebene, wie die Reduktion unserer Aufmerksamkeitsspanne und Gedächtnisstörungen.
Häufig entstehen diese negative Effekte durch die Art und Weise wie die IT-Industrie, die sogenannte “Attention Economy”, funktioniert, in die ja auch die UX-Research eingebettet ist. Digitale Services werden so gestaltet, dass die Nutzer möglichst viel Zeit auf der Plattform verbringen, viel mit ihren Features und Content-Elementen interagieren (klicken, liken, sharen etcetera) und am Ende auch “konvertieren”. Aus Business-Perspektive geht es also um eine Maximierung der Aufmerksamkeit (“Attention”) oder der Zeit, die Nutzende auf der Plattform verbringen (“Time Spent”).
Usability- und UX-Optimierungen sollen diese Business-Metriken häufig positiv beeinflussen. Typische Beispiele sind Interface-Elemente wie Autoplay, Pull-to-Refresh, das auf dem psychologischen Prinzip der intermittierenden Verstärkung beruht und Infinite Scroll. Diese Elemente werden auch als Deceptive Design Patterns bezeichnet, da sie Nutzende dazu verleiten, Dinge zu tun, zum Beispiel Geld, Aufmerksamkeit oder Daten abzugeben, die nicht im Einklang mit ihren Wünschen oder Bedürfnissen stehen.
Nicht immer sind derartige negative Effekte beabsichtigt oder einfach vorherzusehen. Ein Beispiel ist das Interaction Pattern ‘Infinite Scroll’. Ursprünglich wurde es als Lösung eines Usability-Problems erfunden, nämlich um lange Listen von Suchergebnissen oder angebotenen Artikeln einfacher browsen zu können. Indirekt erhoffte man sich natürlich auch eine Optimierung von Business-Metriken im Sinne von “Time Spent”. Heute weiß man allerdings, dass dieses Pattern “zu gut” funktioniert und zu negativen Nutzungsmustern wie Binge-Watching oder Technologieabhängigkeit führen kann.
Als Gegenentwurf zu dieser Maximierung von “Time Spent”, hat Tristan Harris, der Co-Founder des Center for Humane Technology und Hauptprotagonist in der Dokumentation ‘The Social Dilemma’ den Begriff “Time Well Spent” geprägt, der in der Folge innerhalb großer IT-Unternehmen in Silicon Valley und im öffentlichen Diskurs stark diskutiert wurde. Anders als bei “Time Spent” als Zielmetrik der Attention Economy, steht bei “Time Well Spent” die Qualität und nicht die Quantität der Interaktion mit einem digitalen Produkt im Vordergrund. Zudem hat das Center for Humane Technology, eine gemeinnützige Organisation, die sich der radikalen Neugestaltung der digitalen Infrastruktur verschrieben hat, ein verstärktes Bewusstsein für die negativen Effekte der Technologie-Nutzung und die nicht-nutzerzentrierte Fokussierung auf Aufmerksamkeits-Zielmetriken innerhalb der IT-Industrie geschaffen.
Durch das gestiegene öffentliche Interesse sahen sich IT-Unternehmen wie Google, Meta oder Apple gezwungen, sich mit dem Thema “Digital Wellbeing” zu beschäftigen und den Nutzenden die Möglichkeit zu geben, die Plattform-Nutzung zu kontrollieren und gegebenenfalls einzuschränken.
Dadurch sind zum Beispiel die “Digital Wellbeing” (Android) oder “Screen Time” Features (iOS) entstanden, die in den Einstellungen moderner Smartphones vorinstalliert sind. Diese Features limitieren allerdings nicht nur die negativen, sondern auch die positiven Effekte, die mit der Nutzung interaktiver Technologien verbunden sind und die durch eine wohlbefindensfokussierte Produktentwicklung noch weiter gesteigert werden können. Das entspricht auch dem Ansatz, den ich in meiner Promotion verfolge.
Aus meiner Sicht sollten im Rahmen von “Digital Wellbeing” sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf das menschliche Wohlbefinden berücksichtigt werden. Ein alleiniger Fokus auf das Negative beschränkt das Potential von Technologien, ein alleiniger Fokus auf das Positive wiederum birgt die Gefahr, dass negative Effekte übersehen werden.
Welche Apps/Websiten tragen zum Ihrem ganz persönlichen „Digital Wellbeing“ bei?
Lisa Wiese: Da gibt es eine ganze Menge. Ich liebe zum Beispiel Podcasts und nutze sowohl Spotify als auch Apple Podcasts. Allerdings würde ich mir hier, wie bei anderen Audio- oder Video-Streaming-Services auch, weniger algorithmengestützte Vorschläge und mehr interessensgetriebene Browsing-Möglichkeiten wünschen.
Ich mag auch das Memory-Feature von Google Photos, das mir längst vergessene Momente wieder zurück ins Gedächtnis ruft. Social Media Services wie Pinterest finde ich inspirierend, mich gesünder zu ernähren und neue Rezepte auszuprobieren.
Seit Anfang des Jahres sind Sie Director Human Experience bei eye square. Bis 2013 waren Sie für das Unternehmen als Senior User Experience Researcher tätig. Danach waren Sie lange im Bereich Online-Shopping tätig. Was hat Sie bewogen, zurück zu eye square zu gehen und wieder in der Marktforschung aktiv zu werden?
Lisa Wiese: An eye square habe ich neben dem tollen Team immer die psychologische Ausrichtung, die wissenschaftliche Vorgehensweise und die Innovationsorientierung geschätzt. Trotzdem wollte ich irgendwann die Entwicklung eines digitalen Produkts nicht nur agenturseitig, sondern von “Anfang bis Ende”, also von der Produktidee über die Entwicklung von Prototypen bis hin zum Release und darüber hinausbegleiten. Daher zog es mich in die unternehmensinterne UX-Research. Hierdurch habe ich einen guten Einblick erhalten, wie digitale Produkte entwickelt werden, welche Rolle verschiedene Stakeholder spielen und welche Zielmetriken in der Praxis optimiert werden.
Zeitgleich begann ich mich für “Digital Wellbeing” und die “Time Well Spent” Bewegung zu interessieren und entschloss mich, diese Themen im Rahmen einer Promotion genauer zu betrachten. Getrieben bin ich letztlich von dem Gedanken, dass das menschliche Erleben bei der Entwicklung digitaler Produkte tiefer, umfassender und mithilfe der richtigen Metriken in der Produktentwicklung berücksichtigt werden muss. Ich bin überzeugt davon, dass dies tatsächlich ein Hebel für persönliche Weiterentwicklung und positive gesellschaftliche Veränderungen sein kann. Dafür müssen aus meiner Sicht die akademische und industrielle Forschung noch enger zusammenarbeiten. Dieses Ziel verfolge ich als Director Human Experience nun auch bei eye square und hoffe, das Wissen rund um Digital Wellbeing in viele Kundenprojekte einfließen lassen zu können.
Wie sehen Sie die zukünftige Bedeutung von UX und „Digital Wellbeing“ für Branchen und Marken auf dem deutschen und internationalen Markt?
Lisa Wiese: Aktuell ist schon viel Bewegung in dem Thema und vor allem US-amerikanische Unternehmen haben “Time Well Spent” bereits in ihre Unternehmens-Zielmetriken integriert, zum Beispiel Meta und Twitter. Aber auch für den deutschen Markt sehe ich viel Potential. Letztlich trägt “Digital Wellbeing” dem breiteren Spektrum an digitalen Produkten und Services Rechnung, die aktuell auf dem Markt vertreten sind, indem es deren Effekte auf das menschliche Erleben ganzheitlicher erfasst und Möglichkeiten darstellt, dieses in der Produktentwicklung gezielt anzusprechen. Zudem bietet “Digital Wellbeing” einen konzeptionellen Rahmen für die Entwicklung neuer Technologien, die das Wohlbefinden ihrer Nutzenden optimieren und deren Bedürfnisse besser adressieren. Das verschafft auch einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil.
Der öffentliche Diskurs, der durch die Arbeit des Center of Humane Technology und die Dokumentation ‘The Social Dilemma’ vorangetrieben wird, führt zu einem höheren Bewusstsein für die Funktionsweise der Attention Economy und deren Auswirkungen bei den Nutzenden. Zudem werden vor allem große IT-Unternehmen mit dem Gesetz über Digitale Dienste (“Digital Services Act”) innerhalb der EU zu mehr Transparenz verpflichtet. Eine rein auf Wachstum ausgerichtete Strategie der Unternehmen, die das Wohlbefinden der Nutzer außer Acht lässt, lässt sich dadurch auf die Dauer nur schwer aufrechterhalten. Diese Entwicklungen werden – aus meiner Sicht – das Thema “Digital Wellbeing” in den nächsten Jahren noch weiter vorantreiben.
Über die Person
Lisa Wiese ist Expertin für qualitative und quantitative User Experience Forschung und beschäftigt sich bei eye square mit der Entwicklung von innovativen Methoden im Bereich User Experience und Digital Wellbeing. Neben ihrer Tätigkeit bei eye square forscht Lisa Wiese am Institute for Positive Design an der TU Delft in den Niederlanden. Ihre Doktorarbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie alltägliche digitale Technologien, z.B. Email- und Messaging-Services, Soziale Netzwerke oder Online Shops... mehr
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