- marktforschung.de
- Marktforschung
- Zwischen Sachdebatte und Diffamierung: Guido Westerwelle in der deutschen Blogospähre
Zwischen Sachdebatte und Diffamierung: Guido Westerwelle in der deutschen Blogospähre
Mannheim - "Spätrömische Dekadenz", "Die Deppen der Nation" und "Reisebüro Westerwelle": mit seinen eigenen Aussagen über das Urteil des Bundesgerichtshofs zu den Hartz IV-Regelsätzen und der Kritik an der Auswahl seiner Delegationen für Auslandsreisen hat Vizekanzler Westerwelle die Schlagzeilen der klassischen Medien in den letzten 40 Tagen (mit)bestimmt. Aber welche Rolle spielt Westerwelle im Web 2.0? Hat Guido Westerwelle eine Sachdebatte über Hartz IV angestoßen und wie wird sein Reiseverhalten bei den Bloggern eingeschätzt? Gibt es weitere Themen mit denen sich der Außenminister und Vizekanzler im Web 2.0 positionieren kann? Die Forscher von Q | Agentur für Forschung und linkfluence Deutschland haben vom 6. Februar 2010 bis zum 17. März 2010 Artikel und Aussagen im Web 2.0 quantitativ und qualitativ analysiert. Grundlage sind 2.830 Artikel und Postings, in denen Guido Westerwelle Thema war.
Über Westerwelle spricht das Web
Grafik 1: Debattenanteil von Spitzenpolitikern im Netz
Auf einen Blick wird klar, das Thema Westerwelle hält das Web über mehrere Wochen in Atem. Rein quantitativ betrachtet ist Westerwelle der deutliche Sieger im Vergleich zu anderen deutschen Spitzenpolitikern. Summiert man die Nennungen für alle sieben untersuchten Politiker im Web 2.0, entfallen im Analysezeitraum knapp 50%% auf Guido Westerwelle. Allein Bundeskanzlerin Merkel erreicht einen annäherungsweise vergleichbaren Share of Voice von 30,5%. Die untersuchten Oppositionspolitiker, wie Gabriel, Künast oder Lötzsch gehen im Vergleich zu Westerwelle geradezu unter. Der politische Aufsteiger des letzen Jahres, zu Guttenberg, spielt in den Diskussionen des Social Web ebenfalls eine stark untergeordnete Rolle. Die grafische Darstellung verdeutlicht den Anstieg der Beiträge über Westerwelle nach Veröffentlichung des Hartz-IV-Beitrags am 11.Februar 2010 in der Welt. Die Diskussion bleibt im beobachteten Zeitraum stabil und gewinnt mit der Kritik an der Reisedelegation noch einmal an Fahrt. (Siehe Verlaufskurve Grafik 1).
Ohne Frage hat es Guido Westerwelle geschafft, sich mit seinem Beitrag über das Hartz IV-Urteil ins Gespräch zu bringen. Aber ist Aufmerksamkeit alles?
In einem nächsten Analyseschritt wurde untersucht, wie die Meinungen im Netz über Westerwelle ausfallen – die sogenannte Tonalität – und ob Guido Westerwelle tatsächlich eine Sachdebatte anstoßen konnte.
Hauptdebatte und Nebenkriegsschauplätze
Das Topthema in der politischen Webgemeinde ist klar die Debatte um die Hartz IV-Regelsätze. Die Auswahl der Reisedelegationen des Außenministers sowie Westerwelle als Person und Amtsinhaber werden intensiv und kontrovers diskutiert. Daneben spielen Themen, wie der Atomwaffen-Konflikt mit dem Iran, die Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke und die Personaldebatte um die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen Steinbach kaum eine Rolle. Die Analyse zeigt, dass Guido Westerwelle gleichmaßermaßen bei professionellen Online-Medien und Bloggern im Mittelpunkt steht.
"Spätrömische Dekadenz" und die "Deppen der Nation"
In der konservativen Community ist man sich weitgehend einig, dass Westerwelle eine richtige und wichtige Debatte angestoßen hat. Hier werden die Aussagen des Gastbeitrags in der Welt in neutraler, sprich nicht so scharf formulierter, Form wiedergegeben und diskutiert. Kritische Töne werden wegen der Wortwahl und des Stils von Guido Westerwelle laut. Man ist sich einig: „Die Debatte muss geführt werden und es ist gut, dass sie angestoßen wurde“, aber es herrscht Konsens in der konservativen Community, dass dieses Thema sensibel angegangen werden sollte, um keine Spaltung innerhalb der Gesellschaft voranzutreiben. Die konservative Webgemeinde geht noch einen Schritt weiter und wirft die Frage auf, ob die FDP eine neue Positionierung anstrebt, um Wählerstimmen der CDU/CSU abwerben zu können.
Erwartungsgemäß geht die linke Community am schärfsten mit Guido Westerwelle ins Gericht. Kritisiert wird einerseits die Ausdrucksweise des Außenministers, die für die linken Blogger deutliche rechts-populistische Züge trägt. Selbst eine Nähe zu Jörg Haider, der während seiner politischen Laufbahn für zahlreiche Kontroversen sorgte, wird Westerwelle unterstellt. Die Anhänger der linken Community sehen sich in der Verantwortung den schwächsten Teil der Gesellschaft vor den Diffamierungen des „Demagogen Westerwelle“ zu schützen. Aber auch die inhaltliche Kritik kommt nicht zu kurz: Auf eine sachlichere Ebene gehoben wird die Diskussion um das "Hartz IV-Bashing" durch das Beispiel der Kellnerin, die laut Westerwelle trotz Arbeit weniger Geld bezieht, als Hartz IV-Empfänger. Hier werden Fakten aufgelistet, um die Aussagen des Vizekanzlers zu widerlegen. Insgesamt sieht sich die linke Community durch Westerwelles Aussagen nur bestätigt, dass die FDP bewusst eine Spaltung der Gesellschaft provoziert und die Distanz zwischen Arm und Reich verschärfen will.
Mit ähnlicher Schärfe und Argumenten wird die Debatte um die "spätrömische Dekaden" in den politisch neutralen Communities kommentiert. Für die Wortwahl, den Stil und den historischen Vergleich gibt es kein Verständnis und immer wieder Häme. Man ist sich gewiss, der Ton wird schärfer und Westerwelle betreibt Stimmungsmache auf Kosten von "Schwächeren".
Zusätzlich gerät Angela Merkel in die Kritik, da ihr abgegebenes Statement nicht als ausreichende Distanzierung von Westerwelle angesehen wird. Die Blogger der neutralen Community sehen die Bundeskanzlerin in der Pflicht eine sachliche Debatte voranzutreiben.
In den sozialdemokratischen und grünen Communitys zeigt sich ein vergleichbares Stimmungsbild. Die Kritik an Westerwelle ist zahlreich, jedoch ist die Tonalität viel gemäßigter als in der linken Community. Die Blogger halten ebenfalls eine versachlichte Hartz-IV-Debatte für notwendig. Man scheint aber auf Mäßigung aus. Gerade in der sozialdemokratischen Community wird immer wieder auf Interviews und Aussagen von Gabriel verlinkt, die gleichen, scharfen Worte und Vorwürfe gegenüber Westerwelle findet man aber nur vereinzelt.
Die liberale Community eröffnet bei der genaueren Betrachtung die größte Überraschung: Die Hartz IV-Debatte spaltet die Community und man kann deutlich erkennen, dass liberale, freiheitlich orientierte Blogger nicht automatisch mit FDP-Anhängern gleichzusetzen sind. Das Gros der liberalen, FDP-nahen Blogger unterstützt Guido Westerwelle, wie zu erwarten, in seinen Aussagen. Der andere Teil der liberalen Blogosphäre geht mit Guido Westerwelle hart ins Gericht. Diese Blogger zeigen sich irritiert über den Anstoß für diese „unsachliche“ Debatte und befürchten, besonders in Bezug auf das Zahlenbeispiel der Kellnerin, einen Glaubwürdigkeitsverlust für die FDP. Außerdem rügen diese Westerwelle offen für seine Ausdrucksweise und fassen diese als Diffamierung Arbeitsloser auf. Man wirft Westerwelle und der FDP selbst dekadentes Verhalten vor.
Bei den FDP-Anhängern sorgen sowohl die Opposition, als auch die Medien für Aufregung, die für eine falsche Widergabe der Aussagen des Außenministers verantwortlich gemacht werden und eine sachliche Hartz IV-Diskussion somit verhindern.
Wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, so sind sich die Blogger in allen politischen und politisch eher neutralen Communities einig, dass der Treiber der Hartz IV-Debatte eindeutig politisches Kalkül ist. Für die Blogger ist klar, Westerwelle setzt bewusst auf provokante Formulierungen, um von anderen innenpolitischen Themen, wie bspw. der Steuersünder-CD, ablenken zu können bzw. um vor der Landtagswahl am 9. Mai in NRW auf Stimmenjagd zu gehen. Hier wirft die konservative Webgemeinde die Frage auf, ob die FDP eine neue Positionierung anstrebt, um Wählerstimmen der CDU/CSU abwerben zu können.
Grafik 2: Anzahl der Blogs und Sites, die über Westerwelle berichten, im Verhältnis zur Größe der Community
"Air Westerwelle/Familienminister auf Reisen" und "eine linke Verschwörung"
Die Analyse zeigt, es gibt im Untersuchungszeitraum zwei Hauptdebatten und immer wieder Nebenkriegsschauplätze, die mit der Person Westerwelle zusammen hängen.
Neben der innenpolitischen Diskussion über die Hartz IV-Regelsätze, rückt Guido Westerwelle auch in Bezug auf sein Amt als Außenminister in den Fokus der Blogger. Im Vergleich zur Debatte um die "spätrömische Dekadenz" fällt die Resonanz auf die Frage, inwieweit Westerwelle bei der Mitnahme seines Lebensgefährten Michael Mronz, von Geschäftsfreunden und FDP-Spendern auf Dienstreisen zwischen privaten und politischen Interessen unterscheiden kann, im Analysezeitraum insgesamt geringer aus. Dennoch wird das Thema hochgezogen. Überraschend zurückhaltend zeigen sich hier die Blogger in den konservativen, sozialdemokratischen und grünen Communities. Gründe für diese Zurückhaltung sind Spekulation. Aber ein Grund könnte sein: Wer frei ist von Schuld, der werfe den ersten Stein.
Anders als bei der Hartz IV-Debatte zeigt die liberale Webgemeinde bei diesem Thema Einigkeit und steht dem Außenminister bei. Man stimmt darin überein, dass die Medien und im besonderem Maße die Opposition an Westerwelle einen anderen Maßstab anlegen, als an seine Amtsvorgänger.
Die FDP-nahen Blogger gehen sogar noch einen Schritt weiter und eröffnen ein neues Feld. Der Vorwurf ist heftig: Die Reiseklüngel-Debatte sei bewusst initiiert und weise auf homophobe Tendenzen hin, die in der Öffentlichkeit bedient werden sollen, um eine "Schmutzkampagne" gegen den Außenminister loszutreten.
Die politisch neutrale und linke Community reagiert genervt. Hier wird kaum diskutiert, ob die Mitnahme von Mronz oder Geschäftsfreunden als Amtsmissbrauch zu bewerten ist, sondern die Kommentare konzentrieren sich auf die Aussagen der FDP über die angeblich homophobe Opposition und Presse. Die Westerwelle-Kritiker finden sich auf einmal selbst in der Position der Diskriminierenden wieder und versuchen sich in erster Linie zu rechtfertigen. Die homosexuellen-feindlichen Vorwürfe werden zurückgewiesen und als unlauter angesehen, da mithilfe dieser Argumentation jede Kritik am Außenminister abgeblockt werden könne.
Auffällig ist also, dass sich die Diskussion vom eigentlichen Kernthema, den Motiven hinter der Auswahl der Reisedelegation, entfernt hat.
Fazit:
Bei der Betrachtung der zuvor dargestellten Ergebnisse wird deutlich, dass - angestoßen durch die Hartz IV Äußerungen - die Debatte um Guido Westerwelle im Web eine Dynamik bekommt, die immer wieder zwischen politischem Inhalt, politischem Stil und der Person Guido Westerwelle hin und herschwingt. In den letzten Jahren war das Amt des Außenministers ein Garant für gute Werte auf der Popularitätsskala. In der politisch interessierten und aktiven Blogosphäre ist davon nicht mehr viel übrig. Die Wortwahl Westerwelles wird zudem insbesondere auf sein Amt als Außenminister kritisiert. Man wünscht sich von einem Außenminister ein anderes Gespür für Diplomatie, auch wenn es um innenpolitische Themen geht.
Quelle: Q | Agentur für Forschung
Kommentare (0)
Noch keine Kommentare zu diesem Artikel. Machen Sie gerne den Anfang!
Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.
Anmelden