Jens Buri, Rich Harvest | mindline group Zukunft braucht Herkunft

Ja – Corona hat die qualitative Marktforschung genauso schlagartig wie wohl auch nachhaltig verändert. Aber es braucht mehr als neue Kommunikations-Kanäle und methodische Möglichkeiten, um ihre Zukunfts-Fähigkeit voranzutreiben. Ein paar Gedanken zum Thema: 'Wie die qualitative Forschung auch durch Rückbesinnung auf ihren Kern nach vorne kommt'.

Zurück zu den Wurzeln (Bild:picture alliance / Zoonar | Patrick Daxenbichler)

Back to the roots: Um weit nach vorne in die Zukunft blicken zu können und diese zu gestalten, kann es helfen, sich zuerst einmal auf die Wurzeln zurückzubesinnen. (Bild: picture alliance / Zoonar | Patrick Daxenbichler)

Zur Zukunft 'gezwungen'

Weder qualitative Forscher und Forscherinnen, noch ihre Kunden hätten sich vor der Pandemie vorstellen können, dass methodische Klassiker wie Interview und Gruppendiskussion fast ausschließlich per Video-Schalte stattfinden. Inzwischen will aber wohl niemand mehr diese Remote-Methoden missen, denn sie machen für die Beteiligten manches besser, vieles leichter und alles effizienter.

Digital macht agil

Nun ist es nicht so, dass die qualitative Marktforschung vor Corona im 'digitalen Dornröschenschlaf' gelegen hätte: Entsprechende Methoden von Online-Community bis Forschungs-Chats sind längst im Methoden-Portfolio der qualitativen Forschung etabliert, nur dass diese das klassische Forschungs-Repertoire erweitern, es jedoch nicht ersetzt haben.

Doch auch bei Interviews und Gruppen-Diskussionen hat inzwischen wohl jeder Forscher, jede Forscherin und jede thematische Forschungs-Disziplin ihre speziellen Tools und Vorgehensweisen gefunden, um das Meiste aus einem Remote-Vorgehen herauszuholen – was die gelernte Präferenz für Face-to-Face-Erhebungen sicher zusätzlich vermindert hat.

Der große Vorteil dieser rasanten – weil meist notgedrungenen – Lernkurve bei der Digitalisierung der klassischen Kernmethoden: Sie hilft qualitative Forschungsprozesse effizienter und agiler zu gestalten – und 'agile Marktforschung' ist nach wie vor eines der großen Kunden-Themen, das sicher auch in Zukunft wenig Relevanz einbüßen wird.

Die Realität ist manchmal durch nichts zu ersetzen

Ungeachtet dessen wird es immer Fragestellungen geben, bei denen qualitative Forschung im 'wirklichen Leben' besser – wenn nicht sogar unabdingbar – bleibt, um Zielgruppen und ihre Bedürfnisse wirklich zu verstehen. Mit dem großen Unterschied, dass man sich jetzt (und ggf. auch seinem Kunden) mehr Rechenschaft darüber geben muss, warum ein Face-to-Face-Vorgehen die Methode der Wahl sein sollte – sicherlich auch keine schlechte Entwicklung hin zu mehr Reflektion des eigenen, forscherischen Tuns.

Kleines Beispiel: Zentrales Finding bei einem Projekt zum Thema 'Regal-Platzierungen' war, wie unbequem aber wichtig das Lesen von Verpackungen tiefer platzierter Produkte ist. Auch wenn das im Nachhinein offenkundig (und fast banal) wirkt: Niemand hatte damit vorher gerechnet. Und kein Teilnehmer wäre bei einer Remote-Darbietung der Regale über dieses entscheidende Problem gestolpert.

Zusammenwachsen der Forschungs-Welten

Eine – wahrscheinlich sehr wichtige – Entwicklung kündigt sich seit ein paar Jahren leise an: Die Grenze zwischen qualitativer und quantitativer Forschung wird zunehmend durchlässiger.

Vor allem der quantitativen Marktforschung gelingt es immer mehr, quasi-qualitative Elemente zu integrieren, etwa durch Anwendungen wie 'BigSofa', mit denen ein 'schnöder' Fragebogen plötzlich auto-ethnografische Impressionen aus dem Leben von Zielgruppen liefern kann. Oder durch immer intelligentere Chat-Bots, mit denen die klassische offene Frage auf einmal mehr als Feigenblatt und Verlegenheits-Lösung ist. Entwicklungen, die sicher weiter voranschreiten werden und es der qualitativen Forschung nicht gerade erleichtern, ihren besonderen Wert im Forschungs-Prozess zu vermitteln.

Hermeneutische Exzellenz wird Selektions-Kriterium

Folge dieser Entwicklung: Die qualitative Marktforschung kann in Zukunft vor allem da ihre Qualitäten beweisen, wo ohnehin ihr ureigenster USP liegt: Im tiefen Verständnis der Zielgruppen, das zu großen Gedanken und inspirierendem 'Food-for-Thought' für die Kunden führt.

Ihr Fokus verschiebt sich dadurch (noch) stärker auf das forscherische 'Warum?', denn das reine 'Wie?' ('Wie sieht der Mensch hinter der Zahl aus)?' lässt sich auch auf anderem Wege zeigen – und dann oft effizienter, kostengünstiger und mit mehr 'fancy' Innovations-Appeal.

Symbiotische Verzahnung statt methodischem Lagerdenken

Eine gute Möglichkeit für die qualitative Forschung, diesen USP effizient unter Beweis zu stellen, sind integrierte, qualitativ-quantitative Forschungsdesigns, die nicht nur auf dem Papier 'integriert' sind.

Bei mindline haben wir z. B. sehr gute Erfahrungen mit qualitativen Vertiefungen gemacht, die nachgelagert den größeren Erklärungs-Kontext für quantitative Befunde liefern und diese so weiter vertiefen – also dem genauen Gegenteil eines 'Lehrbuch-Vorgehens' mit qualitativer Vorstudie und quantitativer Hauptstudie.

Das erfordert allerdings ein frühzeitiges Projekt-Involvement beider Disziplinen, eine gemeinsame Verantwortlichkeit für das Gesamt-Ergebnis, ein gutes Verständnis der jeweils anderen Forschungs-Welt, sowie qualitative und quantitative Tools, die sich möglichst symbiotisch ergänzen – also  eine engere Zusammenarbeit von Qual und Quant, als sie oftmals üblich ist.

Trainierte Intuition als Agilitäts-Booster

Das wichtigste Werkzeug der qualitativen Forschung sind die Forschenden selber, mit ihrer Wahrnehmungsfähigkeit, Empathie für die Zielgruppe und Talent zum Einordnen des Erlebten. Vieles davon passiert – gerade bei erfahrenen Forschenden – eher unter dem Radar des eigenen Bewusstseins, verdient es aber systematisch in den Forschungsprozess einbezogen zu werden.

So haben wir es uns z. B. – gerade bei komplexeren Projekten – zur Regel gemacht, dass sich zwei erfahrene Forschende die empirische Arbeit teilen, um ihr dabei gesammeltes intuitives 'Hinterkopf-Wissen' als Leitschnur für die vertiefende Analyse zu nutzen – ein bisschen wie bei Alice im Wunderland: Urteil zuerst, Prozess später.

Praktisch heißt das, dass beide zuerst gemeinsam die jeweiligen Forschungsfragen im Lichte des Erlebten intuitiv und 'aus dem Bauch heraus' beantworten, ohne sich dabei zu sehr in Transkripten zu verlieren. Sind beide einer Meinung, liegt der Fokus der weiteren Analyse auf der inhaltlich präzisen Ausgestaltung des jeweiligen Themas. Sind sie es nicht, gilt es in der Analyse vorrangig zu klären, warum sich die intuitive Wahrnehmung so unterscheidet.

Auch wenn dieses Vorgehen etwas unklassisch ist und sicher erfahreneren Forschenden vorbehalten bleiben sollte: Die Praxis zeigt, dass so einerseits nichts Wichtiges 'auf der Strecke' bleibt, andererseits die Analyse – und damit auch die späteren Ergebnisse – mehr Fokus und Relevanz bekommen. Obendrein lässt sich so deutlich schneller und agiler arbeiten, als beim klassisch induktiven Vorgehen – also der immer weiteren Verdichtung von Transkripten bis man so irgendwann zu Erkenntnissen gelangt.

Qualitative Forschung – werde, die Du bist

Kurzum: Die Kombination von effizienten Prozessen (unter Einbezug aller digitalen Möglichkeiten), einem engeren Zusammenspiel mit der quantitativen Forschung und insbesondere einer (Rück-) Besinnung auf die Kraft der Intuition als wichtigem Erkenntnis-Instrument, kann die qualitative Marktforschung fit für alle Herausforderungen der Zukunft machen. Und in Prozess und Ergebnis genau das liefern, was Kunden von ihr erwarten: Eine agile Beantwortung ihrer Forschungsfragen mit Insights, die ihren Entscheidungen die richtigen Impulse gibt.

Über Jens Buri

Jens Buri von mindline
Jens Buri ist Research Director bei mindline|Rich Harvest und seit 2016 Head of Brand Planning der mindline-Gruppe. Er arbeitet seit über 20 Jahren als qualitativer Forscher und Markenstratege und ist Experte für projektive und implizite Research-Methoden in qualitativen wie quantitativen Projekten.

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