Zeit für die Euphoriebremse: Zur Theorie, Empirie, Ethik und Politik der Behavioral Economics

Von Hanno Beck, Hochschule Pforzheim
Selten erregt eine Stellenausschreibung so viel Aufsehen, dass sie es bis in die Bild-Zeitung schafft. „Merkel will Psycho-Trainer anheuern“ titelt das Boulevard-Blatt und fragt, ob die Kanzlerin demnächst „im Guru-Stil“ regieren wolle. Keine Frage: Die Forschungsergebnisse der Behavioral Economics haben es in den Alltag geschafft, in die Mitte der Gesellschaft – mit weitreichenden Folgen.
Die Euphorie der Forscher und Politiker ist groß: Das Forschungsprogramm der Behavioral Economics – einer Anwendung psychologischer Forschungen auf wirtschaftswissenschaftliche Problemstellungen – hat längst den Weg aus Laboratorien, Hörsälen und Fachjournals in die breite Öffentlichkeit gefunden, und es verspricht einen neuen Zugang zu ökonomischer Theorie und neue Wege für die Politik. Doch bisweilen führt Euphorie zu vorschnellem Denken und voreiligem Handeln – die neue Welt, die uns die Erkenntnisse der Psychologen versprechen, ist nicht ganz das, was sie scheint. Vier große Probleme liegen auf dem Weg zur neuen Welt der Wirtschaftswissenschaften: Theorie, Empirie, Ethik und Politik.
Theorie: Ein Haar in der Suppe
Problem Nummer eins ist die theoretische Basis dieses Forschungszweiges: Das rationale Menschenbild der Ökonomen, Grundpfeiler der ökonomischen Theorie und Lehre, scheint zum Abschuss freigegeben, er Mensch, er mutiert in diesem Forschungsprogramm zum kognitiven Versager. In zahlreichen Experimenten zeigen Forscher sogenannte biasses, also Verzerrungen im Verhalten, Verhaltensanomalien, die auf den ersten Blick irrational erscheinen. Da orientieren Menschen ihre Schätzungen an zufällig gewählten Zahlen (Anchoring), können sich nicht von ihrem Besitz trennen (Eigentumseffekt) oder lassen sich von der Formulierung eines Problems an der Nase herumführen (Framing). Ein Beispiel dazu liefert letztgenanntes Framing: Wenn der Arzt sagt, das Risiko bei einer Operation betrage fünf Prozent, dann entscheidet man anders, als wenn der Arzt sagt, dass zu 95 Prozent bei dieser Operation alles glatt gehe. Ein Irrtum? Ein Fehler? Irrational?
Möglicherweise nicht. Geschickte Experimente zeigen, dass Menschen sogar noch cleverer sind als gedacht: Wenn der Arzt sagt, dass das Risiko der Operation fünf Prozent betrage, ist das eine andere Information, als wenn er sagt, dass zu 95 Prozent nicht passiert – die Art, wie er das Problem formuliert, beinhaltet eine Zusatzinformation, nämlich seine persönliche Einschätzung. Wählt er die fünf-Prozent-Variante, so betont er das Risiko, weil er in diesem speziellen Fall offenbar weitere Risiken sieht. Also handeln wir dementsprechend.
Das ist eine der theoretischen Angriffsflächen, welche die Behavioral Economics bieten: Viele scheinbare Verhaltensanomalien erweisen sich bei näherem Hinsehen als clevere mentale Abkürzungen, also effiziente Strategien. Menschen entscheiden oft anhand einfacher Daumenregeln, die hoch effizient sind, aber setzt man diese Strategien aber in einem falschen Umfeld ein, liefern sie scheinbar falsche Ergebnisse. Der Mensch ist nicht dumm, sondern er ist ein hocheffizienter Entscheider – der Eindruck irrationalen Verhaltens, so die Kritiker, entsteht durch missverständliche Experimente. Auftritt des zweiten Problems: die Empirie.
Empirie: Aufs Glatteis geführt?
Die Erkenntnisse und Ideen der Behavioral Economics basieren vielfach auf Experimenten, und hier melden Kritiker Bedenken an: Zu viele Unsicherheiten, zu viele Stellschrauben, an denen man drehen kann – oder muss -, um bestimmte Ergebnisse zu erhalten. Exemplarisch eine Untersuchung zum sogenannten Eigentumseffekt, in der die Autoren feststellen, dass sie mittels Variation im Versuchsdesign diesen Effekt „…beliebig an- und ausschalten…“ konnten. Einwandfreie empirische Beweise sehen anders aus. Andere Autoren werfen den Experimenten eine zweifelhafte Motivation vor: Studien, die optimales Entscheiden zeigen, würden in der Literatur tendenziell ignoriert, wer in prestigeträchtigen Journalen publizieren wolle, müsse spektakuläre neue Ergebnisse liefern. Und genau das passiere bisweilen auch: Man arrangiert das Experiment so, dass die Versuchspersonen in einem falschen Umfeld eine eigentlich clevere Strategie nutzen – mit dem Resultat, dass man eine Verhaltensanomalie produziert, die man dann prestigeträchtig publizieren kann. Zugespitzt sagen Kritiker, dass die Versuchspersonen bei Experimenten aufs Glatteis geführt werden, wodurch zwangsläufig Verhaltensanomalien entstehen.
Dass die Ergebnisse der Experimente umstritten sind, vermutlich gar nicht eindeutig sein können, liegt wohl auch daran, dass schon deren theoretische Basis nicht eindeutig ist. Überspitzt gesagt lassen sich mit etwas Interpretationselastizität bei der Theorieformulierung fast alle Ergebnisse prognostizieren und rechtfertigen – das Ideengebäude der Behavioral Economics hat keine schlüssige, konsistente und eindeutige Theoriebasis. Was aber nützt eine Theorie, die keine eindeutigen Ergebnisse prognostiziert? Kann man mit so einer Theorie Politik betreiben?
Sind Menschen irrational?
Die Interpretation der Behavioral Economics als einer Disziplin, die zeigt, dass Menschen irrational handeln, ist unter dem Strich nicht haltbar. Kronzeuge dafür ist der wohl bekannteste Protagonist dieser Forschungsdisziplin, Daniel Kahneman, der anlässlich der Verleihung des Nobelpreises feststellte: „Ich denke nicht, dass ich gezeigt habe, dass Menschen irrational sind“.
Was die Behavioral Economics stattdessen zeigen, ist, wie Menschen entscheiden, und dass Menschen offenbar zwei verschiedene Entscheidungssysteme haben: System eins ist ein System konstruktivistischer Rationalität, also bewusst gesteuerte Denkprozesse, bei denen man mit Hilfe von Logik und Modellen Probleme löst. System zwei ist eine ökologische Rationalität, ein nicht geplantes, in einem biologisch oder kulturell evolutionären Prozess entstandenes System aus gewachsenen Handlungsroutinen und Prinzipien, Normen, Institutionen und Moralvorstellungen, die sich über lange Zeit hinweg als überlegen bewährt und etabliert haben. Vereinfacht gesagt: Die konstruktivistische Rationalität ist überlegtes Nachdenken, die ökologische Rationalität ist ein System überlieferter, spontan und ohne Überlegen angewendeter Maximen oder Daumenregeln. Wer ein Haus kauft, rechnet und kalkuliert konstruktivistisch, wer einen Joghurt kauft, handelt spontan mittels einfacher Daumenregeln. Irrational sieht anders aus.
Es sind diese spontanen Handlungsrezepte, auf welche das Kanzleramt abzielt, wenn es Verhaltensforscher sucht, und mit deren Erkenntnissen der Behavioral Economics Politik betreiben will – und hier lauert der dritte Stolperstein, die Ethik. Die Frage: Darf der Staat seine Bürger herumschubsen?
Ethik: Darf der Staat seine Bürger manipulieren?
Einen „nudge“, einen Schubser, will der Staat seinen Bürgern geben, indem er die Ergebnisse der Behavioral Economics in die Politik einbringen will. Ein einfaches Beispiel macht diese Idee deutlich: Gestaltet man betriebliche Pensionspläne derart, dass Arbeitnehmer sich aktiv gegen eine Beteiligung entscheiden müssen (Opting-out-Klausel), so ist die Beteiligung an solchen Programmen deutlich höher, als wenn die Arbeitnehmer sich aktiv für eine Beteiligung an einem Pensionsplan entscheiden müssen (Opting-in-Klausel). Soll ein Staat also Pensionspläne dementsprechend gestalten? Darf er das?
Diese Idee, das Verhalten der Bürger mit psychologischen Kniffen in eine vom Staat gewünschte Richtung zu lenken, wird als „Liberaler Paternalismus“ verniedlicht – was nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass der Staat hier versucht, seine Bürger zu manipulieren. Womit die ethische Frage auf der Hand liegt: Darf ein Staat das? Darf ein Staat auf Basis von weder empirisch noch theoretisch sauber geklärten Ideen seine Bürger manipulieren – im Sinne eines höheren Zieles? Und wer darf diese höheren Ziele festlegen?
Politik: Mehr Irrationalität, mehr Staat?
Diese Fragen muss jeder für sich selbst beantworten, politisch allerdings liegt der Fall klar: Die Unterstellung irrationalen Verhaltens der Bürger dient Politikern und Kritikern der Marktwirtschaft als Türöffner für einen stärkeren Staat, der sich das Recht nimmt, in die Freiheiten der Bürger einzugreifen, stets mit dem Argument versehen, dass der Bürger ja irrational handele. Wie bei fast allen Wissenschaften droht auch hier die Politik die Ergebnisse der Behavioral Economics als Geisel zu nehmen und zu missbrauchen – unabhängig davon, dass diese Irrationalitätsannahme kaum zu halten ist. Wenn Menschen sich irrational verhalten, so die These, marktwirtschaftliche Institutionen aber auf der Annahme basieren, dass Menschen rational handeln, so kann man diese Institutionen ablehnen und auf eine zentralistische, staatsdominierte Lösung setzen. Vereinfacht gesagt: Die Bürger sind zu dumm für Märkte, also muss ein starker Staat her, der sie vor sich selbst beschützt. Woher die Vertreter dieser Forderung den Optimismus nehmen zu hoffen, dass die Politiker nicht selbst den Denkfehlern unterliegen, die sie ihren Bürgern vorwerfen, bleibt unklar.
Fazit: Viele Fragen, wenig Antworten
Die Verhaltensforscher im Kanzleramt haben ihre Stelle mittlerweile angetreten – in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und Dänemark machen solche Forscher bereits Politik. Sie wollen empirisch nicht eindeutig abgesicherte Erkenntnisse ohne eine geschlossene, konsistente theoretische Basis nutzen, um ihre Bürger zu erziehen; wer es negativ formuliert, ist rasch beim Begriff der Manipulation – ein gefährliches Pflaster. Auch in der Wissenschaft sollte man auf die Euphoriebremse treten – ein neues wissenschaftliches oder ökonomisches Paradigma ist nicht in Sicht, die bisher existierende Literatur gibt dieses neue Paradigma jedenfalls nicht her. Das soll nicht die Ergebnisse und Fruchtbarkeit dieser Forschung infrage stellen – sie zeigt, wie Menschen entscheiden und warum ihre Entscheidungen bisweilen hervorragend oder auch miserabel sind. Hier sind noch viele Fragen offen, und noch haben wir wenig Antworten auf diese Fragen.
Literatur:
Beck, Hanno (2014), Wie gefährlich sind die Verhaltensforscher?, Faz.net
Beck, Hanno (2014), Behavioral Economics: Eine Einführung, Springer Verlag, Heidelberg.
Christensen-Szalanski, Jay. J.; Beach, Lee R. (1984), The citation bias: Fad and fashion in the judgment and decision literature, American Psychologist, Vol. 39, Issue 1 (January 1984), pp. 75 – 78
o.V. (2002), Interview with Daniel Kahneman and Vernon L. Smith, 2 Apr 2013
Plott, Charles R.; Zeiler, Kathryn (2005), The Willingness to Pay–Willingness to Accept Gap, the “Endowment Effect,” Subject Misconceptions, and Experimental Procedures for Eliciting Valuations, American Economic Review, June 2005, Vol. 95 No. 3, pp. 530 – 545.
Smith, Vernon (2008), Rationality in Economics, Cambridge University Press, New York.
Der Autor:
Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und anschließender Promotion war Hanno Beck von 1998 bis 2006 Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Ressort Wirtschaft und Finanzmärkte. Seit 2006 ist er Professor für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik an der Hochschule Pforzheim und hat zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften sowie Bücher veröffentlicht, u.a. "Medienökonomie, Behavioral Economics - eine Einführung" (Springer Verlag), "Der Alltagsökonom" (F.A.Z. Verlag), "Zahlungsbefehl" und "Geld denkt nicht" (Hanser). Er ist Träger des deutschen Finanzbuchpreises 2013.
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