Zahlen auf Chinesisch
Von Matthias Fargel
Marktforscher und Chinesen pflegen offensichtlich ein besonders inniges Verhältnis zu Zahlen und Ziffern. Marktforscher rechnen mit Zahlen; Chinesen ordnen ihren Alltag mit Zahlen. Viele chinesische Idiome arbeiten mit Zahlen, wie z.B. die Nummer Eins (der Anführer), doppeltes Glück, dreifacher Koutou (ehrfurchtsvolle Verbeugung), die Vierbande und Fünfjahrespläne. Soweit versteht’s noch jeder. 5 steht für das Zentrum und Gleichgewicht; Zitate wie "5 Elemente" (Wasser, Metall, Holz, Feuer und Erde), "5 Himmelsrichtungen" (einschließlich der "Mitte"); "fünffacher Segen" (Langes Leben, Wohlstand, Gesundheit, Anstand und natürlicher Tod); die "sechs Künste" (im Konfuzianismus); die "sechs Klassiker", die "sieben Gemütszustände" (in der chinesischen traditionellen Medizin) erfordern schon eine gewisse Chinavertrautheit. Anspruchsvoll wird es dann bei Zitaten wie "Projekt 985" oder "Projekt 211". Dahinter stecken ambitiöse bildungspolitische Vorhaben, die den Insidern Respekt abverlangen: Im Jahre 1998 im Mai (5. Monat) beschlossen; im 21. Jahrhundert zu den Top 100 Universitäten zu gehören.
In solcher Form dienen Zahlen dem offenkundigen chinesischen Grundbedürfnis, in allem eine Ordnung zu erkennen oder eine solche zu stiften; Dinge wie auch Menschen in eine Beziehung zueinander zu setzen. Wie im Beitrag zu "Guanxi" beschrieben, werden Familienmitglieder oder Funktionsträger der Höflichkeit folgend schnörkellos ordinal durchnummeriert: zweiter Bruder, dritter Parteisekretär im vierten Distrikt, fünfte pharmazeutische Fabrik etc. Chinas Städte sind in erste zweite und dritte Liga aufgeteilt; Krankenhäuser erhalten Zuschüsse je nachdem, ob sie der ersten, zweiten oder dritten Qualitäts- und Versorgungsstufe angehören. Im alltäglichen Qualitätsmanagement geht nichts ohne ständiges Bewerten. Die Jagd nach optimaler Punktzahl begleitet Chinesen von frühen Kindesbeinen an. Ab Grundschule gilt es, den jeweils 10 oder 100 maximalen Punkten so nahe wie möglich zu kommen. Gleichzeitig sind überall Rangtabellen mit Top 10 im Umlauf: Die 10 besten Schüler, Sportler, Mitarbeiter, Betriebe, Firmen, Marken, Städte, Reiseziele – irgendeine Hierarchie lässt sich in China immer aufstellen.
Schrift und Zahlen sind in China viel enger verbunden als bei uns. Es gibt kein phonetisches Alphabet. Die Schriftzeichen sind Sinn- aber keine Klangbilder. Ein Suchkriterium in chinesischen Wörterbüchern ist die Anzahl der Striche bzw. Elemente, aus denen ein Schriftzeichen zusammengesetzt ist. Die Zahl eins " 一" besteht aus einem Strich; Markt im Sinne von Marktforschung 市场, shì chǎng, findet man unter der Rubrik 4- und 7-teiligen Zeichen. Was nichts mit dem internationalen Unicode zu tun hat, mit dem sich ebenfalls die chinesischen Schriftzeichen darstellen lassen.
Zahlen, bezw. deren Aussprache übernehmen bisweilen die Funktion eines Ersatzalphabetes, manchmal unvermeidbar, bisweilen aber auch mit Hintersinn. Diese rührt von der Ähnlichkeit in der Aussprache mit anderen Begriffen her; vor allem im Kantonesischen; aber auch im Putonghua, dem Hochchinesisch. So klingt die kantonesische Aussprache der 2 "yi" auch wie "leicht, mühelos"; die 6 "lok" wie "Wohlstand" und 8 "bad" "viel, mehrfach": 268 könnte, je nach Kontext auch "leicht den Wohlstand mehren" bedeuten. Die Aussprache der 9 "gau" ähnelt "lange, ewig". Sie gilt in der Verdopplung 99 oder Verdreifachung 999 als wohlmeinendes Ohmen für Paarbeziehungen. Umgekehrt wird die 4 möglichst gemieden, denn ihre Aussprache in Mandarin "si" teilt sie mit der Silbe, die "Sterben" heißt; Grund genug, um diese, vor allem in der Verdopplung, als Telefonnummer, Autokennzeichen, Stockwerk oder Flugzeugsitzreihe auszulassen.
250 klingt umgangssprachlich auf Mandarin ähnlich wie Blödmann, während im Hong Kong - Slang die Zahlen 167,169 und 1679 auch als zotige Anspielung missverstanden werden können. Auf den Kontext kommt es an.
Offiziell glauben die Offiziellen aus Politik und Wirtschaft nicht an symbolischen Zahlenhokuspokus. Doch das Gesagte ist das Eine, das beobachtbare Verhalten ist das Andere. Denn nur die Mächtigen und Reichen in China, Hongkong, Singapur oder an der Westküste Nordamerikas können es sich leisten, für Zigtausende Euros den Aufpreis für Autokennzeichen mit "1" oder "888" hinzublättern – es scheint ihnen allemal das wert zu sein. Dieselben Entscheidungsträger setzen symbolisch aufgeladene Zahlen in Marketing, Pricing und Öffentlichkeitsarbeit sehr gezielt ein. "Glücksbringende" Firmensitznummern (z.B. 268) und günstig lautende Gründungsdaten (z.B. 9.9. 2009) sind heiß begehrt. "168" liest sich umgangssprachlich auf Putonghua wie yao-liu-ba, das ähnlich klingt wie yao-liu-fa : "direkter Weg zu Wohlstand".
Achten Sie mal beim nächsten Besuch in China darauf, wie oft sie solche Preisschilder – auch mit in paar Nullen hinten dran - sehen. Sie erinnern sich an die olympischen Sommerspiele in Beijing? Die Eröffnungszeremonie fand am 8.8. 2008 um 8 Uhr abends statt. (Anschließend regnete es Medaillen für Chinas Athleten). In Taipei baute man für Milliarden den zur Jahrtausendwende höchsten Wolkenkratzer der Welt, das "101", einen multiplen Symbolträger: 1-0-1 als Anspielung auf das digitale Zeitalter und Modernität Taiwans; 1 als Symbol des Führungsanspruchs (der auf die Mieter abzustrahlen hat); Beginn des neuen Zeitalters; Hinweis auf die 101 Stockwerke – die auf 5 (s.o.) unterirdischen Fundamenten ruhen. Mit entsprechendem Feinsinn ließe sich da noch mehr herauslesen.
Marktforscher und Chinesen teilen sich ebenfalls die Vorliebe zur Stochastik; Marktforscher glauben an die hochrechenbare Aussagekraft von streng methodisch gezogenen Zufallstichproben; Chinesen glauben an ihre Chance im Glückspiel, sei es im Mah-Jong, bei Börsenspekulation, Hunde- oder Pferderennen. Mit dem feinen Unterschied, dass Chinesen dem Zufall gerne zu ihren Gunsten auf die Sprünge helfen, mit – jawohl: mit Guanxi: Dem heißen, strengst vertraulichen Insider- Tip von einem Gewährsmann.
Weiteren Auftrieb zu Gunsten der Zahlen brachten die Mobiltelefone, diese erfreuen sich in China allergrößter Popularität. Wie andernorts auch, versuchen deren Nutzer, möglichst viel Botschaft mit wenig Tastendrücken zu vermitteln. In Ermangelung des phonetischen Alphabetes mit Buchstaben übernehmen Zahlen mit Klangähnlichkeit zu bestimmten Worten die Rolle von Akronymen für die schnelle, informelle oder verspielte Kommunikation. Hier ein paar Beispiele: 028 : Komm’ her; 548: geht’s Dir gut?; 5776: ich geh’ jetzt raus; 9958: hilf’ mir; 886: Bye-Bye; u.s.w.
Besonders prägnante Akronyme finden sich auch in informellen e-Mails und in Chats und Blogs – wo sie wieder zum Rohmaterial der chinesischen Social Media Analysten werden.
Fazit:
Zahlen sind in China über den blanken Nominalwert hinaus griffige Kurzformeln, soziale und wirtschaftliche Orientierungspunkte, Leistungsansporn und Qualitätsmerkmal. Zusätzlich bergen sie situationsspezifisch bisweilen doppelsinnige, deutungsschwere Symbolik in sich.
Qualitative Marktforscher, die auf Zahlenzitate stoßen, die mehr als numerische Größenangaben vermuten lassen, sollten sich die Bedeutung phonetisch ähnlich lautender Worte, aber auch die mögliche symbolische Fracht solcher Zahlen genauer ansehen bzw. die lokalen Analysten dazu gezielt anhalten. Bei Skalierungsfragen tut man gut daran, sich den chinesischen Lesegewohnheiten und Vorlieben bzw. Abneigungen gegenüber bestimmten Ziffern und Kombinationen bewusst zu sein. Chinesen neigen zum Ausgleich, zur Mitte ("Land der Mitte"), zur 5; sie vermeiden eher Angaben auf den Skalenextremen - es sei denn, sie hätten guten Grund dafür: z.B. 面子miàn zi: Wahrung des Gesichts. Dazu mehr ein anderes Mal.
Epilog:
Dem nach Shanghai reisenden Marktforscher möchte ich noch die Zahl 962288 besonders ans Herz legen. Nicht wegen deren subtilen Symbolgehaltes. Diese Zahl verbindet Sie im Notfall mit einer telefonischen Hotline, die 24/7 mehrsprachige Hilfe, wie z.B. zur Verständigung mit Ärzten, Taxifahrer oder mit Verkäufern auf dem Markt bietet.
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