Bernd Wachter & Roland Abold, ADM "Wohin die Reise im Einzelnen gehen wird, ist kaum abzusehen."

Wie hat sich die Marktforschungsbranche bereits verändert? Und wie wird die Arbeit in dieser Branche in Zukunft aussehen? Wir sprachen darüber mit Bernd Wachter und Roland Abold vom ADM.

markforschung.de: Inwieweit wird sich die Marktforschungsbranche ihrer Meinung nach zukünftig verändern müssen?

Bernd Wachter: Die "Zukunft der Marktforschung" gehört zu den Hauptthemen im ADM. Unter der Leitung von Roland Abold widmet sich ein ADM Arbeitskreis dieser Frage. Bereits im letzten Jahresbericht setzte sich sein Artikel "Wer sind wir – und wenn ja, wie viele?" ausführlich mit dieser Frage auseinander. Denn das Thema ist nicht neu für unsere Branche.

Roland Abold: Die Markt-, Meinungs- und Sozialforschungsbranche befindet sich seit jeher in einem permanenten Wandlungs- und Weiterentwicklungsprozess. Aktuell haben die Trends hin zu neuen Erhebungsformen und passiver Messung, zu immer schnelleren Ergebnislieferungen und zur Integration verschiedener Datenquellen starke Auswirkungen auf die Arbeitsweise in der Branche und fordern die Innovationskraft der Unternehmen heraus. Parallel dazu lässt sich auch ein Markteintritt neuer Unternehmen beobachten, die mit neuen technologischen Angeboten oder Herangehensweisen aufwarten und bestimmte Forschungsbereiche mit maßgeschneiderten Angeboten besetzen. Dazu kommen neue gesetzliche Bestimmungen, die auch für unsere Branche von hoher Relevanz sind.

Bernd Wachter: Die "großen" Institute, allen voran der Branchenführer GfK, strukturieren um, widmen sich verstärkt "Big Data" und automatisierten Erhebungs- und Auswertungsverfahren und überlassen das Ad-hoc-Geschäft zunehmend den kleineren und mittelgroßen Anbietern von Markt- und Sozialforschung. So gewinnen Big-Data-Analysen zwar zunehmend an Bedeutung, werden aber auch zukünftig nicht ohne die qualitativen Forschungsmethoden und die Befragung der Bevölkerung und anderer Stakeholder auskommen. Denn diese liefern am Ende des Tages die Insights. Durch die Verknüpfung von Methoden und Analysen werden wir die Menschen verstehen und ihr Tun bewerten und einschätzen können.

Roland Abold: Die Branche bleibt sicherlich weiterhin im Wandel; die Veränderungen werden immer schneller voranschreiten. Wohin die Reise im Einzelnen gehen wird, ist kaum abzusehen. Sicher ist allerdings, dass Qualität, Moral und Ethik in der Branche dabei nicht auf der Strecke bleiben dürfen. Ganz im Gegenteil, diese Werte sind relevanter denn je. Dafür wird auch der ADM kämpfen.

marktforschung.de: Welche Bereiche und Disziplinen gehören für Sie zur Marktforschung? Wo ziehen Sie Grenzen?

Bernd Wachter: Marktforschung ist die systematische Sammlung, Aufarbeitung, Analyse und Interpretation von Daten über Märkte und Gesellschaft zum Zweck der Informationsgewinnung. Diese gilt als Grundlage für Endscheidungen und Strategien in Unternehmen und Politik. Sie basiert auf überprüfbaren wissenschaftlichen Methoden. Die Daten müssen objektiv, valide, reliabel und - je nach Fragestellung - repräsentativ sein. Dazu gehört außerdem, dass die Anonymität der Teilnehmer*innen immer gewahrt sein muss. Das ist natürlich bloß die Kurzfassung. Solange die Grundsätze und Anforderungen der Branche erfüllt sind, sind die zu erforschenden Themen erst einmal irrelevant, und auch die Quellen der Daten, die es zu erforschen gilt. Marktforschung ist also mehr als Umfrageforschung und war schon immer mehr als Primärdatenerhebung, auch wenn heute natürlich die Anzahl an Daten größer ist als in der Vergangenheit und das Thema somit an Relevanz gewinnt. Es gibt aber auch eindeutige Grenzen. Direktmarketing, Werbung sowie nicht-anonyme Kundezufriedenheitsforschung gehören nicht zur Marktforschung.

marktforschung.de: Wie ist es konkret mit den Bereichen UX- und CX-Forschung? Gehört das für Sie zur Marktforschungsbranche?

Bernd Wachter: Solange die erwähnten Grundsätze und Richtlinien eingehalten werden, gehört auch die UX- und CX-Forschung zur Marktforschung. Gegenfrage: Weshalb sollte das nicht der Fall sein?

marktforschung.de: Wie ist es konkret mit dem Bereich Data Science? Gehört das für Sie zur Marktforschungsbranche?

Roland Abold: Natürlich gehört der Bereich der Data Science dazu. Das haben wir niemals infrage gestellt. Die Branche ist auch hier aufgrund ihrer statistischen Kompetenz und empirisch-wissenschaftlichen Fundierung besonders gut aufgestellt. Denn die richtige Aufbereitung und Auswertung der Daten kann nicht als technische Aufgabe verstanden werden. Für relevante Erkenntnisse sind die marktforscherischen Tugenden wie analytische Kompetenz, Augenmerk auf die Details sowie ein ausgeprägtes Markt- und Kundenverständnis unerlässlich.

marktforschung.de: Wenn Sie in die Zukunft schauen: Sollte die Marktforschungsbranche benachbarte Disziplinen "umarmen" oder besser auf Abstand halten?

Bernd Wachter: Soweit Berater, Technologie-Unternehmen, Datenanalysten usw. Markt- und Sozialforschung gemäß den genannten Definitionen und Abgrenzungen betreiben, sind sie herzlich willkommen. Ist das nicht der Fall, ist eine "Umarmung" zum aktuellen Zeitpunkt ausgeschlossen.

marktforschung.de: Welche Rolle kommt bei dieser Frage den Marktforschungsverbänden zu? Welche Rolle sehen Sie speziell für den ADM?

Bernd Wachter: Die "Zukunft der Marktforschung" gehört zu den fünf Hauptthemen des ADM. Wir haben das auf der Agenda weit nach vorne geschoben. Es wurde ein Arbeitskreis einberufen. Das Thema findet sich auf der Tagesordnung jeder Mitgliederversammlung. Als Verband der gesamten Branche ist es unser Auftrag, den Wandel mitzugestalten und auch in Bezug auf unsere Mitgliederbasis einen möglichst umfassenden und breiten Querschnitt der am Markt tätigen Unternehmen anzustreben. Den Wandel mitzugestalten, bedeutet nicht zuletzt auch, dafür Sorge zu tragen, dass Markt- und Sozialforschung auf höchstem wissenschaftlichem Niveau betrieben werden.

marktforschung.de: Wie wichtig ist die klare Abgrenzung der Marktforschung ggn. benachbarten Disziplinen? Führt eine zu starre Abgrenzung der Marktforschung nicht zwangsläufig in die Isolation?

Roland Abold: Dieser Ansatz ist zu kurz gedacht. Wie Sie wissen, ist ein Grundprinzip der Markt- und Sozialforschung die Trennung von anderen Tätigkeiten. Markt- und Sozialforschungsprojekte dürfen also nicht mit anderen Tätigkeiten verbunden werden. Die Notwendigkeit dieser Trennung wird insbesondere bei allen Tätigkeiten des Direktmarketings und der Verkaufsförderung klar. Im Gegenzug für diese Beschränkungen erhält die Markt- und Sozialforschung Privilegien für ihre Tätigkeit, die sie sonst nicht hätte. Neben der Zusicherung der Anonymität sowie der Wissenschaftlichkeit ist der Grundsatz der Trennung von eklatanter Bedeutung für die Branche. Wenn sich Teilnehmer*Innen nicht mehr sicher sein können, dass die Daten aus Befragungen und anderen Quellen ausschließlich für Markt- und Sozialforschung analysiert werden, sondern ihnen aufgrund ihrer Angaben Werbung zugesendet wird oder sie für andere Promotionzwecke kontaktiert werden, wäre das der sichere Tod für die Marktforschung.

marktforschung.de: Der Schweizer Verband der Markt- und Sozialforschung heißt mittlerweile "Swiss Insights" und möchte damit explizit die Brücke zwischen klassischer Umfrageforschung und Data Science schlagen. Wie bewerten Sie diesen Schritt Ihrer eidgenössischen Kollegen?

Roland Abold: Big Data, Data Science und Data Analytics gehören schon seit vielen Jahren zum Handwerkszeug der Markt- und Sozialforschung. Deshalb ist der Schritt der Schweizer Kollegen nur verständlich. Auch der ADM diskutiert in einem eigenen Arbeitskreis über diese Themen. Zu den Auftraggebern der Institute gehören zunehmend auch datengetriebene Unternehmen. Deshalb ist es notwendig, alle Tools zur Wertschöpfung zu nutzen. Data Analytics ist eines davon.

marktforschung.de: Würden Sie einen solchen strategischen Schritt auch für den ADM begrüßen?

Bernd Wachter: Für uns gehören die Disziplinen zusammen, d. h. inhaltlich decken wir diesen Bereich bereits ab. Ausreichend sichtbar ist die Zusammengehörigkeit allerdings nicht. Daher werden wir sie in naher Zukunft über einen Slogan klar erkennbar machen.

marktforschung.de: Im Jahresbericht 2018 des ADM findet sich folgender Abschnitt: "Als Verband der gesamten Branche ist es zum einen unser Auftrag, diesen Wandel zu gestalten und auch in Bezug auf unsere Mitgliederbasis einen möglichst umfassenden und breiten Querschnitt der am Markt tätigen Unternehmen anzustreben. Zum anderen besteht aber auch eine klare Verpflichtung, die wesentlichen Grundsätze und Regeln des ADM in Bezug auf Anonymität und Wissenschaftlichkeit sowie hinsichtlich der Vermischung von Markt- und Meinungsforschung mit anderen Geschäftszwecken zu wahren. Für die erfolgreiche Arbeit und Weiterentwicklung des Verbandes in der Zukunft ist die Beantwortung dieser Frage eine ganz wesentliche Grundvoraussetzung. Gemeinsam mit den Mitgliedern sowie weiteren Partnern werden wir uns hier in den kommenden Wochen auf eine spannende Reise begeben und diese Themen diskutieren.": Was haben die Verbandsdiskussionen ergeben?

Bernd Wachter: Es wurde eine ganze Menge auf den Weg gebracht. Im Vorfeld der Mitgliederversammlungen fanden und finden entsprechende Gesprächsrunden und Impulsvorträge, gerade auch mit Experten und Außenstehenden statt. Wir haben unseren Außenauftritt überarbeitet und die Satzung geändert, um den ADM für Startups und kleinere Unternehmen zu öffnen. Zusätzlich wurden entsprechende Plattformen und Arbeitsgruppen innerhalb des ADM gebildet. Aber die Reise und die Diskussion darüber ist nicht abgeschlossen – und wird es vielleicht nie sein.

marktforschung.de: Seit April 2020 gibt es die assoziierte Mitgliedschaft für Startups und kleinere Unternehmen. Hat diese Öffnung schon neue Mitglieder gebracht?

Roland Abold: Die Möglichkeit der assoziierten Mitgliedschaft für Startups und kleinere Unternehmen wurde ja bereits im November 2019 durch die Mitgliederversammlung beschlossen. Die Prüfung durch Registergericht und Vereinsregister hat bis April 2020 gedauert, sodass die Möglichkeit der assoziierten Mitgliedschaft erst seit April 2020 besteht. Damit fand die Öffnung exakt in der Zeit des Shutdown statt. Kein gutes Timing, aber leider nicht von uns beeinflussbar. Wir sind dennoch zuversichtlich, dass diese Möglichkeit der Mitgliedschaft zukünftig zunehmend genutzt werden wird. Aktuell laufen verschiedene Gespräche mit interessierten jungen Unternehmen.

marktforschung.de: Es gibt mit Norstat genau einen originären Online-Panel-Anbieter unter den ADM-Mitgliedern. Wenn der Verband schon diese Zielgruppe nicht als Mitglieder gewinnen kann: Wie soll es gelingen Unternehmen zur Mitgliedschaft zu bewegen, die zwar Marktforschung betreiben, sich aber selbst als Tech-Unternehmen bezeichnen würden?

Bernd Wachter: Auch wenn Norstat das einzige Mitglied ist, das – zumindest in Deutschland – ein reiner Panel-Anbieter ist, so sind wir einerseits doch auch mit anderen Anbietern in Kontakt und andererseits betreiben einige unserer Mitglieder Panels, entweder unter dem gleichen Dach oder auch in einer eigenständigen Gesellschaft.

Aber abgesehen davon, wie hoch die Zahl der Mitglieder unter den Panel-Anbietern ist, vertritt der ADM als Wirtschaftsverband die Interessen der privatwirtschaftlichen Markt- und Sozialforschungsinstitute in Deutschland, somit die der Fullservice-Institute genauso wie die der Studiobetreiber, Feldinstitute, Onlinepanel-Betreiber und Datenanalysten.

Roland Abold: Der ADM steht für Markt- und Sozialforschung, die höchsten Ansprüchen hinsichtlich Qualität und Wissenschaftlichkeit genügt. Auch sich selbst als Tech-Unternehmen bezeichnende Player können von diesen Ansprüchen nur profitieren. Mit zunehmender Diversifizierung des Marktes wird auch bei diesen Unternehmen der Wunsch nach Standards und Richtlinien, mit denen sich die Qualität der eigenen Arbeit belegen lässt, größer werden.

marktforschung.de: In der deutschen Marktforschungsbranche gibt es vier Verbände. Wäre es für die nächste Zukunft nicht sinnvoller die Kräfte der verschiedenen Verbände auf maximal zwei Verbände zu bündeln?

Bernd Wachter: Die Verbände der Markt- und Sozialforschung in Deutschland, ADM, ASI, BVM und DGOF, haben jeder eine eigene Positionierung, Aufgabenstellung und somit Berechtigung. Wir stimmen uns aber eng ab und arbeiten viel zusammen statt parallel. Schon insofern gibt es da wenig "zu bündeln". Mit einem Zusammenschluss verlöre man aber die spezifischen Perspektiven, die Wirtschaftsunternehmen, wie sie der ADM vertritt, im Vergleich zu einem Berufs- oder einem "Methoden-" Verband haben. Die Überschneidungen sind weniger stark, als man vielleicht vermutet und die Zusammenarbeit lässt sich sehr gut kooperativ gestalten, ohne Ressourcen zu verschwenden.

Das Interview führte Holger Geißler

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