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Jens Lönneker, rheingold salon "Wir machen die Algorithmen zu neuen Göttern, deren Wege unergründlich sind"

Jenis Lönneker (Bild: Ulrike Schäfer)
marktforschung.de: Herr Lönneker, die digitale Gesellschaft, die sie in Ihrem Vortrag beim rheingold salon Kongress skizziert haben, ist auf den ersten Blick etwas irritierend: Die Menschen wollen unbedingt berühmt werden, sie geben die Verantwortung an Maschinen ab und hängen lieber Tagträumen nach ... Kann man dem Szenario auch etwas Positives abgewinnen?
Jens Lönneker: Auf jeden Fall. Es liegt eine Riesenchance darin, dass uns die Maschinen und Algorithmen immer mehr Arbeit abnehmen und wir unseren eigentlichen Neigungen nachgehen können. Die Frage ist nur: Wie stillen wir unser Bedürfnis nach Bestätigung und Sinnfindung, wenn die Hälfte aller klassischen Jobs wegfällt und damit ein zentrales Thema der Identitätsbildung nicht mehr zur Verfügung steht? Wir sehen schon heute, dass viele Menschen ihre Bestätigung außerhalb des Berufs finden, etwa indem sie Extremsport betreiben oder ihre Schönheit perfektionieren. Im alten Griechenland haben sich die Männer, die nicht arbeiten mussten, mit Politik und Philosophie beschäftigt.
marktforschung.de: Wird der digitalisierte Mensch also ein sorgenfreieres Leben führen?
Jens Lönneker: Er versucht viel stärker, seinen Träumen und Fantasien nachzugehen und diese auch zu leben, was ja zunächst etwas Positives ist. Wenn wir dabei jedoch aus dem Blick verlieren, dass wir selber Verantwortung für uns und für das Geschehen um uns herum übernehmen müssen, und uns stattdessen auf Maschinen und Algorithmen verlassen, könnte es unangenehm werden. Dann delegieren wir wichtige Entscheidung, etwa welcher Partner der Richtige für uns ist oder in welche Abteilung ein Mensch im Krankenhaus verlegt wird, ohne zu wissen, wie das System eigentlich zu der Entscheidung kommt.Auch die Marktforschungsbranche steht vor der Herausforderung, dass einige meinen, sie könnten ihre Daten auch mit Google Analytics erheben und dabei den Faktor Mensch aus den Augen verlieren. Wir machen die Algorithmen zu neuen Göttern, deren Wege unergründlich sind und die uns vermeintlich überlegen sind. Gute quantitative Forschung ist für mich aber kein stupides Daten-Screening, sondern innovative Forschung. Da ist auch schon einiges in Bewegung, es gibt viele Einflüsse aus der Digital-Welt, die sehr technologisch getrieben sind. Dieses Know-how aufzugreifen und mit dem Bestehenden zu verbinden, wird jetzt die Aufgabe sein.
marktforschung.de: Haben Sie das Thema Digitalisierung für den Kongress gewählt, weil es Ihre Kunden stark umtreibt?
Jens Lönneker: Viele stellen sich die Frage, wie sie in den neuen Medien unterwegs sein können. Reinhard Springer, der Gründer von Springer & Jacoby, hat kürzlich gesagt, Social Media sei nichts anderes als Kommunikationskonfetti, atomisiert und ohne zu wissen, wen es erreicht. Auf diese Herausforderungen müssen wir Antworten geben, auch mit unseren qualitativen Methoden. Wir glauben, dass es an der Zeit ist, nach Big Data wieder Qualität und nicht nur Quantität in den Vordergrund zu rücken. Die Menschen wollen inspiriert werden durch Werbung, auch mal Ungewohntes, Neues angeboten bekommen. Das kann klassisches Targeting nicht leisten.
marktforschung.de: Sie sprechen von der "Diktatur des Digitalen". Werden wir wirklich davon beherrscht oder können wir den Umgang damit selbst gestalten?
Jens Lönneker: Wenn überall Filialen geschlossen werden und auf Online-Dienste verwiesen wird, wenn wir uns das autonome Fahren ansehen oder die Regeln, die Facebook, Google und Co. machen und die wir gar nicht mehr durchschauen, dann können wir – etwas provokativ natürlich – von einer Diktatur sprechen.
marktforschung.de: Warum unterwerfen wir uns freiwillig dieser Diktatur?
Jens Lönneker: Wir empfinden es als Entlastung. Nach einer Zeit, in der alles hinterfragt und in Zweifel gezogen wurde, befinden wir uns in einer kulturellen Bewegung, wo wir dankbar sind, dass wir bestimmte Entscheidungen den Maschinen und Algorithmen überlassen können. So müssen wir weniger darüber nachdenken, was wir machen. Wenn es allerdings anfängt, uns einzuschränken, müssen wir dagegen arbeiten.
marktforschung.de: Wie bewerten Sie denn die zukünftige Entwicklung?
Jens Lönneker: Es wäre schön, wenn wir die Chancen nutzen würden, die die Digitalisierung uns bietet. Es ist aber offenkundig, dass dafür größere gesellschaftliche Umwälzungen nötig sind. Es wird darauf ankommen, dass auch diejenigen, die heute die Produktionsmittel, sprich: die Online-Techniken, in den Händen halten, sie nicht nur zu ihrem Profit nutzen, sondern dass wir anfangen, das Ganze ein Stück weit zu sozialisieren. Dann kann die Digitalisierung ein echter Fortschritt sein.
Das Interview führte Ulrike Schäfer.
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