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Der virtuelle Roundtable zum Thema: "Alles ist Marktforschung" "Wir dürfen als Marktforscher nicht den Anschluss an die Herausforderungen der Zeit verlieren"
Roundtable "Alles ist Marktforschung"

Wie geht es Euch in Zeiten der Corona-Krise und was sind gerade aktuelle Herausforderungen?
Till Winkler: Da wir momentan sehr viele Projekte betreuen, ist unser Hauptproblem die fehlende Zeit. Wir haben viel zu tun, haben aufgrund der Corona-Krise aber auch einen Einstellungsstopp in der gesamten Gruppe, weshalb eine baldige Entlastung noch nicht absehbar ist. Wir können zum heutigen Zeitpunkt festhalten, dass uns die prekäre Wirtschaftslage zwar auf Seiten der Auftragslage nicht so stark eingeholt hat, seitens der Human Ressources dafür umso mehr.
Dr. Julia Urbahn: Besonders zu Beginn der Corona-Krise waren wir alle sehr besorgt. Unsere Kunden waren verunsichert und sagten einige Projekte ab, da sie das Gefühl hatten, dass die Daten, die während der Krisenzeit erhoben werden, völlig unbrauchbar seien. Mittlerweile hat sich diese anfängliche Unruhe gelegt und auch wir können sagen, dass wir mit den vielen verschiedenen Projekten, die wir zurzeit betreuen, einiges zu tun haben. Der ungewissen Krisen-Entwicklung geschuldet, verzeichnen aber auch wir einen Einstellungsstopp. Dennoch sind wir gut aufgestellt. Wir haben vor einiger Zeit die Firma Axinova übernommen. Axinova betreibt ein Mobilitätspanel, bei dem sich Menschen per App tracken lassen. Besonders zu Beginn der Krise war das spannend. Die Daten wurden von statistischen Ämtern gekauft und von den Medien massiv aufgenommen, um zu sehen, inwiefern sich das Mobilitätsverhalten im Lockdown verändert. An den Daten konnte beispielsweise gesehen werden, dass vor allem die älteren Leute schnell auf die Situation reagiert haben, während Jüngere ein paar Tage länger gebraucht haben, bis sie zu Hause geblieben sind.
Dr. Lorenz Gräf: Natürlich hat uns die Corona-Krise getroffen, dennoch ist auch der Startplatz als Co-Working-Space erstaunlich gut gefüllt. Unser Konzept ist es, viele an Innovationen arbeitenden Menschen zusammenbringen, ihre Wege kreuzen zu lassen und auf diese Art und Weise einen starken Austausch zu fördern. Vor der Corona-Krise bestand ein wesentlicher Teil unseres Geschäfts darin, Konferenzräume an externe Firmen zu verbuchen, damit sehr viele Einflüsse – auch von außen – in das Inkubationssystem der Startups einfließen. Im März ist dieser Teil des Geschäfts vom einen auf den anderen Tag komplett zum Erliegen gekommen. Alles wurde storniert. Damit ist ein wichtiges ökonomisches Standbein weggefallen. Eine Besserung ist auch in naher Zukunft noch nicht abzusehen, weswegen wir versuchen, ein Äquivalent im digitalen Raum aufzubauen. Frei nach dem Motto "Wir machen Startup anywhere" werden wir weitermachen und im digitalen Raum unsere Ausbildungsbemühungen für Startups als Accelerator deutlich verstärken. Auf diesem Wege wollen wir all diejenigen Startups einsammeln und unterstützen, deren Ideen zurzeit drohen, verloren zu gehen.
Dr. Stefan Oglesby: Die Corona-Krise scheint sich auch als eine Art Datenkrise zu entpuppen. Obwohl überall von Big Data gesprochen wird, sieht man meiner Meinung nach, dass Regierungen und Unternehmen zu wenig verlässliche Daten vorweisen können. Ich glaube, dass das auch der Grund dafür ist, warum zurzeit viele Unternehmen ihre Datenquellen und -strategien überprüfen und sich momentan wirklich einmal die Zeit nehmen, sich das Big Picture anzuschauen.
Was gehört für Sie alles zur Marktforschung?
Till Winkler: Zu Marktforschung gehören meiner Meinung nach all diejenigen Bereiche, in denen Daten gesammelt und erhoben werden, um Entscheidungen in einem strategischen oder entwicklungsbezogenen Kontext zu treffen.
Dr. Stefan Oglesby: Ich kann Till nur zustimmen und möchte das Gesagte dahingehend ergänzen, dass es meines Erachtens in der Marktforschung nicht nur entscheidend ist, neue Daten zu erheben, sondern auch all diejenigen Daten für eine Entscheidungsfindung heranzuziehen, die dafür schlichtweg am besten geeignet sind. Das müssen nicht unbedingt neu erhobene Daten sein, sondern können auch Informationen sein, die vorab bereits bestanden haben oder sowieso anfallen. Da würde ich keine Einschränkungen machen.
Dr. Lorenz Gräf: Interessant zu betrachten ist hier immer auch das Anforderungsprofil eines Marktforschers. Besonders im Bereich der Usability, in dem man sich in die Nutzer hineinversetzen muss, ist eine empathische Grundhaltung des Marktforschers unabdingbar. Ich sehe immer wieder, wie schwer es manchen Startups fällt, ihre zukünftigen Kunden zu beschreiben. Hier fehlt häufig die Fähigkeit zum abstrahierten Denken, welches ein gut ausgebildeter Marktforscher einfach mitbringt. Marktforschung hat also viel mit der grundsätzlichen Haltung und dem Aufklärungsinteresse am Untersuchungsgegenstand zu tun.
Ihre Definitionen zur Marktforschung sind sehr breit aufgestellt. Dadurch würden viele Themenbereiche zur Marktforschung gehören. Wo sehen Sie Grenzen oder kann man sagen, dass eigentlich alles Marktforschung ist?
Dr. Stefan Oglesby: Ich glaube, der entscheidende Punkt ist, dass Marktforschung dafür da ist, Entscheidungen vorzubereiten und Erkenntnisse zur Verfügung zu stellen. Dabei sollte ein Anspruch der Allgemeingültigkeit vorhanden sein. Im Klartext bedeutet das, dass die gewonnenen Erkenntnisse in der Marktforschung für ein bestimmtes Thema, einen Markt oder eine Kundengruppe generalisierbar sein müssen. All das, was nur auf einen Einzelfall abzielt, ist meines Erachtens nach nicht in der Marktforschung zu verorten. Damit wäre das auch eine Abgrenzung zum Bereich Customer Experience Forschung, bei dem es oft um den einzelnen Kunden geht und um Maßnahmen, die gezielt gemacht werden, um sein spezifisches Kundenerlebnis zu verbessern.
Dr. Julia Urbahn: Ursprünglich war das Thema Customer Experience dazu gedacht. Dass es wirklich um das Erlebnis des Einzelnen ging. Insofern sind wir da auch schon in vielen Fällen nah an der Thematik der UX dran. Mein Empfinden in den letzten Jahren ist jedoch, dass sich diese Bereiche sehr stark vermischen. In den Unternehmen werden CX-Abteilungen gegründet, die oft stark in den Marktforschungsbereich hineinreichen und sich bei Nachfrage wahrscheinlich nur als die „innovativere Forschung im Unternehmen“ differenzieren würden.
Till Winkler: CX ist zwar hoch standardisiert, hat viel mit Technik und Implikationen von verschiedenen Systemen zu tun, beruht aber letzten Endes auch auf Beobachtungsdaten und Fragen wie beispielsweise „Wie war Ihr Einkaufserlebnis?“ und „Hat Ihnen irgendetwas besonders gut gefallen?“. Für mich ist es daher schwierig eine Grenze zwischen CX und Marktforschung zu finden. Andererseits muss auch gesagt werden, dass die Weiterentwicklung innerhalb des Bereichs CX dazu führte, dass sich daraus eine eigene Disziplin entwickelt hat, in der eigene Skills und Schwerpunkte notwendig sind. Das Thema grenzt sich beispielsweise stark von anderen Bereichen wie der HR-Forschung und UX-Research ab. Dennoch sehe ich, dass all diese Schwerpunkte noch im Bereich der Marktforschung zu verorten sind.
Dr. Lorenz Gräf: Eine klare Abgrenzung der Bereiche fällt schwer und deshalb sollte Marktforschung meiner Meinung nach weit gefasst bleiben, um die Möglichkeit der verschiedenen methodischen Ansätze nicht im Vorhinein einzudampfen. Beispielsweise verfolgen viele Forscher ein Aufklärungs- und Erkenntnissinteresse mit Suchmaschinen- und anderweitigen Webdaten. Wieso sollte man diese Wege also nicht unter die Marktforschung fassen?
Wie ist es konkret mit dem Bereich Data Science? Gehört das für Sie zur Marktforschungsbranche?
Dr. Stefan Oglesby: Mittlerweile können starke Streams, die sich insbesondere den Thematiken wie "Big Data", "Machine Learning", "Data Science" und "Data Analytics" widmen, verzeichnet werden. Auch diese Bereiche versuchen, Customer Insights zu generieren und lassen sich daher aus meiner Sicht in der Marktforschung verorten. Für mich gehören die Daten, die mir helfen, eine Fragestellung praktisch, strategisch und entwicklungsbezogen zu beantworten, in die Marktforschung. Alle Daten, aus denen ich für eine bessere Entscheidungsfindung, Wert schöpfen kann, gehören hier dazu. Eine Abgrenzung von Data Science und Marktforschung würde ich also nicht bestätigen, was wiederum zu dem Schluss führt, dass in der Branche keine Abgrenzung durch die unterschiedlichen Arten der Datengewinnung festgemacht werden sollte.
Die Skopos-Gruppe verfolgt bislang die Philosophie, dass, für alles was neu dazu kommt, ein eigener Firmenzweig gegründet wird. In gewisser Weise definiert die Skopos Gruppe auf diese Weise Grenzen in der Marktforschung. Wie kam es zu der Entscheidung, einzelne Bereiche wie z. B. UX als eigene Tochter auszugründen?
Till Winkler: Wir haben uns dafür entschieden, uns auf Usability Forschung zu konzentrieren. Die Methoden – das sind beispielsweise Einzelinterviews, Workshops und Card-Sorting – kommen dabei oft aus der qualitativen Marktforschung. Bereiche wie Kognitions- und Wahrnehmungspsychologie sind von entscheidender Bedeutung und liefern vertiefende Erkenntnisse über Kundenwahrnehmung und -interaktion. Die genannten Methoden haben wir bereits vorher angewendet, dennoch haben wir dabei ein Gefühl für Design-Systeme bekommen, weswegen wir nicht zu Methoden-, sondern zu inhaltlichen Experten wurden. Wir beschäftigen uns viel mit Interfaces und untersuchen, wie Nutzer hierauf reagieren. Hierbei spielen insbesondere emotionale Verknüpfungen von Interaktionen eine Rolle. Ein Bereich, der insbesondere in der Entwicklung vorgefunden wird. Strategische Entscheidungen werden hier meistens nicht getroffen. Stattdessen stehen entwicklungsbezogene Entscheidungen im Vordergrund. Dadurch, dass wir Ahnung von der Materie haben, sind wir in einem gewissen Spektrum für die Unternehmen relevant geworden und daher haben wir uns dazu entschieden, Skopos Nova zu gründen, um unsere Expertise weiter auszurollen. Wir wollen als Experten in diesem Bereich, und nicht als allumfassendes Marktforschungsinstitut auftreten. Ähnliches hat es die Skopos Gruppe mit Skopos Elements gemacht, die für das Thema Data Science zuständig sind. Auch hier stammen die ursprünglichen Methoden aus der Marktforschung. Die kontinuierliche Weiterentwicklung führte jedoch auch hier dazu, dass ein derartiges Expertenwissen aufgebaut wurde, mit dem nicht mehr nur der Marktforscher angesprochen wird.
Wird die Marktforschungsbranche aktuell etwas blind und verpasst aktuelle Themen?
Dr. Lorenz Graef: Wenn die Chancen von Big Data oder Data Analytics nicht ergriffen werden, dann beginnt die Branche für mich ein klein wenig blind zu werden, ja. Die Daten liegen heutzutage in einer anderen Form und Häufigkeit als früher vor. Durch Machine Learning haben wir viel mehr Möglichkeiten Datenanalysen und Auswertungen vorzunehmen und genau hier liegt der spannende Punkt, wie diese neuen Techniken in die alten Strukturen integriert werden können.
Dr. Julia Urbahn: Ich könnte mir darüber hinaus vorstellen, dass gerade mit dem Thema der automatisierten Datenerhebung auch noch einmal die Datenschutzdiskussion stärker aufkommen wird. Denn im Grunde genommen bieten die neuen Methoden ganz neue Möglichkeiten, den Datenschutz zu verletzen. Thematiken wie das Anonymisierungsgebot und der Schutz der personenbezogenen Daten werden wahrscheinlich mit den neuen Methoden immer herausfordernder werden.
Dr. Stefan Oglesby: Ich sehe ein Positionierungsproblem: Die Branche pflegt Silos, die die verschiedenen Themenbereiche voneinander abgrenzen. Auf der Kundenseite ist dieses Silo-Denken noch stark ausgeprägt, weswegen diese thematische Differenzierung auf der Angebotsseite durchaus nachvollziehbar ist. Nur wenige Unternehmen weisen Teams vor, in denen Datenanalytiker und Marktforscher im gleichen Team arbeiten. Teilweise wissen die betrieblichen Marktforscher nicht einmal auf welchen Datenschätzen das Unternehmen sitzt und sind mit den enormen Datenmengen einfach überfordert. Diese thematische Trennung stellt auf Dauer aber ein Problem dar. Und wenn wir uns hier nicht neu positionieren, indem wir auch mit unterschiedlichen Datenquellen umgehen können, werden wir zukünftig nur einfache Datenlieferanten sein, die bei der Gewinnung der Insights gar nicht mehr dabei sein werden.
Denken Sie, dass die Bereiche Marktforschung und Data Analytics zukünftig zusammen kommen?
Dr. Stefan Oglesby: Es gibt einige große Unternehmen, die diese Bereiche ganz explizit in einem Team zusammengebracht haben. Das Feedback, das mir zurückgemeldet wurde, ist gemischt. Ich denke aber, dass die Unternehmen, die sich dieses Vorhaben gründlich überlegt haben und den Mut hatten aus den alten Strukturen auszubrechen, langfristig erfolgreich damit sein werden. Im Moment ist das aber eine Minderheit. In den Augen der Unternehmen sind nämlich nicht die Marktforscher, sondern eher die Data Analysten die Experten.
Bei Betrachtung der jüngeren Generation fällt mir jedoch auf, dass hier keine Unterscheidung der Bereiche mehr vorgenommen wird. Es scheint selbstverständlich zu sein, dass verschiedene Daten für die Analyse eines Marktes einbezogen werden und es liegen auch keine Berührungsängste mit großen digitalen Datensätzen vor. Um sämtliche Skills und Kompetenzen jedoch umsetzen zu können, bedarf es Teamarbeit.
Welche Rolle kommt bei der Entwicklung, die Sie aufgezeigt haben, den Verbänden der unterschiedlichen Disziplinen zu?
Till Winkler: Es fühlt sich so an, als würden innerhalb der Marktforschungsbranche Feindbilder geschaffen werden. Einzelnen Bereichen, wie zum Beispiel den UX Researchern, wird vorgeworfen, dass sie ihr Handwerk gar nicht richtig verstehen und umsetzen. Tendenziell werden von allen Seiten also eher Grenzen gezogen, als Türen geöffnet. Womöglich resultiert auch daher der Mangel an einer konstruktiven Zusammenarbeit. Meines Erachtens sollten wir uns untereinander vielmehr unterstützen, als andauernd gegeneinander anzuarbeiten. Die Branche sollte sich darüber im Klaren werden, wofür sie stehen will, um dann die verschiedenen Ströme zusammenzufassen. Wir sollten weg von den Diskussionen um Abgrenzung, Definition und Zuständigkeitsbereich und anerkennen, dass es unterschiedliche Areale gibt, in denen unterschiedliche Skills gefordert sind. Die Herausforderung wird darin bestehen, mit Neugier aufeinander zu zugehen, anstatt auf unseren Standpunkten zu beharren.
Dr. Stefan Oglesby: Ich denke, es ist an der Marktforschung, diese Mauern niederzureißen, weil wir als Marktforscher nicht den Anschluss an die Herausforderungen der Zeit verlieren dürfen. Der Schweizer Verband hat sich im letzten Jahr geöffnet für Data Analytics und Data Science und sich umgetauft: vom "Verband Schweizer Marktforschung" in "Swiss Insights". Außerdem wurde das Label "Fair Data" kreiert, mit dem sich auch andere Anbieter identifizieren können, die nicht in der klassischen Umfrageforschung zuhause sind.
Dr. Lorenz Graef: Mir gefällt die Betonung auf "Insights". Man sammelt sich eben unter der Profession, die verwertbare Erkenntnisse zusammenstellt. Da ist die Absicht klar betont. Das wäre die Findungsaufgabe für die deutschen Verbände: Wofür wollen wir stehen? Wenn das entschieden ist, kann man unterschiedliche Strömungen darunter gut zusammenfassen.
Zu den Personen:




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