Kolumne von Florian Tress Wir brauchen die Erneuerung der Marktforschung!
Die Marktforschung hat es derzeit nicht leicht. Erstens konkurriert sie mit anderen Berufen um die Deutungshoheit über Daten in Unternehmen, zweitens hat sie ein massives Reputationsproblem in der Bevölkerung – was ihr sowohl den Zugang zu Befragungsteilnehmern als auch Nachwuchstalenten erschwert – und drittens quält sie sich mit der Adaption neuer Technologien. All das mündet in einer tiefen Sinnkrise: Wofür braucht es Marktforschung überhaupt noch?
Es ist durchaus menschlich, wenn in dieser Situation der Schwarze Peter herumgereicht wird. So lamentiert die Branche wahlweise über mangelhafte Ausbildung beim Nachwuchs, sinkende Datenqualität bei den Felddienstleistern, Beratungsresistenz bei den Instituten beziehungsweise Endkunden, verkrustete Branchenverbände oder die Trägheit des Gesetzgebers. Wirklich hilfreich ist das aber nicht!
Vielleicht sollten wir uns lieber vor Augen führen, dass jede Krise auch die Chance zur Erneuerung bereithält. Auf die Marktforschung bezogen, müsste dieses Umdenken vielleicht vier große Bereiche umfassen:
Funktionalismus: Wie gut ist gut genug? Und für welchen Zweck? Fest steht, dass Gütekriterien in der Forschung keinem Selbstzweck folgen, sondern ausschließlich das Studienziel erfüllen müssen. Am Ende geht es deshalb auch nicht um Erkenntnis, sondern um die Umsetzung und Bewährung von Maßnahmen in der Praxis. Mehr Funktionalismus bedeutet hier, dass Forschung methodisch und betriebswirtschaftlich optimiert wird, um den maximalen Impact beim Aufraggeber zu erzielen. Manchmal ist weniger mehr!
Universalitätsanspruch: Die Marktforschung muss grundsätzlich den Anspruch erheben, für die Deutung ausnahmslos aller sozialen und wirtschaftlichen Phänomene zuständig zu sein. Derzeit wartet sie viel zu häufig, bis aktuelle Fragestellungen an sie herangetragen werden, die sie dann – wenn sie denn überhaupt gefragt wird – einfallslos mit ihrer einseitig geschärften Methodologie beantwortet. Da braucht man sich freilich nicht wundern, dass Marktforscher die Deutungshoheit über viele Themen verlieren. Insofern muss sich die Branche öffnen und neue Impulse aus anderen Disziplinen aufnehmen.
Holistische Forschungsethik: Aus dem Universalitätsanspruch folgt auch, dass sich die Marktforschung als Bestandteil ihres eigenen Forschungsgegenstands wahrnimmt und dieses Verhältnis reflektiert. Daran könnte sie lernen, dass ihr Bestehen von der sozialen Umwelt abhängt und sie deshalb eine gesellschaftliche Verantwortung trägt. Das betrifft natürlich insbesondere den Umgang mit (potenziellen) Studienteilnehmern, Mitarbeitern und Auftraggebern. Derzeit wird dieses holistische Paradigma nicht zuletzt dringend benötigt, um neueren Fragestellungen wie dem Datenschutz in einer digitalen Welt zu begegnen.
Wissenschaftlichkeit: Die Marktforschung arbeitet natürlich bereits wissenschaftlich und das soll auch in Zukunft so bleiben! Dennoch wäre häufig mehr Transparenz wünschenswert, schließlich lebt jede Wissenschaft vom kritischen Austausch der Forscher untereinander. Viele Studien gleichen jedoch einer Black Box, die es unmöglich macht, Ergebnisse anzuzweifeln, zu überprüfen oder gar zu replizieren. Ohne Dokumentations- und Veröffentlichungspflichten muss der fachliche Austausch aber notgedrungen oberflächlich bleiben. Die Forderung nach mehr Wissenschaftlichkeit betrifft aktuell also vor allem das (selbst-)kritische Potenzial der Marktforschung.
Es ist offensichtlich, dass sich im Zusammenspiel dieser vier Bereiche neue, komplizierte Fragestellungen ergeben. Fest steht jedoch auch, dass wir endlich aufhören müssen, zu lamentieren. Wir brauchen die Erneuerung der Marktforschung!
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