Janina Mütze, Gründerin und Geschäftsführerin Civey "Wir befinden uns mitten in einer Revolution der Marktforschung"

marktforschung.de: Frau Mütze, Sie haben bei ihrer Gründung 2015 eine Revolution der Marktforschung versprochen: Jetzt, drei Jahre später, wurde gegen FOCUS ONLINE eine Beschwerde beim Presserat eingereicht, weil die Redaktion von Ihnen erhobene Daten für die Berichterstattung nutzt. Waren Sie überrascht? Was sagt der FOCUS bzw. andere Medienpartner: Immerhin richtet sich die Beschwerde ja gegen den FOCUS und nicht gegen Civey als Unternehmen?
Janina Mütze: Wirklich überrascht waren wir über dieses Vorgehen nicht, denn wir schütteln ja einen etablierten Markt kräftig durch. Außerdem haben wir seit unserer Gründung viele erfolgreiche Medienkooperationen gestartet. Dadurch büßen einige alte Hasen der Meinungsforschung mediale Präsenz und Marktanteile ein. Das tut weh, nicht umsonst poltern Akteure wie Manfred Güllner oder Matthias Jung schon seit längerem verbal gegen uns. Und dass die Beschwerde nicht beim Rat der Marktforschung eingereicht wurde, kam auch nicht überraschend. Bei einer fachlichen Instanz bestünde eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass diese sogar kontraproduktiv für die Beschwerdeführer wäre. FOCUS ONLINE und unsere anderen Medienpartner haben sich seit Beginn unserer Partnerschaft intensiv mit unserer Methodik beschäftigt. Viele von ihnen haben uns in den letzten Wochen den Rücken gestärkt. Gemeinsam sehen wir der Sitzung am 18. Dezember mit aller Ruhe und großem Interesse entgegen.
marktforschung.de: Was glauben Sie passiert, falls der Presserat tatsächlich eine Rüge ausspricht?
Janina Mütze: Ganz ehrlich, an dieser Stelle steht es uns nicht zu, darüber zu spekulieren, wie sich der Presserat entscheidet. Aber egal, was dabei herauskommt, es wird die Diskussion um die richtigen Umfragemethoden in der Branche befeuern. Die Methodik der deutschen Meinungsforschung, das Verständnis von "repräsentativ" sowie der notwendige Technologie-Einsatz und die Zukunftsfähigkeit der Branche werden noch intensiver diskutiert werden. Darauf freuen wir uns sehr, denn diese Diskussion ist überfällig.
marktforschung.de: Die Diskussion um die vermeintlich fehlende Repräsentativität Ihrer Daten wird ja in Teilen sehr emotional geführt. Da ist zum Beispiel von "Bullshit" die Rede. Andererseits äußert sich Civey selbst sehr skeptisch "zum Zustand der klassischen Marktforschung". Was glauben Sie, sind die Fragen, auf die die Marktforschungsbranche jetzt eine Antwort braucht?
Janina Mütze: Als interdisziplinäre digitale Gründung haben wir uns anfangs nicht als Teil der Marktforschungsbranche verstanden. Wir sind angetreten, um die bisherigen Methoden und Geschäftsmodelle bewusst in Frage zu stellen, indem wir zum Beispiel gewichtete Umfrageergebnisse live veröffentlichen, um Teilnehmer wieder zum Mitmachen zu motivieren. Seit Anfang 2017 sind wir nun auch Mitglied beim DGOF Verband und seit 2018 auch in der AAPOR, wo wir auf der Jahreskonferenz in Denver unsere Methode der Stichprobenziehung vorgestellt haben. Denn wir sehen letztendlich, dass der Zustand der Branche – denken Sie beispielsweise an die Spiegelberichterstattung zur Marktforschung Anfang des Jahres – auch auf uns abfärbt. Es ist offensichtlich, dass die klassischen Methoden der Callcenter-Institute mit ihrer Telefonbefragung auf dem Prüfstand stehen. Dazu gehört auch das Zufallsprinzip in der Stichprobe. Und die neuen Möglichkeiten der Big Data Analytics werden sowohl wissenschaftlich als auch methodisch einen stärken Eingang finden. Es bedarf hier einer fachlichen und wissenschaftlichen Debatte! Der angelsächsische Raum ist schon viel weiter und viel transparenter.
marktforschung.de: Ihr Stichprobenkonzept haben Sie gemeinsam mit der Hochschule Rhein-Waal entwickelt, Prof. Oliver Serfling ist Mitgründer von Civey. Ist die Methode "fertig" oder noch in der Entwicklung, und gibt es schon Studien zur Validierung?
Janina Mütze: Unser Stichprobenkonzept basiert auf einer funktionierenden, wissenschaftlichen Methode. Wir sind allerdings ein Technologieunternehmen, unsere Methode ist daher nie "fertig", sondern wird laufend weiterentwickelt. Das ist das Grundprinzip eines lernenden Startups. So forschen wir derzeit beispielsweise an multivariaten Modellen, ganz konkret mit "multilevel regression with poststratification" (MRP). Dieser Ansatz ist mit Sicherheit das Fortschrittlichste, was Statistik in unserem Bereich zu bieten hat. Statt mit einem a priori festgelegten Modell zu arbeiten, findet der Algorithmus nun selbstständig die entscheidenden korrelierenden Gewichtungsvariablen. So können wir dem Modell eine Vielzahl von Variablen anbieten, ohne uns die Probleme einer größer werdenden Varianz ins Haus zu holen. Wir werden dabei in unterschiedlicher Form wissenschaftlich begleitet und innerhalb der nächsten Monate eine wissenschaftliche Validierung zu dieser Methodik vorstellen.
marktforschung.de: In einem aktuellen Beitrag auf marktforschung.de erwähnen Sie, dass vergleichbare Methoden international längst anerkannt und von Leitmedien genutzten seien. An welche Institute und Medien denken Sie dabei?
Janina Mütze: Die Befragungsmethode von Civey ist natürlich innovativ und damit auch einzigartig. Allerdings kombinieren wir unterschiedliche Methoden, die derzeit schon international im Einsatz sind. So hat beispielsweise die American Association for Public Opinion Research schon länger ihren Standpunkt zu Zufallsstichproben geändert: Sie gibt klar vor, unter welchen Bedingungen eine non-probability Stichprobe trotzdem repräsentativ ist. Und auch Real-Time-Analysen sind inzwischen bei US-Medien Standard, so beispielsweise bei den Polls der New-York-Times.
marktforschung.de: Sie haben in den Kommentaren unter unseren Artikel zum Thema angekündigt, Kritiker einzuladen und mit ihnen zu sprechen. Hatten Sie schon Besuch?
Janina Mütze: Ja, wir haben diese Einladungen ausgesprochen und auch schon die ersten Interessierten und Kritiker getroffen. Darunter sowohl klassische Marktforschungsinstitute, die sich für unsere Methode interessieren, als auch Wissenschaftler. Forsa hat nicht auf unsere Einladung reagiert. Das wundert uns, denn Thorsten Thierhoffs Replik auf Holger Geißler von DCORE bei marktforschung.de zeigt deutlich, dass fachlicher Austausch hilfreich für alle wäre. Ansonsten hätte er nicht einfach nur aus unseren Rohdaten ohne Gewichtung zitiert. Unser Angebot zum Gespräch besteht weiterhin.
marktforschung.de: Sie selbst nennen Ihre Methoden innovativ. In einem anderen Kommentar schlägt man Ihnen vor, sich beim Kongress der Deutschen Marktforschung für den Innovationspreis zu bewerben. Was halten Sie von dieser Idee?
Janina Mütze: Heute werfen uns ausgewählte Vertreter der klassischen Zunft vor, die Marktforschung in die Steinzeit vor Gallup zurückzuwerfen und vergleichen uns mit den guten alten TED-Umfragen. Deshalb können wir uns vorstellen, den Vorschlag, uns für den Innovationspreis der Marktforschung zu bewerben, bei Gelegenheit aufzugreifen. Wenn wir ihn gewinnen sollten, haben dann wahrscheinlich auch die Institute, die derzeit lautstark unsere Methoden angreifen, das Läuten gehört.
marktforschung.de: Wo sehen Sie die Marktforschung in fünf Jahren?
Janina Mütze: Wir sind immer noch fest davon überzeugt, dass wir uns mitten in einer Revolution, zumindest in einer tiefgreifenden Evolution, in der Marktforschung befinden. Telefonbefragungen werden weiterhin stetig an Relevanz und Glaubwürdigkeit verlieren. Wer zukunftsfähige Marktforschung betreiben will, wird an der Forschung zu non-probability Methoden für Online-Befragungen, multivariaten Verfahren und Echtzeit-Berechnungen nicht mehr vorbeikommen. Gleichzeitig braucht es neue Anreize für Befragte. Mit der Echtzeit-Veröffentlichung der gewichteten Ergebnisse für Befragte setzen wir neue Maßstäbe.
marktforschung.de: Wo wird Ihr Unternehmen da seinen Platz haben?
Janina Mütze: Wir sind als Innovationstreiber gestartet und sind sicher, dass wir dank dieses Vorsprungs in den nächsten Jahren unsere Marktposition deutlich ausbauen können.
marktforschung.de: Vielen Dank für das Gespräch, Frau Mütze!
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