Einschätzungen von Elif Aksit Wie sich die Lage in der Türkei auf Konsum und Marktforschung auswirken wird

Die Türkei ist für die GIM ein wichtiger Forschungsmarkt, nicht zuletzt aufgrund ihrer jungen, dynamischen und vor allem sehr konsumfreudigen Bevölkerung. Das war bislang auch für viele unserer international agierenden Kunden ein relevanter Faktor, um in der Türkei Business zu betreiben.


Und doch besteht im Grunde seit die AKP die Regierungsgeschäfte im Jahr 2007 übernommen hat eine gewisse Skepsis, wie sich die langfristige politische Situation in der Türkei entwickeln wird – und was dies für Unternehmen bedeuten kann. Grund hierfür ist vor allem die stark religiöse Ausrichtung der Partei unter Einfluss von Präsident Erdogan. Zur Debatte steht hier für die Unternehmen nicht zuletzt auch die Sicherheit langfristiger Investitionen. Eine stärkere religiösere Ausprägung der Regierung und Bevölkerung allein muss jedoch nicht zwangsläufig einen Einfluss auf die Konsumfreude westlicher Marken haben, denn – mal ganz banal ausgedrückt: auch Frauen mit Kopftuch fahren gerne Mercedes oder schießen Selfies mit dem iPhone.

Wirklich zugespitzt hat sich die Situation jedoch zweifelsohne mit den jüngsten Entwicklungen in der Türkei. Also die verheerenden terroristischen Anschläge, das Reiseembargo Russlands und vor allem auch der gescheiterte Putschversuch. Dies hat gravierende ökonomische Folgen: Zum einen sind die üblichen Massenströme an Touristen diesen Sommer ausgeblieben, da sie andere, weniger gefährliche Feriendestinationen der Türkei vorgezogen haben. Nach dem Anschlag am Istanbuler Flughafen und auch nach dem Putschversuch wurden viele bestehende Buchungen storniert. Darunter leidet übrigens auch der innertürkische Tourismus, weil viele Staatsbeamte zurückgerufen wurden und gezwungenermaßen ihren Urlaub abbrechen mussten.

Zum anderen beeinflussen die Anschläge und der Putschversuch die gesamte Atmosphäre im Land sowie die Risikoeinschätzungen der Bevölkerung und ausländischer Investoren. Die Lage wirkt insgesamt verunsichernd und wird sicherlich dazu führen, dass ausländische Investitionen konservativer bewertet und gegebenenfalls aufgeschoben werden oder gar ausfallen. Dies hat selbstverständlich Auswirkungen auf die gesamte ökonomische Architektur des türkischen Marktes Aber auch auf das individuelle (Konsum-)Befinden, denn die Stimmung in der Türkei ist in weiten Teilen der Bevölkerung gedrückt. Die regelmäßigen Meldungen aus dem Südosten der Türkei über gefallene Soldaten sowie über die drastischen, demokratiegefährdenden Maßnahmen der aktuellen Staatslenkung (Inhaftierungen von Beamten und Journalisten, Zensur etc.) tragen wesentlich dazu bei, dass sich die öffentliche Atmosphäre nicht zuletzt in den Metropolen gerade wandelt.

Vor allem die enormen Einbrüche im Tourismus reißen große Lücken in die Haushaltseinkommen vieler Familien und junger Türken. Dies führt aktuell zu einem tendenziell konservativeren Konsum in der Bevölkerung. So wird etwa die geplante Anschaffung von Kühlschrank, Plasma-TV oder Auto eher aufgeschoben, potenzielle Spontaneinkäufe nochmals überdacht. Man geht vielleicht weniger aus oder verkneift sich unnötigen, extravaganten Konsum. Und das bekommen selbstverständlich Hersteller und Anbieter von Services zu spüren. Die aktuelle Tendenz ist damit klar: Die türkische Bevölkerung sieht vorerst zu, dass sie ihre Ressourcen erhält, um einer gegebenenfalls unsicheren Zukunft begegnen zu können. Profitieren könnten davon die eher erschwinglicheren, lokalen Marken statt der teureren, ausländischen Marken. Insgesamt wird der Binnenkonsum gebremst – und damit unter Umständen auch der gesamtökonomische Boom in der Türkei der vergangenen Jahre.

Trotz allem verläuft für viele das soziale Leben in der Türkei derzeit verhältnismäßig ruhig und normal. Berufstätige gehen zur Arbeit, Familien treffen sich zum Essen, Jugendliche verschaffen sich durch Konzerte Ablenkung oder gehen ihren Ferienaktivitäten nach. Absurderweise ist die türkische Bevölkerung Tragödien gewohnt und hat sich dadurch im Laufe der Zeit einen recht robusten „Routine-Mantel“ zugelegt. Medial wird der Putschversuch noch sehr präsent gehalten, doch an der täglichen Routine vieler Menschen ist diese besondere Situation nur eingeschränkt erkennbar. Dies liegt sicherlich auch daran, dass sich die unmittelbar sichtbaren Auswirkungen des Ausnahmezustands meist auf gelegentliche Fahrzeug- und verstärkte Zollkontrollen an den Grenzen beschränken. 

Was bedeutet das für die Marktforschung in der Türkei? Aus meiner Sicht ist sicherlich ein kurzfristiger Rückgang in den Marktforschungs-Aktivitäten vor Ort zu erwarten. Obwohl die Wirtschaftstätigkeit im Land weitestgehend normal funktioniert, reagiert der Westen auf die entsprechend krisenhaft geprägte Berichterstattung sehr sensibel. Deshalb wird sich die gefühlt unsichere Lage des Landes vermutlich in einem Rückgang der beabsichtigten Forschungsprojekte vor Ort niederschlagen. Ob sich die Lage für ausländische Marktforschungstätigkeiten bald wieder erholt, hängt in erster Linie davon ab, ob es weiterhin zu Anschlägen in der Türkei kommt und wie schnell wieder Rechtssicherheit nach dem Putschversuch hergestellt wird (Ausnahmezustand!). Eine langfristige Einschätzung ist schwierig, da diese nicht nur von einem sich erholenden Konsum der türkischen Bevölkerung abhängt, sondern vor allem von den zukünftigen politischen Entwicklungen. 

Die Autorin

Elif Aksit, GIM
Elif Aksit ist Senior Research Manager bei der GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung. Sie hat türkische Wurzeln und war während des Putschversuchs in der Türkei im Urlaub.

 

Diskutieren Sie mit!     

  1. Dr. Dieter Korczak am 10.08.2016
    Sehr geehrte Frau Aksit,

    vielen Dank für diese Übersicht über die gegenwärtige Konsumsituation in der Türkei.
    Vermisst habe ich in Ihrem Beitrag jedoch die Schilderung, inwieweit die türkische Marktforschung von der durch Erdogan erzeugten Progromstimmung betroffen ist.
    Werden Marktforscher ebenso wie Journalisten, Richter, Lehrer und Professoren einer Gesinnungsprüfung unterzogen und u.U. sogar verhaftet? Inwieweit ist die türkische Bevölkerung bereit, unter den gegenwärtigen Umständen offen und ehrlich an Befragungen teilzunehmen? Es wäre schön, wenn Sie Ihren lesenswerten Artikel um diese Aspekte ergänzen könnten.

    mit freundlichen Grüßen
    Dr. Dieter Korczak
  2. Frank Luschnat am 11.08.2016
    Sehr geehrter Herr Dr. Korczak,

    haben Sie zunächst vielen Dank für Ihre Nachricht, bzw. Ihre interessante Frage.
    Meine Kollegin Elif Aksit weilt derzeit im Urlaub, gleichwohl möchte ich Ihren Kommentar nicht unbeantwortet lassen.

    Es ist stets ein schmaler Grat für AutorInnen in a priori "politikfernen" Fachmedien, bzw. Beiträgen wie diesem, zu solch fraglos höchst verurteilenswerten, antidemokratischen Entwicklungen wie sie derzeit unter Erdogan geschehen, Stellung zu beziehen. Ich vermute, dass Frau Aksit diese interessanten Aspekte deshalb zunächst nicht thematisiert hat.

    Sie wird nach ihrer Rückkehr ab 17. August dann inhaltlich auf Ihren Post eingehen.

    Freundliche Grüße

    Frank Luschnat, Director Marketing & PR
    Gesellschaft für Innovative Marktforschung
  3. Elif Aksit am 30.08.2016
    Sehr geehrter Dr. Korczak,

    vielen Dank für Ihre anregenden Kommentar.

    Die von Ihnen angesprochene Gesinnungsprüfung betrifft – abgesehen von Journalisten - vor allem Angestellte im Staatsdienst. Damit sind unsere türkischen Kolleginnen und Kollegen in der Marktforschung bisher nicht konfrontiert worden. Eine derartige Prüfung von Staatsseite ist auch nicht zu erwarten, da hier weniger die Frage der „Gesinnung“ relevant ist. Vielmehr sind der Forschungsgegenstand bzw. zu beforschenden Inhalte ausschlaggebend.
    Konkret heißt das: die Erforschung „klassischer“ Konsumthemen (zum Beispiel Fokusgruppen oder quantitative Umfragen, in denen es um Süßspeisen, Haushaltswaren oder Mobilitätsverhalten geht) erfolgt auch weiterhin ohne Probleme. Hier gibt es weder für TeilnehmerInnen Barrieren, ihre Einstellungen „offen und ehrlich“ zu äußern, noch einen Anlass, die Moderation auf ihre Kompatibilität zu politischen Auffassungen zu überprüfen. Ganz im Gegenteil: Marktforschungsprojekte wurden auch unmittelbar nach den Ereignissen des 15.Juli weitergeführt, Angestellte im Privatsektor sind am Montag regulär in die Arbeit gegangen und Geschäfte waren – sofern in manchen Verkehrsknotenpunkten nicht durch Angriffe zerstört – normal geöffnet.
    Eigentlich sind gerade die sich wandelnden Konsumeinstellungen aus den im Artikel beschriebenen Gründen für Marktforscher und Hersteller besonders interessant. Mit Blick auf Konsumenten war und ist die Marktforschung in der Türkei weiterhin neutral in ihrem Forschungsinteresse und der Berücksichtigung relevanter Zielgruppen.
    Doch um die Meinungsforschung – zumal die politische – könnte es natürlich anders bestellt sein. Obwohl uns hier keine konkreten Beispiele bekannt sind, ist es durchaus denkbar, dass entsprechenden (universitären oder unabhängigen) Forschungsinstituten ein größeres staatliches Interesse, wenn nicht gar staatlicher Einfluss, zuteil wird. Zudem ist zu erwarten, dass in der eher ‚gedrückten politischen Stimmung‘ in der Türkei, BürgerInnen von der Teilnahme an Studien absehen, die beispielsweise ‚die politische Stimmung‘ im Land erkunden wollen oder direkt nach Akzeptanz oder ‚Likeability‘ von politischen Parteien oder Politikern fragen.

    Ich hoffe, dass meine Ausführung die von Ihnen aufgegriffenen Themen besser beleuchten konnten.

    Herzlichen Dank und schöne Grüße
    Elif Aksit
  4. Dr. Dieter Korczak am 05.04.2017
    Sehr geehrte Frau Aksit,

    vielen Dank für diese Übersicht über die gegenwärtige Konsumsituation in der Türkei.
    Vermisst habe ich in Ihrem Beitrag jedoch die Schilderung, inwieweit die türkische Marktforschung von der durch Erdogan erzeugten Progromstimmung betroffen ist.
    Werden Marktforscher ebenso wie Journalisten, Richter, Lehrer und Professoren einer Gesinnungsprüfung unterzogen und u.U. sogar verhaftet? Inwieweit ist die türkische Bevölkerung bereit, unter den gegenwärtigen Umständen offen und ehrlich an Befragungen teilzunehmen? Es wäre schön, wenn Sie Ihren lesenswerten Artikel um diese Aspekte ergänzen könnten.

    mit freundlichen Grüßen
    Dr. Dieter Korczak
  5. Frank Luschnat am 05.04.2017
    Sehr geehrter Herr Dr. Korczak,

    haben Sie zunächst vielen Dank für Ihre Nachricht, bzw. Ihre interessante Frage.
    Meine Kollegin Elif Aksit weilt derzeit im Urlaub, gleichwohl möchte ich Ihren Kommentar nicht unbeantwortet lassen.

    Es ist stets ein schmaler Grat für AutorInnen in a priori "politikfernen" Fachmedien, bzw. Beiträgen wie diesem, zu solch fraglos höchst verurteilenswerten, antidemokratischen Entwicklungen wie sie derzeit unter Erdogan geschehen, Stellung zu beziehen. Ich vermute, dass Frau Aksit diese interessanten Aspekte deshalb zunächst nicht thematisiert hat.

    Sie wird nach ihrer Rückkehr ab 17. August dann inhaltlich auf Ihren Post eingehen.

    Freundliche Grüße

    Frank Luschnat, Director Marketing & PR
    Gesellschaft für Innovative Marktforschung
  6. Elif Aksit am 05.04.2017
    Sehr geehrter Dr. Korczak,

    vielen Dank für Ihre anregenden Kommentar.

    Die von Ihnen angesprochene Gesinnungsprüfung betrifft – abgesehen von Journalisten - vor allem Angestellte im Staatsdienst. Damit sind unsere türkischen Kolleginnen und Kollegen in der Marktforschung bisher nicht konfrontiert worden. Eine derartige Prüfung von Staatsseite ist auch nicht zu erwarten, da hier weniger die Frage der „Gesinnung“ relevant ist. Vielmehr sind der Forschungsgegenstand bzw. zu beforschenden Inhalte ausschlaggebend.
    Konkret heißt das: die Erforschung „klassischer“ Konsumthemen (zum Beispiel Fokusgruppen oder quantitative Umfragen, in denen es um Süßspeisen, Haushaltswaren oder Mobilitätsverhalten geht) erfolgt auch weiterhin ohne Probleme. Hier gibt es weder für TeilnehmerInnen Barrieren, ihre Einstellungen „offen und ehrlich“ zu äußern, noch einen Anlass, die Moderation auf ihre Kompatibilität zu politischen Auffassungen zu überprüfen. Ganz im Gegenteil: Marktforschungsprojekte wurden auch unmittelbar nach den Ereignissen des 15.Juli weitergeführt, Angestellte im Privatsektor sind am Montag regulär in die Arbeit gegangen und Geschäfte waren – sofern in manchen Verkehrsknotenpunkten nicht durch Angriffe zerstört – normal geöffnet.
    Eigentlich sind gerade die sich wandelnden Konsumeinstellungen aus den im Artikel beschriebenen Gründen für Marktforscher und Hersteller besonders interessant. Mit Blick auf Konsumenten war und ist die Marktforschung in der Türkei weiterhin neutral in ihrem Forschungsinteresse und der Berücksichtigung relevanter Zielgruppen.
    Doch um die Meinungsforschung – zumal die politische – könnte es natürlich anders bestellt sein. Obwohl uns hier keine konkreten Beispiele bekannt sind, ist es durchaus denkbar, dass entsprechenden (universitären oder unabhängigen) Forschungsinstituten ein größeres staatliches Interesse, wenn nicht gar staatlicher Einfluss, zuteil wird. Zudem ist zu erwarten, dass in der eher ‚gedrückten politischen Stimmung‘ in der Türkei, BürgerInnen von der Teilnahme an Studien absehen, die beispielsweise ‚die politische Stimmung‘ im Land erkunden wollen oder direkt nach Akzeptanz oder ‚Likeability‘ von politischen Parteien oder Politikern fragen.

    Ich hoffe, dass meine Ausführung die von Ihnen aufgegriffenen Themen besser beleuchten konnten.

    Herzlichen Dank und schöne Grüße
    Elif Aksit

Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.

Anmelden

Weitere Highlights auf marktforschung.de