CRM der Zukunft Wie kann das Amazon-Prinzip auf die Finanzdienstleistungsbranche übertragen werden?

Von Torben Tietz und Dr. Stephan Groll, MSR Insights
Die Differenzierung von Verkaufsförderungs-
maßnahmen und Kundenservice nimmt branchenübergreifend zu und wird auch von Kunden immer stärker verlangt. Besonderer Vorreiter ist hier der Online-Einzelhandel.
Das Amazon-Prinzip
Wer kennt es nicht? Sie shoppen gerade im Internet, beispielsweise bei Amazon oder Zalando. Aufgrund Ihrer bisherigen Käufe und des Surfverhaltens ermittelt ein Algorithmus im Hintergrund, welche Produkte Ihnen noch gefallen könnten. Kann dieses Prinzip auch auf Finanzdienstleister übertragen werden?
Für einen Online-Händler ist es einfacher als für Finanzdienstleister wie Versicherungen, die Präferenzen der Kunden zu ermitteln, da in der Regel mehr Daten zum einzelnen Kunden vorliegen. Zum einen gibt es aufgrund höherer Kauffrequenzen mehr Daten zu getätigten Käufen auf individueller Ebene, zum anderen sind auch die Daten zum Verhalten ohne Kauf vorhanden, zum Beispiel angesehene Artikel, Suchbegriffe, Bewertungen und weitere Daten zum Verhalten im Rahmen der Websitenutzung.
Für einen Versicherer sieht die Welt etwas anders aus. Transaktionen sind selten und Kontakte zum Betreuer bzw. zum Unternehmen sind in der Regel schlecht dokumentiert. Ob sich ein Kunde in der Vergangenheit schon über ein bestimmtes Produkt informiert hat, ist unklar. Der Produktbesitz beim Wettbewerb ist üblicherweise nicht bekannt. Auf der anderen Seite liegt auf Basis der abgeschlossenen Versicherungsverträge eine Reihe von Informationen zum Kunden vor, wie zum Beispiel Alter, Fahrzeugbesitz, Größe der Wohnung etc.
Aber selbst wenn zu einem individuellen Kunden vergleichsweise wenige Daten vorliegen, funktioniert es in der Regel gut, über Algorithmen Abschlusswahrscheinlichkeiten zu bestimmen, da viele Daten auf Ebene des Kollektivs vorliegen. Das funktioniert auch bei Finanzdienstleistern. Hier wird auf Basis von Abschlussverhalten, Produktbesitz und weiteren Merkmalen ein Score ermittelt, der zum Beispiel die Cross-Selling-Bereitschaft für ein bestimmtes Produkt ermittelt. Solche Scores sind weit verbreitet und die Wirksamkeit ist intensiv getestet.

Mit Hilfe dieser Scores werden Vertriebsaktionen optimiert. Bis zur vollständigen Umsetzung des Amazon-Prinzips „Kunden in Ihrer Situation haben auch folgende Verträge abgeschlossen“ gehen Versicherer in der Regel nicht. Es wäre jedoch denkbar.
Vorhersage von Verhalten durch Marktforschung
Wie oben erläutert, können Online-Anbieter zusätzlich Informationen über das Kundenverhalten auf ihrer Website sowie weitere Daten wie Bewertungen nutzen, um das Kaufverhalten von Kunden zu verstehen. Sie optimieren daraufhin die Struktur ihres Shops, das Informationsangebot und den Kaufprozess. Da diese Daten bei Finanzdienstleistern nur selten vorliegen, kann Marktforschung eingesetzt werden, um das Kaufverhalten besser zu verstehen und entsprechend Verkaufsprozesse kundenorientiert zu gestalten.
Im Rahmen von Befragungen kann die Customer Journey des Kunden abgebildet werden, um Ansatzpunkte zur Vertriebsoptimierung zu identifizieren. So ist beispielsweise ein Schadenfall ein wichtiger Moment der Kundenbeziehung. Aus vielen Befragungen ist bekannt, dass Schadenkunden, deren Schaden schnell und vollständig reguliert wurde, hoch zufrieden sind und die Versicherung häufiger weiterempfehlen.

Diese erhöhte Bereitschaft, die Versicherung weiterzuempfehlen, kann man nutzen, indem man jeden Kunden mit unkritischem Schadenfall in eine Weiterempfehlungsaktion aufnimmt.
Der Kundenwertgedanke
Insbesondere bei Versicherern muss neben einer reinen Abschluss- oder Empfehlungswahrscheinlichkeit ein weiterer Aspekt berücksichtigt werden: Die Rentabilität des Neugeschäfts. In der Versicherungswirtschaft hat nicht jeder Kunde die gleiche Rentabilität, da individuelle Schadenverläufe dazu führen können, dass einzelne Kunden oder auch einzelne Gruppen von Kunden einen deutlich negativen Deckungsbeitrag erwirtschaften. Vor diesem Hintergrund ist es bei Finanzdienstleistern also sinnvoll, neben der reinen Abschluss- oder Empfehlungswahrscheinlichkeit auch eine Wertbetrachtung in die Entscheidung, ob eine vertriebliche Aktion bei dem Kunden durchgeführt wird, einzubeziehen.
Wertsegmentierung als Grundlage für Aktionen und strategische Steuerung
Der Wert des Kunden soll also als Entscheidungskriterium berücksichtigt werden. Er ist ausschlaggebend für die Frage, ob eine Cross-Selling- oder Weiterempfehlungsaktion ausgelöst werden soll. Er kann jedoch ebenso zur strategischen Steuerung und Bewertung der Erfolge der Unternehmensaktivitäten genutzt werden. Bevor dies näher erläutert wird, wäre zunächst die Frage zu klären, wie eine Kundenwertbestimmung funktioniert.
Grundanforderung ist, dass jedem Kunden ein Kundenwert zugeordnet werden kann. Der Kundenwert soll sowohl den heutigen als auch den zukünftigen Wert eines Kunden für das Unternehmen ausdrücken. Es muss auch eine Kategorie für Kunden geben, für die noch nicht genügend Daten vorliegen, um einen Wert sinnvoll zu berechnen – dies ist in der Regel bei Neukunden der Fall. Eine Berechnungslogik sollte sich also an den vorhandenen internen Daten orientieren und dabei sowohl einen Bestandswert als auch einen Potenzialwert berücksichtigen. Ein solches Modell ist in der nächsten Abbildung dargestellt.
Für die Entwicklung eines Modells ist es notwendig, die Datengrundlage und die Branchenmechanismen gut zu verstehen. In der Abbildung sind beispielhaft Inputgrößen für ein solches Modell in der Versicherungswirtschaft dargestellt.
Bei der Wahl der zugrundeliegenden Daten ist zu beachten, dass nicht alle vorliegenden Daten gleich gut interpretierbar sind. Hier ein Beispiel: Für den Abschluss einer Hausratversicherung erhebt der Versicherer in der Regel die Wohnfläche als tarifierungsrelevantes Merkmal. Die Wohnfläche kann als Indikator für finanzielles Potenzial genutzt werden. In der Kfz-Versicherung wird beispielsweise auch abgefragt, ob eine oder mehrere Garagen vorhanden sind. Da das Vorhandensein einer oder mehrerer Garagen zu einem günstigeren Kfz-Tarif führen kann, gibt es Kunden, die auf die entsprechende Frage nicht ehrlich reagieren. Fazit: Wohnfläche ist ein guter Indikator für Potenzial, die Garage nicht.

Liegt ein solches Modell erst einmal vor, sind viele Anwendungsfelder lohnend. Hier einige Beispiele:
- Strategische Positionierung
- Steuerung vertrieblicher Kundenkontaktprogramme
- Kulanzentscheidungen bei unklaren Sachverhalten
- Empfehlungsansprachen
Neben den naheliegenden vertrieblichen Anwendungen ist der Kundenwert auch geeignet zur Bewertung strategischer Optionen wie beispielsweise der Entscheidung, welche Vertriebswege man bedienen möchte. Wenn ein Vertriebsweg nur Kunden mit geringem Kundenwert generiert, muss das Vorgehen überdacht werden.
Der Kundenwert ist auch als Steuerungsgröße für eine neue, einheitliche, siloübergreifende Strategie geeignet. Im Rahmen von Messungen zur Kundenzufriedenheit liefert er eine differenziertere Sicht auf die Ergebnisse (siehe nächste Abbildung). Auch die Definition von Servicezielen kann mit Hilfe des Kundenwerts differenzierter erfolgen.

Wie finde ich attraktive Kunden am Markt?
Der Kundenwertansatz ist per Definition erst einmal auf den Kundenbestand beschränkt. Für viele Unternehmen stellt sich jedoch die Frage, wie Nicht-Kunden mit einem potenziell hohen Wert für das Unternehmen im Markt gefunden und gezielt angesprochen werden können. Der Kundenwertansatz kann in Kombination mit Marktforschung auch dafür genutzt werden, attraktive Zielgruppen im Markt zu identifizieren.
Im Kontext einer Marktanalyse ist es möglich, eine Bedürfnissegmentierung des Gesamtmarktes vorzunehmen. Neben den Bedürfnissen wird das Informations- und Abschlussverhalten ermittelt. Ergänzend werden Kunden mit hohem Kundenwert, der auf Basis der internen Daten vorliegt, ebenfalls zu Bedürfnissen sowie Informations- und Abschlussverhalten befragt. Es liegen nun einheitliche Bedürfnissegmentierungen für den Markt und für die attraktiven Kundenwertsegmente vor. Aus dem Abgleich von Wert und Größe der Segmente im Markt kann eine Neukundenstrategie entwickelt werden. Diese Strategie berücksichtigt das Ziel, sich auf Kundensegmente auszurichten, die mittelfristig für das Unternehmen einen hohen Wert haben werden. Das Vorgehen ist in der nächsten Abbildung dargestellt. Die Marktforschungserkenntnisse können einerseits zur Definition der Zielgruppe, aber auch zur Ansprache (Botschaften und Kanäle) genutzt werden.

Ein Blick in die Zukunft
Die Finanzdienstleister werden immer mehr Daten über den Kunden und die Kundeninteraktionen verfügbar haben. Aktuell arbeiten viele Anbieter an Beratungssoftware und Online-Portalen für ihre Kunden, über die sie weitere Daten generieren werden. So bieten einige Versicherer im Rahmen des eigenen Online-Portals auch Möglichkeiten, Verträge von fremden Versicherungsunternehmen aufzunehmen. Auch neue Tarife, bei denen Kunden dem Versicherer Zugriff auf Gesundheitsinformationen oder Fahrverhalten gewähren, kommen in den Markt und geben den Unternehmen die Möglichkeit, daraus Daten zu generieren. Darüber hinaus werden sich in Zukunft „Direct Customer Feedback“-Systeme (wie zum Beispiel flächendeckende NPS-Erhebungen) weiter durchsetzen. Auch durch diese flächendeckende direkte Bewertung der jeweiligen Interaktion entstehen weitere Informationen über die Kundeninteraktionen. Dabei wird es wichtig sein, dem Kunden transparent zu machen, welcher Nutzen ihm durch die Bereitstellung von Informationen entsteht.
Fazit
Der Trend, noch mehr Daten über die Kunden aus unterschiedlichen Quellen zu generieren, wird sich in Zukunft fortsetzen. Aus diesen Daten nützliche Informationen zu machen, ist eine Herausforderung. Die Marktforschung wird dabei eine wichtige Rolle spielen, denn sie baut die Brücke zwischen Verhalten und Verstehen. Sie muss jedoch auch kritisch hinterfragen, an welchen Stellen die Beobachtung von Verhalten bessere Prognosen liefert als die Befragung. Ihre Rolle wird weiterhin darin bestehen, Daten in Erkenntnisse zu überführen und diese in Strategien und konkrete Maßnahmen für Unternehmen zu übersetzen.
Die Autoren

Torben Tietz (rechts) ist Partner bei MSR Insights und Dr. Stephan Groll ist als Senior Consultant bei MSR Insights tätig.
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