Edward Appleton & Dr. Natascha Haehling von Lanzenauer, Happy Thinking People Wie geht die Qualitative Forschung mit Künstlicher Intelligenz (KI) um?

Entwickelt sich die KI zur Schicksalsfrage für Unternehmen? Für qualitative Institute entstehen aktuell andere Herausforderungen als für quantitative Firmen. Dr. Natascha Haehling von Lanzenauer und Edward Appleton von Happy Thinking People geben einen Überblick, wo KI in qualitativen Projekten eine Rolle spielt.

Dr. Natascha Haehling von Lanzenauer & Edward Appleton

Dr. Natascha Haehling von Lanzenauer und Edward Appleton

 

Die Aufregung um Tech, Künstliche Intelligenz (KI) und insbesondere maschinelles Lernen in der Marktforschung ebbt nicht ab. Für einige ist das ein bedrohliches Szenario - andere betrachten KI als Schlüsselinstrument und  somit Wachstumstreiber.

Eric Salama, CEO bei Kantar, schreibt über die Erwartungshaltung des neuen avisierten Miteigentümers der Gruppe, eines Finanzinvestors:

"They want to grow Kantar and scale it and they want to make it a much more tech-driven business in every aspect (...) The focus will be on investing in technology that allows the business to work harder, better and faster for clients. That means really infusing technology into all of the data and insights that we generate and making them much more real-time and much more predictive... we do that at the moment but it's still a bit too clunky for my liking - we need to make that automated, faster, on a dashboard and in real-time." (The Drum/ 19. 06. 2019)

Kristin Luck, Vice President des Esomar Council, erweitert diese Perspektive auf die gesamte Branche:

"Artificial intelligence is on the verge of transforming market research. Companies like Remesh, Canvs and SightX (to name just a few) are using AI to speed the time to deeper, richer insights." (Research World/ RW Connect, 18.06. 2019)

Effizienztool oder Schicksalsfrage?

Die Auswirkungen der Digitalisierung sind umfassend spürbar: bei steigendem Kostendruck werden Datenmengen immer größer, oft komplexer und Zeitrahmen enger. Außerdem haben die klassischen Marktforschungsunternehmen neue Konkurrenz bekommen: Firmen und Start-ups, die sich als 'Tech Companies' und KI-Spezialisten positionieren.

(Bild: Zenzen/Shutterstock.com)
(Bild: Zenzen/Shutterstock.com)


Angesichts dessen ist die Integration von bzw. Hilfestellung durch KI nicht nur ein zusätzliches Effizienztool für Marktforschung, sondern wird sich womöglich zur 'Schicksalsfrage' für viele Unternehmen entwickeln. Immerhin werden nicht alle Branchensegmente in gleichem Maße betroffen sein.

Unternehmen im Bereich der Quantitativen Forschung stehen hier in der ersten Reihe und haben weitgehend alle Maßnahmen zur Standardisierung wie Automatisierung konsequent implementiert. Hier lassen sich Effizienzsteigerungen durch KI entsprechend skalieren und ggf. weiterentwickeln.

Bei qualitativen Forschungsprojekten bzw. entsprechend ausgerichteten Unternehmen ist KI bisher weniger im Arbeitsalltag angekommen - was durch grundsätzliche, meist strukturelle Faktoren beeinflusst wird. Qualitative Institute haben in der Regel kleinere Projekt- und Umsatzvolumina. Die Aufgabenstellungen und Rahmenfaktoren sind meist spezifischer, Designs und Durchführung auf Kundenwünsche hin maßgeschneidert. Und die Zielsetzungen sind oft heterogen, z.B.: Verstehen von Zielgruppen, ihren Einstellungen, Emotionen und tatsächlichen Verhaltensweisen (in verschiedenen kulturellen Umfeldern) plus Exploration von Produkt- /Marken-/ Konzept-Wahrnehmungen etc. Das kann analog wie digital erfolgen, aber (starke) Standardisierung - die Vorstufe zur Automatisierung - ist für tatsächlichen Erkenntnisgewinn und Analyse häufig nicht zielführend. Bei kleineren Stichproben wäre der Einsatz von KI nicht nur übertrieben, sondern teils auch kontraproduktiv. 'Thick data' ist - bis jetzt zumindest - recht effizient mit menschlicher Intelligenz analysierbar, wobei der spezifische Erfahrungsschatz und die zielgerichtete Neugier des qualitativen Forschers entscheidend sind.  

Die Auftragslage ändert sich allerdings, so hat sich der Umfang typischer Quali-Projekte über die letzten 10 Jahre gewandelt. Bei komplexen Mehr-Länderstudien werden relativ große, unstrukturierte Mengen heterogener Daten generiert. Gleichzeitig müssen schnell Ergebnisse vorliegen. Um die Daten in der Tiefe auszuwerten und aufzubereiten muss meist mehr Personal eingebunden werden, was somit interne Zeitbudgets und Kosten in die Höhe treibt. 

Wo KI für Qualitative Projekten heute eine Rolle spielt

Es ist noch nicht klar, wie sehr KI auch die Qualitative Forschung nachhaltig verändern wird. Es gibt heute schon einige Bereiche, wo KI hilfreich und effizienzsteigernd eingesetzt wird, in anderen zeichnen sich keine greifbaren Verbesserungen ab.

  1. Übersetzungssoftware

(Bild: Cienpies Design/Shutterstock.com)
(Bild: Cienpies Design/Shutterstock.com)

Bei Übersetzungssoftware ist einiges passiert, man vergleiche zum Beispiel deepL gegenüber google translate. Aber diese KI hat immer noch klare Grenzen: um den groben Sinn eines Texts in einer Fremdsprache zu verstehen, reicht es in der Regel aus. Wenn es allerdings um sprachliche Feinheiten, Wahrnehmung von Emotionen oder gar literarische Aspekte geht, ist so eine Software allein nicht hilfreich. Man hat dann zwar sofort einen kompletten Text vorliegen, der aber teils platt, widersprüchlich oder gar irreführend ist.

2. Voice-to-text

(Bild: Bitcoin/Shutterstock.com)
(Bild: Bitcoin/Shutterstock.com)

Hier ist technisch einiges machbar - Transkripte werden automatisch und quasi sofort aus Audio-Aufnahmen erstellt; in einer zweiten Stufe sorgt eine Software für die sofortige Übersetzung.

Man muss allerdings klar abwägen: welche Qualität, welche Detailtiefe und -Treue sind erforderlich? Braucht man lediglich ganz schnell einen Überblick bzw. ein Basis-Verständnis, fährt man hiermit vermutlich richtig. 

Allerdings kann die Audio-Qualität stark variieren, was zu Qualitätsverlusten im Transkript führen kann. Eine weitere Hürde sind vor allem regionale Akzente, die häufig nur mangelhaft erkannt und somit falsch transkribiert werden.

3. Clustern & Analyse

(Bild: GarryKillian/Shutterstock.com)
(Bild: GarryKillian/Shutterstock.com)


Zur Ver- und Bearbeitung von größeren, unstrukturierten Text-, Bild- oder Videomengen versprechen einige Tech-Anbieter Hilfe durch KI.

Remesh bietet maschinelles real-time Sortieren, Clustern und Codieren von hunderten oder gar tausenden digitaler Antworten auf offene Fragen an. Big Sofa und voxpopme haben sich auf real-time Analyse wie Tagging und Mining von Bildern und Video-Clips spezialisiert, die von Befragten überall auf der Welt hochgeladen werden.

Das Institut SKIM behandelt den Einsatz und Nutzen solcher Tools in einem Esomar Paper (Wo/man vs. Machine. From Competition to Collaboration / Esomar Global Qualitative 2017). Für eine Studie zum Thema Lebensmittel wurden von Probanden 100 Videos erstellt, die von zwei Teams analysiert wurden: eines der Teams nutzte KI, das andere nicht.

Das Fazit: KI allein kann keine relevanten Insights identifizieren oder gar generieren. Es werden einfach 'strukturierte Daten' erstellt, die aber per se weder besonders sinnvoll noch kommerziell zielführend sind.

Der größte potentielle Nutzen besteht im schnellen, automatisierten Sortieren, Clustern und ggf. Ranking von unstrukturierten Daten. Insofern kann KI helfen, einen schnelleren Überblick zu gewinnen und den Menschen so beim Topline-Schreiben unterstützen.

Wenn es jedoch um die tiefere Analyse komplexer Ergebnisse mit strategischer Denke und kundenorientierten Empfehlungen geht, ist der Mensch noch immer auf sich selbst gestellt.

4. Chat Bots

(Bild: Denvitruk/Shutterstock.com)
(Bild: Denvitruk/Shutterstock.com)


Hier scheint die Quali-Branche noch am Anfang zu sein, kommerzielle Applikationen sind mir im Mainstream nicht bekannt. Ein denkbarer Einsatz ist noch limitiert, z.B. Quick-Polls bei MROCs, um regel-basierte Prompts bei asynchronen digitalen Tagebüchern zu geben: "Why did you say x was good/bad/indifferent?".

So läuft natürlich kein Gespräch - es gibt keinen Austausch und somit keine wirklich qualitative Dimension. Außerdem ist ja weithin bekannt, wie schwierig die direkte Frage "Warum" zu bewerten ist. Viel weiter oder differenzierter funktionieren Bots meines Wissens noch nicht - d.h. sinnvolle Interaktionen, Austausch und Vertiefung kommen solchermaßen  nicht zustande. Es gäbe einfach zu viele 'Antwort-Optionen' die man einzeln programmieren müsste - ganz zu schweigen von der menschlichen Fähigkeit, Humor, Ironie und das zwischen den Zeilen Gesprochene zu verstehen.

Der eher langsame, vergleichsweise teure MROC Moderator bleibt in dieser Hinsicht noch unersetzlich, zumindest aus der Sicht der gängigen Praxis. Vielleicht widerspricht jemand von google - ich bin gespannt ;)

Big Qual - Big Deal?

Nichtsdestotrotz lockt die Perspektive von 'Big Qual' - der  Einsatz von Algorithmen wird immer mehr zunehmen. Im anglo-amerikanischen Sprachraum wird teils von einer "skalierbaren Quali-Forschung" gesprochen, wobei meist offene Fragenstellungen in Quant-Umfragen oder Sortieren und Mining von Videos oder Bildern gemeint sind.

(Bild: Master1305/Shutterstock.com)
(Bild: Master1305/Shutterstock.com)


Das hat aber mit genuin qualitativen Herangehensweisen wenig zu tun.

Derzeit lässt sich eine gewisse Rückbesinnung auf die Ur-Stärken der Quali-Forschung spüren. Angesichts zunehmender Digitalisierung erscheinen menschliche Beobachtungsgabe, ungefiltertes Zuhören, sensibles Aufspüren von emotionalen Nuancen und Spannungsverhältnissen umso aktueller, um wieder Zugang zum Menschen an sich zu bekommen. Sei es um Inspirationen für Innovationsprozesse zu gewinnen, um nachhaltig erfolgreiche Ideen weiterzuentwickeln oder einfach, um Zielgruppen besser zu verstehen. Das war eine der wichtigsten Schlussfolgerungen am Ende der 2019 Qual360 Konferenz in Amsterdam.

Frappierender ist auch, dass KI auf dem Market Research Summit in London kaum ein Thema für viele betriebliche UK Marktforscher war - erst recht angesichts des Konferenztitels 'Insights in the Age of Machines'. Vielmehr war die Rede von Business Impact und den dazu notwendigen Skill-Sets, die alle im 'weichen' Bereich lagen - Storytelling, Salesmanship, Networking, Bias towards Action und einiges mehr. Man beklagte sich sogar, dass es zu viele neue Methoden und 'shiny new tools' gäbe, für eine Validierung fehlten sowohl Zeit als auch interne Expertise.

Zusammenfassung

KI spielt zumindest bisher noch keine allzu große Rolle im Bereich qualitativer Marktforschung. Vielleicht bleibt das noch eine Weile so: Im Gegensatz zu den economies of scale im quantitativen Bereich sind die 'economies of insight' in einer eher fragmentierten, global heterogenen Quali-Marktstruktur schwieriger zu entwickeln.

Nichtdestotrotz treiben Tech und Analytics den Wandel. Von daher tut die  Quali-Branche - kleine wie größere Institute - gut daran, KI und Tech-Entwicklungen sorgfältig zu beobachten und fortlaufend auf Relevanz und Potential prüfen. Hierbei ist die Aufgabenstellung, eine gute Balance zu finden angesichts sich rasch wandelnder Mensch-Maschine-Dynamik.

Unsere Branche bleibt dynamisch, hoffentlich im positiven Sinne.

Dr. Natascha Haehling von Lanzenauer ist seit 2001 Senior Project Director bei Happy Thinking People. Die Japanologin und Kommunikationswissenschaftlerin war vorher an der FU Berlin und in der Werbebranche tätig. Sie beschäftigt sich häufig und gerne mit komplexen, interkulturellen Fragestellungen, Markenkern -, Kommunikations- und Strategieprojekten, insbesondere in den Kategorien Pharma, Personal / Beauty Care/, Food / Beverages und Automotive.

Edward Appleton ist Director Global Marketing bei Happy Thinking People. Er ist seit über 20 Jahre in der Marktforschung tätig, sowohl auf Kunden- wie Agenturseite Zuvor war er auf der Kundenseite.Bevor er zu Happy Thinking People kam, war er Senior Consumer Insights Manager bei Coca Cola sowie European Market Research Manager bei Avery Zweckform, München.

 

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