Weltweite Studie zu Meinungs- und Wahlforschung Wie gefährlich leben Meinungsforschende weltweit?

Meinungsumfragen sind ein Teil gelebter Demokratie. Was in Deutschland bislang selbstverständlich ist, sieht in vielen Teilen der Welt ganz anders aus. Die aktuelle Erhebung „Freedom-Survey“ von Esomar und Wapor, die zum siebten Mal seit 1984 durchgeführt wurde, zeigt, dass es noch immer Länder gibt, in denen Interviewer und Meinungsforscher gefährlich leben. Und selbst in UK und den USA stellt sich die Situation für Meinungsforschende heute schwieriger dar als noch vor fünf Jahren. Lesen Sie im ersten Teil unseres Artikels, in welchen Ländern Meinungsumfragen besonders schwierig durchzuführen sind.

Bildern von Journalisten, die im Land ermordet worden sind

Auch wenn Meinungsforschende noch nicht so gefährdet sind wie Journalisten: Gerade in Lateinamerika lebt es sich auch als Interviewer gefährlich. (Bild: picture alliance/dpa | Jair Cabrera Torres)

In Deutschland und den meisten westlichen Staaten sind wir es gewohnt, dass vor einer Wahl zahlreiche Vorwahlumfragen in öffentlich zugänglichen Medien veröffentlicht werden. Und idealerweise zeigen die Vorwahlumfragen bereits die Tendenzen, die sich dann am Wahltag bewahrheiten. Doch was für uns in Deutschland als selbstverständlich erscheinen mag, ist es in vielen Ländern der Welt nicht.

Um aufzuzeigen, wie es um die Freiheit von Meinungs- und Wahlumfragen weltweit bestellt ist, haben die beiden Organisationen Esomar und Wapor eine Neuauflage ihrer Studie „The Freedom to conduct and publish opinion polls“ durchgeführt und kürzlich veröffentlicht. Die Studie wurde 1984 ins Leben gerufen und die 2022-Welle ist die siebte Erhebung. Die letzte „Freedom Survey“ stammte aus dem Jahr 2017 und somit war es Zeit für ein Update.

Befragt wurden Experten, die für das jeweilige Land einschätzen konnten, wie es um Meinungsumfragen vor Ort bestellt ist. Das waren entweder regionale Repräsentanten der beiden Organisationen oder andere Forscher/Kommunikationswissenschaftler, die über das Netzwerk rekrutiert werden konnten.

Zu WAPOR und ESOMAR

WAPOR steht für die World Association of Public Opinion Research. Die WAPOR ist eine internationale wissenschaftliche Fachgesellschaft für Meinungsforschung und Kommunikationswissenschaften. Die Organisation wurde bereits 1947 gegründet und umfasst ungefähr 500 Mitglieder, die aus privatwirtschaftlichen Meinungsforschungsinstituten und aus öffentlichen Einrichtungen wie statistischen Ämtern und Universitäten stammen.

ESOMAR steht für die European Society for Opinion and Market Research. Die Esomar ist ein international tätiger Verein zur Marktforschung mit Sitz in Amsterdam und besteht seit 1948. Esomar hat Mitglieder in 130 Ländern.

 

Insgesamt konnten somit Einschätzungen zu 157 Ländern gesammelt werden. Im Unterschied zu 2017 sind das beachtliche 24 Länder mehr. Zum Vergleich: Es gibt aktuell 195 Länder, die von den Vereinten Nationen anerkannt sind.

In vielen der Länder, die in der Studie untersucht wurden, gibt es Beschränkungen für die Durchführung und Veröffentlichung von Meinungsumfragen. Die Durchführung kann offiziell durch Regierungsbeschlüsse eingeschränkt werden oder inoffiziell durch das Zögern der Meinungsforscher, bestimmte Fragen zu stellen oder bestimmte Ergebnisse zu veröffentlichen. In einigen Ländern werden die Beschränkungen in Form von Gesetzen erlassen, in anderen sind es Beschränkungen, die sich die Forscher selbst auferlegen.

In weit mehr als einem Dutzend Ländern gibt es keine Wahlumfragen. In einem Drittel der untersuchten Länder haben die Regierungen Stellen zur Überwachung oder Verwaltung von Umfragen eingerichtet.

Staatliche Beschränkung und Selbstregulierung

In mehr als einem Drittel der Länder (36 Prozent) gibt es eine staatliche Stelle, die für Meinungsumfragen zuständig ist. In Afrika (südlich der Sahara), in Lateinamerika sowie in Nordamerika (inklusive der Karibik) ist der Anteil der Länder, die über solche Stellen verfügen, höher.

In Nordamerika (inklusive der Karibik) gibt es jedoch noch mehr Länder mit Selbstregulierung: In 71 Prozent der dortigen Länder gibt es eine Berufsorganisation, die sich mit Beschwerden über Meinungsumfragen befasst, das sind fast doppelt so viele wie in jeder anderen Region. Insgesamt gibt es jedoch mehr Länder, in denen staatliche Stellen für Wahlumfragen zuständig sind, als Länder, in denen diese Selbstregulierung von professionellen nichtstaatlichen Stellen durchgeführt wird.

Ein etwas größerer Anteil der Länder im Jahr 2022 als im Jahr 2017 gibt an, dass es sowohl eine staatliche Stelle zur Regulierung von Meinungsumfragen als auch einen Berufsverband gibt, der Beschwerden über Meinungsumfragen bearbeitet. Im Jahr 2017 lag der Anteil bei 22 Prozent und 2022 bei 24 Prozent.

Gibt es Tabuthemen für Umfragen?

In mindestens einem von zehn Ländern gibt es Beschränkungen bei der Frage nach politischen Themen, einschließlich Wahlen und Bewertungen von Regierungen und Parteien. Zwölf Prozent der Länder schränken Fragen zur Religion ein; in Afrika südlich der Sahara (20 Prozent) und Westasien und Nordafrika (26 Prozent) sind Fragen zur Religion doppelt so häufig verboten. Die Veröffentlichung von Ergebnissen zu diesen Themen ist in einem noch größeren Prozentsatz der Länder untersagt.

Die Gefahr lauert auf der Straße

F2F-Interviewer leben in einigen Ländern zunehmend gefährlich. Der Grund dafür ist nicht mehr die erhöhte Ansteckungsgefahr im Rahmen der Corona-Pandemie, sondern die Gefahr, auf der Straße überfallen oder belästigt zu werden. Besonders gefährlich stufen Experten das Interviewer-Umfeld in Lateinamerika ein. Immerhin 42 Prozent der Länder in der Region werden als „unsicher“ für Interviewer bewertet.

Besonders gefährliche Länder für Meinungsforscher auf der Straße sind laut der Studie Afghanistan, Guatemala, Honduras, Irak, Myanmar, Somalia, Venezuela und der Jemen.

Strafrechtliche Verfolgung von Meinungsforschern

Doch Straßenkriminalität ist für Meinungsforschende nicht die einzige Gefahr, die lauert. Die vielleicht schärfste staatliche Reaktion auf Meinungsumfragen ist die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die Umfragen durchführen oder darüber berichten. Auch wenn diese Verfolgungen global selten sind, stellen sie doch die größte Bedrohung für die Freiheit der Meinungsforschung dar. In 18 Ländern (12 Prozent) wurden Personen, die Meinungsumfragen durchführten, strafrechtlich verfolgt (einschließlich gelegentlicher Verhaftungen von Interviewern). In 15 Ländern (10 Prozent) wurden diejenigen strafrechtlich verfolgt, die über Meinungsumfragen berichten.

Was hat sich in den letzten fünf Jahren geändert?

In nur 21 Prozent der betrachteten Ländern hat sich die Situation laut den befragten Experten für Meinungsumfragen in den vergangenen fünf Jahren verbessert. Genannt werden hier die Länder Bahrain, Ecuador, Guinea, Palästina, Katar und Simbabwe, in denen es sich für Forscher heute einfacher forschen lässt.

Demgegenüber stehen aber global immerhin 44 Prozent der Ländern, in denen die Experten die Situation für Meinungsforscher heute schwieriger einstufen als noch in 2017. Verschlechtert hat sich die Situation in Afghanistan, Armenien, Chile, Kroatien, Ägypten, Fiji-Inseln, Ungarn, Myanmar, Mongolei, Nigeria, Singapur, Tajikistan, Trinidad & Tobago, Tanzania, Venezuela, aber auch UK und Amerika.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Ganze vorne sind die gestiegenen Kosten für die Datenerhebungen (vor allem in Amerika (inklusive Karibik), Afrika und Lateinamerika heraus) und Budgetkürzungen, aber auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie (vor allem in Latein-Amerika). Auf dem vierten Platz sehen die Experten die sinkende Teilnahmebereitschaft, die den Forschern das Leben schwerer macht.

Es gibt aber auch zahlreiche Gründe, die Umfrageforschung heute einfacher machen: Ganz vorne liegt aus der Sicht der Experten die zunehmende Verbreitung von Mobil-Geräten und der allgemeine technische Fortschritt.

Lesen Sie hier den zweiten Teil des Berichts zur "Freedom-Survey".

Zur Methode

Erhebungsmethode Online-Befragung
Befragte Zielgruppe Experten, die über den Status von Meinungsumfragen in dem jeweiligen Land Auskunft geben können. Zumeist waren dies Repräsentanten der Organisationen Esomar oder Wapor des jeweiligen Landes.
Rekrutierung Kontakte und Mailing-Listen der beiden Organisationen
Stichprobengröße n=157 Länder
Feldzeit Februar – Juni 2022
 

Über die Personen

Holger Geißler ist Geschäftsführer und Mitgründer des Smart News Fachverlag, der die beiden Branchenportal marktforschung.de und CONSULTING.de betreibt. Er ist außerdem Mitglied in der Geschäftsführung der succeet GmbH, Veranstalter der Leitmesse der Insight Industry.

Markus Grunwald ist Redakteur beim Smart News Fachverlag und Ansprechpartner für redaktionelle Themen auf marktforschung.de und CONSULTING.de.

Holger Geißler ist Geschäftsführer und Mitgründer des Smart News Fachverlag, der die beiden Branchenportal marktforschung.de und CONSULTING.de betreibt. Er ist außerdem Mitglied in der Geschäftsführung der succeet GmbH, Veranstalter der Leitmesse der Insight Industry.

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