Martins Menetekel Wie finde ich die Phasen einer Pandemie?

Seit einigen Wochen analysiert und prognostiziert Martin Lindner die Fallzahlen der COVID-19-Pandemie in Deutschland. Bekommen wir eine zweite große Welle? Die Erkenntnisse aus seinen Berechnungen wendet er nun auf aktuellen Zahlen in Deutschland an.

Ein Menetekel bezeichnet gemäß biblischer Überlieferung - in nicht immer leicht zu entschlüsselnder Weise - einen unheilverkündende Warnung oder einen Mahnruf. In dieser Tradition bietet diese Kolumne unseren mathematisch interessierten Lesern, und davon soll es in der Marktforschung ja viele geben, eine fortlaufende Analyse und Prognose der Corona-Epidemie mittels mathematischer Kurven und Formeln.

N(t) seien die kumulierten Fallzahlen der in der Pandemie in Deutschland gemeldeten Infizierten. Auch hier, wie in jedem Wachstumsprozess, nehmen wir an, dass die täglichen Zuwächse N(t) – N(t - 1) der Fallzahlen direkt proportional der Gesamtpopulation N(t) sind. Das ist stets nur eine erste Näherung, da die Lösung eine Exponentialfunktion M(t) = Abt ist, die ungebremst über alle Grenzen wächst.

Wenn der Prozess anfängt, mit kleinerem b zu wachsen, ist die Näherung zweiter Ordnung gegeben durch die Differentialgleichung

M'(t) = k*M(t)*(1 – L*M(t)) = k*(1 – L*M(t))*M(t) = M(t) -k*L*M(t)2

allgemeiner ist es

M'(t) = k*M(t) + p*M(t)2

Ist p > 0, so explodiert der Prozess und M(t) wächst in endlicher Zeit über alle Schranken, M wird unendlich groß, wie man etwas unmathematisch sagt.

p = 0 ist der exponentielle Fall und p < 0 betrachten wir. Wenn also p = -kL ist, so wird k jeden Tag um den Faktor (1 – L*M(t)) kleiner und damit das Wachstum schwächer. L kann sehr klein sein und am Anfang zur Approximation keine Rolle spielen.

Eine Lösung ist

M(t) = AS/(A + S/bt)

M(0) = AS/(A + S) 

Wird t immer größer, so wird S/bimmer kleiner, der Limes von M(t)  ist AS/A = S

Es ist A frei wählbar, b beschreibt das Verhalten des einzelnen Virus, das heißt seine Vermehrungseigenschaften, es ist b = exp(k), und S = 1/L die Limitierung. M(t) wächst monoton in Form eines langgezogenen S. Sobald LM(t) = 1 ist, wird M'(t) = 0 und der Prozess kommt zum Stillstand, aus die Maus. Es gilt für alle t, dass M(t) < S ist.

Wie bekomme ich heraus, wie groß A, b und S sind?

Jetzt kommt etwas Mathematik. Jeder kann das Übergehen, wenn er mir die Ergebnisse glaubt.

Auf M'(t) = k*M(t)*(1 – L*M(t)) wenden wir den natürlichen Logarithmus an und erhalten

ln(M(t) + ln(1 – LM(t)) = ln(M'(t)) – ln(k)

ln macht aus Produkten Summen!

Wir formen

M'(t) = k*M(t)*(1 – L*M(t))um und teilen durch M'(t) = k*M(t)*(1 – L*M(t)) und erhalten M'(t)/(M(t)(1 – L*M(t)) = k

M'(t)/(M(t)(1 – L*M(t)) = M'(t)/M(t) + LM'(t)/(1 – L*M(t)) (Partialbruchzerlegung)

M'(t)/M(t) = ln(M(t))' und LM'(t)/(1 – L*M(t)) = - (ln((1 – L*M(t))' und damit erhalten wir durch Integrationln M(t)) - ln((1 – LM(t)) = C + kt .

C ist eine Integrationskonstante und frei wählbar. Sie dient zum Anbinden an die reellen Fallzahlen. ln(M(t)) - ln((1 – LM(t)) = C + kt ist eine Gerade! Wenn man hierauf die Exponentialfunktion anwendet, erhält man direkt M(t) = AS/(A + S/bt) mit A = exp(C) und b = exp(k) und S = 1/L , so geht das!

Es kommt noch besser:

Zu 

ln(M(t)) - ln((1 – LM(t)) = C + kt addieren wir

ln(M(t) + ln(1 – LM(t)) = ln(M'(t)) – ln(k) und erhalten

2ln(M(t)) = ln(M'(t)) – ln(k) + C + kt oder

2ln(M(t)) - ln(M'(t)) = C – ln(k) + kt . Das ist eine Gerade ohne S.

Als Beispiel sehen wir uns die Geraden und Kurven einer Verhulstkurve M(t) an. Wir wissen, dass es Geraden sind.

Die obere grüne Gerade ist 2ln(M(t)) - ln(M’(t) . Die gibt es immer. Die unter rote Gerade ist ln(M(t) - ln(1 – M(t)/S) mit dem richtigen S , die andere ganz steile Kurve links hat das falsche S , grün war M(t) , darunter die Ableitung M’(t) und ganz unten M’’(t).

Ersetzen wir M(t) durch die Fallzahlen N(t) , so erhalten wir eine Zeitreihe 2ln(N(t)) - ln(N'(t)) , die wir durch die Gerade C – ln(k) + kt annähern können!
Umgekehrt wird auch ein Schuh daraus:
Wo die Zeitreihe 2ln(N(t)) - ln(N'(t)) einigermaßen wie eine Gerade aussieht, regiert Verhulst, und mit b = exp(k) und A = exp(C) habe ich schon zwei der Parameter. Mit Hilfe von C und k muss ich nun S = 1/L bestimmen und zwar so, dass ln(M(t)) - ln((1 – LM(t)) = C + kt erfüllt ist. Das mache ich wieder mit der Methode der Minimierung der Quadratabstände.

Ich fasse zusammen:

Ich bilde 2ln(N(t)) - ln(N'(t)) und erhalte C und k , wo diese Zeitreihe wie eine Gerade aussieht und nur dort erhalte ich damit aus

ln(N(t)) - ln((1 – LN(t)) = C + kt das L und das S = 1/L und M(t) = AS/(A + S/bt)

Das Problem: Ich benötige N'(t) !

Als Lösung hat sich bewährt N'(t) = (N(t+1) – N(t-1))/2 , das ist die Steigung der Sekante, die am Tag t den Punkt (t-1,N(t-1)) mit (t+1,N(t+1)) verbindet. Dieser Wert ist praktisch immer mit einem Fehler verbunden, der umso größer ist, je stärker die Kurve steigt oder fällt. Das habe ich an M(t) ausprobiert, aber in unserem Fall es ist ein ziemlich kleiner Faktor, etwa 1,0323. Dieser fällt beim Logarithmieren nur durch eine Verschiebung auf, ändert aber nicht k.

Wir wenden diese Erkenntnisse auf die Zahlen der Pandemie in Deutschland an:

Rot ist die obere Gerade ohne S darunter die zweite Gerade mit S. 2ln(N(t)) - ln(N’(t) ist noch keine sehr gute Gerade, ich habe sie aber dennoch approximiert, um eine angenäherte Annäherung zu bekommen:

In der derzeitigen Lage der Pandemie kann obige Kurve nur eine Referenzkurve sein. Aber so schlecht ist diese Approximation nicht. Die obere Schranke unser Fallzahlen liegt bei etwas über 303.000 Infizierten, die Zunahme der Fallzahlen pro Tag bei gut 2000, N’(t) noch knapp unter 2000. der Wendepunkt der roten Verhulstapproximation war am 9. September. Man weiß nicht, ob blau sich daran hält.

In einer Woche sehen wir mehr.

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Über den Autor:

Martin Lindner ist promovierter und habilitierter Mathematikprofessor im Ruhestand und beschäftigt sich intensiv mit nachhaltiger Wirtschaft und der Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Lebensformen. Zusätzlich hat er eine Ausbildung und auch Berufserfahrung in Wirtschaftsmediation.

Hier geht es zu den bisherigen Beiträgen von Martin Lindner:

  1. Was bedeutet der Knick nach oben?
  2. Die drei Phasen einer Pandemie, wenn es gut geht
  3. Die vierte Phase der Pandemie in Deutschland
  4. Pandemie im Griff oder große zweite Welle?
  5. Stand der Pandemie in Deutschland
 

Diskutieren Sie mit!     

  1. Thomas Wüstenfeld am 29.09.2020
    Herr Lindner,
    reicht wirklich die Betrachtung der absoluten Fallzahlen pro Tag ? Oder müsste man sie nicht auch in Relation zur Anzahl der Test (RKI weist Wochenzahlen) und deren Positivrate setzen.
    C-19 Tests pro Woche mit Anzahl der positiven Tests.
    Im März / April wurde deutlich weniger getestet mit deutlich positiver Testrate 9% (nur wer Symptome hatte wurde getestet). Im Moment sind knapp 1,2% der Tests positiv.
    IN der KW 14 wurden bei etwas mehr als 408.000 Tests 36.885 Infizierte in einer Woche gefunden. Aktuell in KW 38 bei 1,085 Mio Tests 12.917 Infizierte, d.h. bei rd. 2,7 mal mehr Tests pro Woche etwas mehr als 1/3 der Infizierten im Vergleich zum Höchststand KW14.
    Quelle: RKI 23.9.2020

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