Wider den "Heinzelmännchen-Fokus" in der Marktforschung: Joachim Rittchen im Interview

Joachim Rittchen (Roche Pharma AG, ESOMAR)

Joachim Rittchen (Roche Pharma AG, ESOMAR)

Joachim Rittchen ist Head of Market Analytics bei der Roche Pharma AG und ESOMAR Repräsentant für Deutschland. Im Gespräch mit marktforschung.de äußert er sich zur Datenschutzdiskussion, Google Customer Surveys und den negativen Einfluss von Schnelligkeitswahn und Kostenredutkion auf die Datenqualität. 

marktforschung.de: Herr Rittchen, Sie sind Head of Market Analytics bei der Roche Pharma AG und beim Marktforschungsverband ESOMAR Repräsentant für Deutschland. Wie eng korrelieren die beiden Aufgaben miteinander?

Joachim Rittchen: Beide Aufgaben sind eng miteinander verbunden, denn bei beiden geht es einerseits darum, den Mehrwert von Marktforschung aufzuzeigen und andererseits dazu beizutragen, dass es für Marktforschungsaktivitäten Werte und Regeln gibt die Qualität und korrekte methodische Vorgehensweisen absichern. Bei der Roche Pharma AG werden sehr hohe Ansprüche an Marktforschung gestellt. In meiner Verantwortung liegt es, regelmäßig über die Aktivitäten meiner Abteilung Bericht zu erstatten, die Güte der gewonnenen Erkenntnisse einzuordnen, um einen korrekten Umgang mit Ergebnissen und Zahlen zu gewährleisten sowie nachzuweisen, dass getätigte Investments auch zu sinnvollen und operationalen Daten geführt haben. Dabei ist neben der Einhaltung methodischer Standards sowie der Anwendung dieser Standards auf innovative Methoden auch die Einhaltung weiterer Regeln unabdingbar, beispielsweise in Bezug auf die Vorschriften des FSA-Kodex und insbesondere der Arzneimittelsicherheit.

Als ESOMAR-Repräsentant bin ich im Endeffekt mit denselben Themen sozusagen als "Botschafter" von ESOMAR unterwegs. Damit bin ich Teil eines globalen Teams, das sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Kernbotschaften von ESOMAR zum Mehrwert und Nutzen von Markt- und Meinungsforschung zu penetrieren. Hier geht es nicht zuletzt darum, die Sichtbarkeit unserer Industrie (und dabei auch von ESOMAR) zu erhöhen und aktiv zu einer starken Repräsentanz von Deutschland in der weltweiten Marktforschungs-Gemeinde beizutragen. Insgesamt gibt es 85 Repräsentanten rund um den Globus, die sowohl von Agenturen als auch, wie in meinem Fall, von der Seite der Endkunden kommen.

marktforschung.de: Welche Themen bestimmen derzeit Ihre Arbeit für ESOMAR?

Joachim Rittchen: Die Schwerpunkte der Arbeit variieren, umfassen aber typischerweise folgende Aktivitäten

  • Hilfe bei der Rekrutierung und Bestätigung neuer Mitglieder
  • Förderung und Verbreitung der Inhalte und Regularien des "ICC/ESOMAR Internationalen Kodex für die Markt- und Sozialforschung"
  • Rückmeldung zu nationalen Themen, Fragen und Bedürfnissen (z.B. Datenschutz, Rechtsprechung zu Marktforschung) an ESOMAR mit dem Ziel unterstützender Aktivitäten
  • Diskussion zu Entwicklungen in der internationalen Marktforschungs-Szene
  • Verbindung zu nationalen Marktforschungsverbänden und maßgeblichen Meinungsbildnern unserer Branche
  • Unterstützung bei lokalen Veranstaltungen

marktforschung.de: Chancen und Möglichkeiten, die sich aus neuen Technologien und Forschungsansätzen ergeben, liegen oftmals auf der Hand, implizieren aber stets Anpassungen in den Forschungsrichtlinien und Standards - exemplarisch sei hier der Bereich Social Media Forschung genannt. Wie geht ein internationaler Marktforschungsverband wie die ESOMAR damit um?

Joachim Rittchen: Die Position von ESOMAR als internationaler Verband und die weltweiten Beziehungen zu unserer Industrie bringen ESOMAR in eine einzigartige Position, um Chancen aber auch Probleme für unsere Industrie durch neue Techniken und Technologien zu identifizieren und zu verstehen. So wie sich die technologische Seite immer weiterentwickelt, arbeitet auch das Professional Standards-Team bei ESOMAR das gesamte Jahr über an der Prüfung und Überarbeitung unserer Richtlinien, Empfehlungen und Standards. Im Endeffekt ist das aber immer eine gemeinschaftliche Anstrengung: Jede Empfehlung und jeder Standard wird von einem Team aus Industrieexperten mit ESOMAR zusammengestellt. Dazu kommt eine umfassende Abstimmung mit anderen globalen und nationalen Verbänden.

Zur Zeit befindet sich eine Richtlinie zum Thema Meinungsforschung in der Beratung und eine Expertengruppe arbeitet an einem Update zur Richtlinie zu Mobile Research. Dieses Jahr steht auch noch das Update der Richtlinie zum Datenschutz sowie zur Qualität von Online-Stichproben an. Sie sehen, mit dem Anspruch, der Industrie und unseren Mitgliedern die aktuellsten und relevantesten Richtlinien an die Hand zu geben, hört für ESOMAR damit die Arbeit nicht auf.

marktforschung.de: Was haben Sie gedacht, als Sie das erste Mal von Google Consumer Surveys gehört haben? Hat sich Ihre Meinung zwischenzeitlich geändert?

Joachim Rittchen: Ehrlich gesagt war meine spontane Reaktion zunächst mehr als zurückhaltend. Das habe ich für mich allerdings sehr schnell korrigiert. Die Frage ist doch, welche Relevanz dieser neue Anbieter und seine Services unter Einhaltung etablierter methodischer und forschungsethischer Regeln gewinnen kann - und nicht das Verfallen in "Fundamentalopposition" oder den "Schmollwinkel". Wie bei allen Neuerungen muss der Blickwinkel sein, Neues dahingehend zu prüfen, wie es angewendet werden kann, ohne dabei das regulative Fundament unserer Industrie zu verletzten oder gar über Bord zu werfen. Weder starre Regulariengläubigkeit noch leichtfertiges Über-Bord-Werfen von Regeln helfen uns hier weiter. Außerdem müssen dann solche neuen Angebote mit bekannten und am Markt bewährten Services abgeglichen werden, mit dem Blickwinkel: Lässt sich hier substantieller Mehrwert generieren und wenn ja, worin liegt dieser begründet? Nur mit dem Nachweis entscheidenden Mehrwerts ist auch eine Anwendung sinnvoll und für mich verantwortbar. In Bezug auf Google bin ich deshalb zusammen mit meinem Team gerade genau in diesem Prüfungsprozess.

marktforschung.de: Worin sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen für die Marktforschungsbranche - einerseits aus Perspektive der betrieblichen Marktforschung, andererseits aus Verbandssicht?

Joachim Rittchen: In einer Zeit, in der in vielen Unternehmen betriebliche Marktforscher auf dem Rückzug sind und der Externalisierung oder dem DYI-Prinzip das Wort geredet wird, ist es aus meiner Sicht die zentrale Aufgabe unserer Industrie, den Mehrwert handwerklich sauberer Arbeit herauszustellen. Das wird auf der Seite der betrieblichen Marktforscher nur gehen, wenn man es schafft, seine internen Kunden davon zu überzeugen, dass bereits relativ kurzfristig eine Vorgehensweise, die im Unternehmen auf einem sauberen Briefingprozess und gemeinsamen strukturierten Nachdenken über die Aufgaben eines Projekts beruht, einer Herangehensweise nach dem Motto "Quick & Dirty" überlegen ist. Gerade strukturiertes Nachdenken und auch das Formulieren von Hypothesen zum Untersuchungsgegenstand machen manchmal erst deutlich, dass es an der Zeit ist, zur Beantwortung von Business-Fragestellungen methodisch neue Wege zu gehen und Neues auszuprobieren.

Der weiter anziehende Schnelligkeitswahn zusammen mit zunehmenden Kostenrestriktionen in unserer Branche tötet aber statt dessen nur zu oft solche an sich vorteilhaften Vorgehensweisen schon im Ansatz mit dem Effekt, dass lediglich "mehr vom Bewährten" produziert wird - mit allen Nachteilen beim späteren Gehalt der erhobenen Daten. Es ist allerdings nicht immer leicht, diese Diskussion zu führen und dabei zu bestehen, zumal gleichzeitig mit den Schlagworten Web2.0 und Big Data oftmals unreflektiert zwei geradezu magische Wörter auftauchen, mit denen sich nach Meinung mancher Gesprächspartner sozusagen alle Fragen im Handumdrehen und ohne die Mühen gemeinsamen Denkens lösen lassen.

Ich halte persönlich überhaupt nichts von dieser Art "Heinzelmännchen-Fokus" in der Marktforschung; ich bin mir andererseits aber auch sicher, dass man als betrieblicher Marktforscher hier nur mit sehr starken und innovativen Agenturpartnern punkten wird, mit denen zusammen sich der Mehrwert eines entsprechenden Aufwandes bei Marktforschungsprojekten dann auch hinterher im Gehalt der Daten niederschlägt.

Aus Verbandssicht kommen dann andere Herausforderungen hinzu. Dabei ist sicherlich das brennendste Thema im Rahmen der aktuellen Datenschutzdiskussionen und der Novellierungen entsprechender Regulierungen auf europäischer Ebene, wie hier das Privileg unserer Industrie zur Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten gesichert werden kann. Weiterhin funktionierende Selbstregulierungsmechanismen unserer Branche sowie deren Absicherung durch die bestehenden Kodizes und Richtlinien werden dabei eine entscheidende Rolle spielen. Weiterhin gilt es, die Wertschöpfung von Marktforschung im Sinne von Erkenntnisgewinn und Sicherung von Geschäftserfolg durch Bereitstellung relevanter Entscheidungsgrundlagen stärker herauszustellen.

Unsere Branche geht hier immer noch viel zu bescheiden in die öffentliche Diskussion - zu Unrecht, wie wir nicht nur bei ESOMAR glauben. Dies setzt andererseits natürlich einen noch weiter wachsenden Konsens darüber voraus, dass die Rolle des Marktforschers als reiner Datenversorger Geschichte ist. Nicht zuletzt mit unserem Weiterbildungsangebot möchten wir bei ESOMAR deshalb Perspektiven bieten, Knowhow aufzubauen, um die Relevanz der Funktion bleibend abzusichern. Und schließlich ist uns die "Nachwuchsförderung" ein echtes Anliegen. Über die Förderung junger Talente und die Bereitstellung einer Bühne für Showcases zu erfolgreichen Projekten und Forschungsarbeiten möchten wir dazu beitragen, unsere Branche als Betätigungsfeld attraktiv und interessant zu halten und ihr so eine erfolgreiche Zukunft zu sichern.

marktforschung.de: Wie offen sind Sie bei Roche für neue marktforscherische Ansätze und Methoden? Arbeiten Sie eher mit einem etablierten Set an Tools und Dienstleistern oder sind Sie stets auf der Suche nach Neuem?

Joachim Rittchen: Aus meinen bisherigen Antworten hat man vermutlich bereits ablesen können, dass neue marktforscherische Ansätze und Methoden bei Roche eine sehr wichtige Rolle spielen. Es ist dezidierte Aufgabe von mir und meinem Team dafür zu sorgen, dass beispielsweise Neuerungen aus dem FMCG-Bereich regelmäßig auf die Anwendbarkeit in der Health Care-Marktforschung und speziell auf die Forschungsfragen der Roche Pharma AG geprüft werden. Ich sehe mich hier deshalb in der glücklichen Lage, durch immer neue Fragen des Unternehmens ständig herausgefordert zu werden; das basiert auf einer Kultur der Wertschätzung für die Funktion einerseits aber auch des fairen Hinterfragens bisheriger Aktivitäten andererseits. Diese Diskussionen leiten dann, in der Sache hart geführt, zu so manchem Pilotprojekt über, mit dem wir Neuland betreten. Andererseits besteht unsere Arbeit aber nicht nur aus Neuerungen sondern umfasst Routinefragen, Trackings und sich wiederholende Aufgaben. Hier ist es gut, auf ein Netzwerk von etablierten Agenturpartnern zurückgreifen zu können, von denen man weiß, dass sie die Roche Pharma AG und die Fragestellungen unseres Unternehmens kennen und verstehen und dafür bewährte methodische Lösungen vorhalten.

marktforschung.de: Herr Rittchen, herzlichen Dank für dieses Gespräch!

 

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