Interview mit Dr. Steffen Schmidt, LINK Marketing Services AG "Wenn die Beratungskompetenz in der Marketingforschung nicht erhöht wird, werden Entscheider bald autonome KI-Bots für umfangreiche Marketingreports nutzen"

Dr. Steffen Schmidt vom Schweizer Link-Institut hält die Keynote auf der GOR23 in Kassel. Er spricht über die Entwicklungsphasen in der Marketingforschung und erklärt vorab im Interview, wie er während eines Flugs von Zürich nach New York City eine komplexe Conjoint-Studie von der Konzeption bis zur Auswertung durchführen könnte. Außerdem beschreibt er, wie sich die Marketingforschung durch KI und Augmented Reality zukünftig entwickeln wird.

Das könnte die Kollegin von Keynote-Sprecher Dr. Steffen Schmidt sein, die während eines Flugs von Zürich nach New York mal eben eine komplette Conjoint-Studie durchführt (Bild: picture alliance / dpa Themendienst | Klaus-Dietmar Gabbert). 

Bei Ihrem Vortrag auf der GOR 23 soll es um die Entwicklungsphasen der Marketingforschung gehen. Was soll der Blick in die Vergangenheit bewirken? 

Steffen Schmidt: Nun, erst einmal ist ein Rückblick hilfreich, eine Perspektive darüber zu erhalten, wie weit man als Branche gekommen ist, welche Herausforderungen bereits überwunden wurden, aber auch, welche Herausforderungen noch weiter bestehen bzw. neu dazugekommen sind. Gleichzeitig ist diesmal ein Rückblick spannend, weil wird dieses Jahr auch 25 Jahre GOR feiern dürfen. Ein mehr als gebührender Anlass, einmal zurückzuschauen, was alles bereits gelungen ist in den letzten Jahrzehnten. 

Inwieweit hat sich das Verhalten der Konsumenten und Konsumentinnen in den letzten drei Jahrzehnten verändert und was bedeutet dies für Unternehmen hinsichtlich ihrer Vermarktungsstrategie? 

Steffen Schmidt: Also, grundlegende Prozesse funktionieren nach wie vor gleich. Unser Gehirn ist als «informationsverarbeitende Maschine» mehrere tausend Jahre alt und da gilt es die nachhaltige Marketingwirkung zu entfalten.  

Primär implizit, sprich mehr oder weniger im Millisekundenbereich. Aber natürlich hat sich ein wenig die Dynamik, oder vielleicht besser die Dichte verändert. Der konsumierende Mensch ist vernetzter, informierter, ggf. auch etwas kritischer, aber gleichzeitig auch mit mehr mit Marketingmassnahmen analog und digital konfrontiert als jemals zuvor. Das führt dazu, dass die Aufmerksamkeitsspanne noch kleiner und damit wertvoller geworden ist. Die nächste Ablenkung ist nur ein Klick oder Blick entfernt. Am Ende bleibt vor allem der grundlegende Anspruch des Marketings bestehen: «Im Kopf und Herzen des Kunden denken und fühlen, Kopf und Herzen des Kunden ansprechen.»  

Das Spiel ist wesentlich schneller geworden, wie in anderen Bereichen auch, bspw. im Fussball, aber die Basisprinzipien sind die gleichen. Um erfolgreich zu sein, muss man professioneller als jemals zuvor werden. 

Welche aktuellen Trends zeichnen sich im Bereich des Marketings ab?  

Steffen Schmidt: Augmented Marketing ist, dank der rasanten Entwicklung von Künstlicher Intelligenz und Augmented Reality, der nächste Trend, der sich vermeintlich auch nachhaltig etablieren wird.  

Ich erwarte stark, dass mit der angekündigten Einführung des Mixed-Reality-Headsets Apple Vision Pro im Jahr 2024 der nächste Push ausgelöst wird.  

Aber schon jetzt können Konsumenten bspw. ihr Smartphone nutzen und mit der «erweiterten Realität» direkt erfahren bzw. sehen, wie gut ein Möbelstück in die eigene Wohnung passen würde.

Hier finden Sie mehr Informationen zur GOR 2023

Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen im Marketing? 

Steffen Schmidt: Diese Technologien ermöglichen in erster Linie ein tieferes Kundenverständnis, eine genauere und schnellere Vorhersage des Kundenverhaltens als auch eine systematische und ganzheitliche Automatisierung von Marketingprozessen. Dies führt am Ende zu effizienteren und wirkungsvolleren Marketingmassnahmen, bspw. bei der Entwicklung und Implementierung von Kommunikationskampagnen. 

Welchen Stellenwert nehmen Themen aus dem Bereich Corporate Responsibility im Marketing von Unternehmen heute ein? 

Steffen Schmidt: Corporate Social Responsibility ist ein grundlegender Pfeiler der Reputation eines Unternehmens, schon seit Jahrzehnten, wobei die Relevanz für bzw. die Wirksamkeit auf den Unternehmenserfolg von Marke zu Marke und Industrie zu Industrie unterschiedlich ausfallen kann. Manchmal hat CSR keinen oder kaum einen Einfluss, manchmal einen grösseren Einfluss.  

Wobei CSR gerne vereinfacht verstanden und gleichgesetzt wird mit den ökologischen Bestrebungen eines Unternehmens wie Minimierung des Ressourcenverbrauchs etc. Häufig ist es aber eher das soziale Engagement wie z.B. faire Löhne oder ökonomische Verantwortung wie langfristiges Investitionsverhalten, welche die CSR-Wahrnehmung eines Unternehmens bestimmen.  

Welche neuen Tools und Methoden haben sich im Rahmen der Digitalisierung für die Marketingforschung ergeben? 

Steffen Schmidt: Da könnte man sicherlich eine sehr umfangreiche Liste erstellen, sowohl auf der Erhebungs- als auch Analyseebene.  Wobei erwähnt werden müsste, dass diverse Tools auch vorher vorhanden gewesen sind, aber eben nicht einfach zugänglich und damit meistens entsprechend recht teuer.  

Aber vielleicht auf einer höheren Ebene zusammengefasst Tools, die eine Echtzeiterhebung und Echtzeitanalyse ermöglichen und über einfache deskriptive Statistiken (hoffentlich) hinausgehen.  

So kann ich heute in eine Boeing 777 von SWISS steigen und von Zürich nach New York City fliegen. Während der mehrstündigen Flugreise setze ich mittels automatisierten End-to-End-Plattformen wie quantilope und deren leistungsstarken Insights-Tools eine Studie auf, die bspw. ein Conjoint, MaxDiff und/oder Reaktionszeitmessung enthalten. Während der ersten Flugphase bis kurz nach Irland definiere ich das Design und setze es im Fragebogen um. Danach schliesse ich ein Online-Access-Panel an, erhebe die Daten, während ich rausschaue und aus 10'000m Höhe die Schönheit Grönlands bewundern darf. Kurz vor Neufundland fange ich mit der Analyse an und erstelle das Reporting in Form eines Online-Dashboards im Landeanflug auf den JFK-Flughafen.  

Alles eigenständig in ca. 6-7 Stunden, was früher Spezialsoftware, viele Prozessbeteilige und mehrere Wochen bedurft hätte. 

Welchen Herausforderungen muss sich die Marketingforschung Ihrer Meinung nach zukünftig stellen? 

Steffen Schmidt: Die Beratungskompetenz für das Marketing erhöhen. Das ist schon seit Ewigkeiten eine Herausforderung und einer der Gründe für den häufig geringeren Stellenwert der Marketingforschung im Unternehmen, obwohl die Marketingforschung eigentlich die Rolle des Intelligenzverstärkers bekleiden müsste.  

Wird dieser Herausforderung nicht endlich begegnet, dann nutzen Marketingentscheider eher schon heute als morgen autonome KI-Bots, die bspw. schon jetzt problemlos in wenigen Minuten sehr umfangreiche Marketingreportserstellen können. 

Wie wird KI die Marketingforschung in den nächsten Jahren verändern? 

Steffen Schmidt: Meine Einschätzung ist, dass wir eine Aufteilung in Informationsmanagerebene und Aktionsmanagerebene erfahren werden. Auf der Informationsmanagerebene geht es um die Entwicklung von KI-Modellen, welche die Entscheidungsunterstützung vorbereiten, bspw. welche Positionierung eine Marke einnehmen sollte.  

Auf der Aktionsmanagerebene geht es derweil um die Umsetzung, bspw. die KI-basierte Gestaltung einer Werbeanzeige, mit Key Visual, Claim etc., welche die entsprechende Positionierung einer Marke reflektiert. Für beide Ebenen braucht es im Kern eine Marketingforschung. Diese wird aber nur dann eine erfolgskritische Rolle einnehmen, wenn sie die bereits angesprochene Beratungskompetenz aufweist.

Welche persönlichen Erwartungen stellen Sie an die diesjährige GOR? Welche Themen sollten dort unbedingt aufgegriffen werden? 

Steffen Schmidt: Themen sind ja immer auch trendbedingt, was schnell zu einer Verzerrung führen kann, weil sich dann gerne darauf gestürzt wird, nur, weil der FOMO-Effekt gerade greift. Aber sicherlich sollte das Thema KI irgendwie präsent sein und ich würde mich auch freuen, wenn das Thema Augmented Marketing aufgegriffen wird.  

Unabhängig von Trends ist meine Erwartung nach weit mehr als 50 Konferenzbesuchen in den letzten 15 Jahren, dass die präsentierte Forschung eine evidenzbasierte Managementorientierung aufweist. Nur dann geht die Marketingforschung über eine Art privater Hobbyforschung hinaus, weil die gezeigten Ansätze, Lösungen und Insights für Unternehmen relevant sind.  

Täglicher Newsletter der Insightsbranche

News +++ Jobs +++ Whitepaper +++ Webinare
Wir beliefern täglich mehr als 9.000 Abonnenten
 

Über die Person

Dr. Steffen Schmidt ist Experte für Markenmanagement, Neuromarketing, Erfolgsfaktorforschung und Künstliche Intelligenz. Zurzeit arbeitet er als Director Marketing Science und Agile Insights bei LINK Marketing Services AG (a YouGov Company), der grössten Marketingforschungsagentur der Schweiz. Steffen berät weltweit Unternehmen in Fragen des Marketingmanagements und der Marketingforschung, insbesondere im Bereich des impliziten Marken- und Produktmanagements. Seine akademische Laufbahn begann er... mehr

Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

PREMIUM

YouGov Deutschland GmbH

Köln

YouGov Deutschland GmbH

50-100 Deutschland, 1000+ global

Über YouGov YouGov ist eine internationale Data and Analytics Group mit Hauptsitz in London und Niederlassungen in 22 Ländern…

Diskutieren Sie mit!     

Noch keine Kommentare zu diesem Artikel. Machen Sie gerne den Anfang!

Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.

Anmelden

Weitere Highlights auf marktforschung.de