Interview mit Patrick Lobacher Was wir vom Silicon Valley noch lernen können

Patrick Lobacher: Wir haben vor etwa zehn Jahren damit begonnen, uns mit agilem Projektmanagement zu beschäftigen und dies in ersten Projekten einzusetzen. Nach und nach haben wir nun eine Umgebung im +Pluswerk geschaffen, in der nahezu ausschließlich agile Projekte umgesetzt werden. Der Weg dorthin war nicht immer der leichteste und wir haben sicherlich auch einige Fehler gemacht – aber aus diesen schnell gelernt. Alles in allem hat sich der Weg aber mehr als gelohnt.
marktforschung.de: Können Sie die Vor- und Nachteile des agilen Vorgehens bitte kurz schildern – wo stößt zum Beispiel Scrum aus Ihrer Sicht an seine Grenzen?
Patrick Lobacher: Die Vorteile sind vielfältiger Natur: Durch die kurzen Iterationen und den Fokus auf ein inkrementelles Vorgehen erhält man innerhalb kurzer Zeit ein Produkt, welches potenziell sogar verwendbar wäre. Durch jede weitere Iteration kommen nun neue Funktionen hinzu. Sowohl für den Kunden, wie auch für den Dienstleister bietet dies eine optimale Vorgehensweise um Entscheidungen zu treffen – wenn es beispielsweise um Änderungen oder Ergänzungen geht. Ein weiterer Vorteil ist die geschützte Arbeitsweise des crossfunktionalen Teams. Da das Team über einen festgelegten Zeitraum ungestört an einer Sache arbeiten kann, erhöht sich die Produktivität erheblich. Zudem wird die Kommunikation innerhalb des Projekts bei einer agilen Arbeitsweise stark verbessert, da genau festgelegt wird, welche Informationen durch wen zu welcher Zeit wohin fließen müssen. Sehr positiv wirkt es sich im Übrigen auf das Projekt aus, dass viele Entscheidungen durch den Kunden und nicht auf Agenturseite getroffen werden. Der Kunde, in der Rolle eines Product Owner, hat neben der fachlichen Verpflichtung auch die der Priorisierung. Dies spielt zum Beispiel eine Rolle, wenn es darum geht, zwei verschiedene Wege gehen zu können. Die Priorisierung hilft hier die Entscheidung zum Wohle des Kunden zu treffen.
Nachteilig ist, dass eine agile Vorgehensweise erst bei Projekten mit einem bestimmten Volumen gut funktioniert. Die Schwelle liegt aus unserer Erfahrung bei rund 30 Projekttagen. Ähnlich ist dies beim Thema Support – wenn viele kleine Anfragen für verschiedene Projekte anfallen, kann man diese schlecht in ein agiles Projekt packen. Weiterhin lebt Scrum von der Zusammenarbeit und den Dynamiken des Teams. Aus unserer Erfahrung funktioniert dies bei verteilten Teams nur suboptimal. Daher ist eine räumliche Nähe definitiv zu forcieren. Nach oben existieren bei Scrum keinerlei Grenzen – es gibt durchaus Projekte mit vielen hundert Projektbeteiligten. Hier muss man vor allem sein Augenmerk auf die Architektur der Methode, den Reifegrad der Beteiligten und die Disziplin richten.
marktforschung.de: Welche Vorurteile gegenüber agilem Vorgehen begegnen Ihnen am häufigsten?
Patrick Lobacher: Im Wesentlichen gibt es meist drei Vorurteile: Das erste ist, dass "agil" meist als "schnell und ungeplant" interpretiert wird. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Allerdings wird nicht alles am Anfang geplant, sondern zu jedem Zeitpunkt exakt so viel, wie notwendig und sinnvoll ist. Die Planung wird zudem im Laufe des Projekts umfangreicher – so entsteht am Ende genau so viel Dokumentation wie mit klassischen Vorgehensmodellen.
Das zweite Vorurteil nennen die Kunden selbst – denn oft wird hier gemutmaßt, dass agiles Vorgehen deutlich teurer und unkalkulierbarer ist. Dabei ist auch hier das Gegenteil der Fall. Kosten und Aufwände werden exakt bestimmt – lediglich der Umfang wird nach jedem Schritt neu bestimmt. So fallen beispielsweise bei Änderungen am Anfang eventuell Tätigkeiten weg, die zum Ende des Projekts eingeplant werden. Da diese vom Kunden selbst mit einer niedrigen Priorität versehen sind, entsteht aber mit diesem Vorgehen keinerlei Schaden. Die Erfahrung zeigt: Agile Projekte sind kosten- und termintreu – ohne aber ein Risiko für den Kunden oder den Dienstleister entstehen zu lassen.
Das letzte und dritte Vorurteil betrifft die Zeit, die der Kunde mit dem Projekt verbringen soll. So denkt der Kunden oft, dass er deutlich mehr mit dem Projekt zu tun haben muss als bei klassischen Vorgehensmodellen. Aber auch das ist nicht der Fall. Es stimmt zwar, dass der Kunde für viele Meetings benötigt wird – aber diese sind immer streng zeitgesteuert und zudem für viele Wochen oder Monate im Voraus planbar. Da zudem der Aufwand auch im Laufe des Projekts nicht steigt, wie dies beispielsweise beim herkömmlichen Projektmanagement bei Bugs, Change Requests und Abnahmen der Fall ist, kann der Kunden seinen Zeitaufwand bereits am Anfang für das ganze Projekt einplanen.
marktforschung.de: Wie sehen Sie die Akzeptanz von agilen Tools auf Kundenseite?
Patrick Lobacher: Nach einer kurzen Umgewöhnungsphase erleben wir eine deutlich gesteigerte Akzeptanz von agilen Tools. Diese sind meist einfacher in der Bedienung und zudem intuitiver, da einiges an Komplexität in der agilen Welt komplett wegfällt. Beispielsweise gibt es kein projektübergreifendes Risikomanagement, die Ressourcenplanung fällt weg und auch das Changemanagement ist bereits in das Vorgehensmodell integriert und muss daher nicht separat adressiert werden.
marktforschung.de: Können Sie einen Unterschied bei der Akzeptanz von Seiten der Kunden hinsichtlich der Unternehmensgröße ausmachen?
Patrick Lobacher: Je größer das Kundenunternehmen ist, desto präsenter sind Prozesse wie Einkauf oder Beschaffung. Diese haben oft mit agiler Vorgehensweise weniger Berührungspunkte, sodass hier mehr Aufklärung notwendig ist. Mittlerweile arbeiten wir aber auch mit Konzernen oder gar öffentlichen Auftraggebern ausschließlich agil. Lediglich die Angebotsphase ist hier deutlich aufwendiger, Stichwort "Agiler Festpreis", als bei klassischem Vorgehen – der Aufwand am Anfang zahlt sich aber in jedem Fall aus.
marktforschung.de: Was können Ihrer Einschätzung nach Unternehmen in Europa von denen des Silicon Valley noch lernen?
Patrick Lobacher: Das Silicon Valley zeichnet vor allem drei Dinge aus: Disruptives Denken, Innovationskraft und konsequente Agilität. Aber nicht nur dies sorgt für den Erfolg. Unternehmen im Silicon Valley organisieren sich vorwiegend optimal in Hinblick auf das Geschäftsmodell und die Mitarbeiter um so das volle Potenzial zu nutzen. Zudem herrscht dort die Denkweise, dass man vieles erst einmal ausprobieren muss, um daraus zu lernen. "Scheitern" gehört dort zur Tagesordnung, weil man oftmals nur daraus die notwendigen Erkenntnisse gewinnen kann, um das Geschäftsmodell evolutionär weiterzuentwickeln. Und nicht zuletzt zeichnet sich das Valley auch für den Mut und die Adaptionsgeschwindigkeit aus – beides fehlt oft in europäischen Unternehmen.
marktforschung.de: Wenn Sie einen Ausblick auf die nächsten zehn Jahre wagen, in welche Richtung sehen Sie Weiterentwicklungsmöglichkeiten des agilen Vorgehens?
Patrick Lobacher: Hier wird es sicherlich zu einem generellen Wandel in allen Firmen kommen, die das klassische Organisationsmodell in ein agiles wandeln (müssen). Während Scrum heute hauptsächlich in der Produktentwicklung und hier vorwiegend im IT-Bereich zu finden ist und Innovationsmethoden wie Design Thinking oder Lean Startup punktuell entdeckt und angewandt werden, wird in Zukunft eine ganze Organisation agilisiert werden. Strategieentwicklung, HR, Finance, Management (Agile Leadership, Management 3.0), Mitarbeiterführung & Zielmanagement (Objectives & Key Results – OKR) sind nur einige der Bereiche für die es bereits heute funktionierende und vor allem erprobte ganzheitliche Konzepte gibt. Zudem wird "Agilität" noch mehr als bisher mit Ansätzen aus dem Lean verknüpft werden und durch neue Erkenntnisse weiterentwickelt. Der Mensch, sowohl der Kunde wie auch der Mitarbeiter, wird zudem noch weiter ins Zentrum der Agilität rücken.
marktforschung.de: Eine persönliche Frage zum Schluss: Wie technisch-affin sind Sie privat? Stichworte: digitale Sprachassistenten, Video-Streaming-Angebote oder könnten Sie sich vorstellen das Autofahren zukünftig einem Autopiloten zu überlassen?
Patrick Lobacher: Tatsächlich trifft alles oben Genannte zu. Ich hatte beispielsweise das erste iPhone direkt am Tag der Veröffentlichung besorgt und kaufe nahezu alle technischen Gadgets, sobald sie erhältlich sind: Tablet, Apple Watch, Alexa, Home-Automation-Geräte & Co. erleichtern mir die tägliche Arbeit, bringen Spaß und helfen mir die Welt von morgen zu verstehen. Denn auch wenn einige der Features, wie zum Beispiel der Sprachassistent Siri, noch oft sehr unbeholfen daherkommen, so bin ich fest davon überzeugt, dass Interfaces in Zukunft hauptsächlich über Sprache bedient werden. Bücher lese ich oft über Kindle Unlimited, Musik höre ich über Spotify und Apple Music und Filme schaue ich über Amazon Prime und Netflix. Hier glaube ich ebenfalls, dass der Konsum von Medien mehr und mehr in nutzungsbasierte Modelle übergeht – selbiges kündigt sich im Software-Bereich ja auch schon an. Und in nicht allzu ferner Zukunft werden Autos, aber auch Flugkörper uns autonom von A nach B bringen – ohne dass man eines davon selbst besitzen muss. Besonders freue ich mich auch schon auf den Durchbruch der Virtual beziehungsweise Augmented Reality als alltagstaugliche Technologie.
Das Interview führte Dorothee Ragg.
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