Was man als Marktforscher in China über Essen wissen sollte
Von Matthias Fargel
"Habt Ihr schon gegessen?" So hatte uns meine Schwiegermutter zu jeder Tageszeit begrüßt; sei es am Telefon oder bei Besuchen. Ein besonders herzlicher Gruß unter Verwandten und besten Freunden. Jedoch ist man so begrüßt nicht unmittelbar zum Essen eingeladen. Vielmehr signalisiert man mit dieser Formel die grundsätzliche Bereitschaft, alles Lebenswichtige mit dem so Begrüßten als engen Vertrauten, als „jia ren“ (siehe Artikel zu „guanxi“: "jia rén“ 家人) zu teilen, bis zur letzter Schale Reis. Gemeinsam das Essen zu teilen, wörtlich und bildlich, ist eines der essentiellen, immer wiederkehrenden Verhaltensmuster in China.
In der Volksrepublik China festigte Mao Tsedong seine Macht erfolgreich in der industriellen Arbeiterklasse durch die Politik „der eisernen Reisschale“. Reisschalen sind traditionell aus Ton oder Porzellan, zerbrechlich – und deren Inhalt stets gefährdet. Die „eiserne Reisschale“ hingegen war unzerbrechlich; ein tiefgründiges und überaus populäres Bild von Fürsorge der CCP (kommunistischen Partei Chinas) für jeden, unabhängig von Können, Leistung und Rentabilität. Diese Politik garantierte Arbeitsplatz, Wohnraum, ärztliche Versorgung auf einfachstem Niveau – und natürlich Essen. Bis dieses System im Zuge weiterer Privatisierungen in der Wirtschaft ab 1997 schrittweise abgebaut wurde.
Nach landesüblicher Vorstellung geht das individuelle Wohlbefinden von der Körpermitte* aus. Gleichgewicht in der Körpermitte schafft die Grundlage für Wohlbefinden. Dem Ying-Yang Prinzip der sich gegenseitig ausbalancierenden Kräfte entspricht die Unterscheidung aller Lebensmittel in „kalte“ und „heiße“ Speisen. Dabei ist nicht deren physikalische Temperatur, sondern deren Wirkung auf die ganzheitliche Balance nach den Regeln der TCM (traditionellen chinesischen Medizin) ins chinesische Gesundheitsbewusstsein eingemeißelt.
Gutes Essen im chinesischen Sinne muss mehr können, als schmecken: Es berücksichtigt auch die Prinzipien der TCM und der sozialen Einbindung. Chinesisches Essen hält Leib, Seele und die Gesellschaft zusammen.
Erst wer begreift, wie tief verwurzelt das chinesische Bedürfnis nach Sicherheit im weiteren Sinne ist, mit dem geregeltem Essen als innersten Kern, wird verstehen, mit welcher Wucht sich Störungen an diesem Prinzip auswirken. Nicht Menschenrechtsverletzung, Zensur oder Korruption dominieren die öffentliche Aufmerksamkeit Chinas, sondern Lebensmittelskandale. Ungenießbares Leitungswasser, aus Abfällen aufbereitetes Ekelspeiseöl, verunreinigtes Babymilchpulver, marodes Schweinefleisch, Fuchs- und Eselfleischreste in Fertiggerichten, Schwermetall belastetes Gemüse, unzureichende Hygienekontrollen, mangelnde Qualitätsstandards in der Lebensmittelproduktion und toxische Primärverpackungen – das bewegt inzwischen fast jeden Chinesen. Denn diese Skandale gefährden erneut das Gefühl der Sicherheit, wie früher die Hungerkatastrophen oder einst die Abschaffung der eisernen Reisschale. Diesmal sind nicht primär nur ärmere Schichten verunsichert, sondern auch die neue Mittel- und Oberschicht.
Die Suche nach besseren Lebensmitteln löst eine Kaskade an Verhaltensänderungen bei Verbrauchern aus. Auf Lebensmittelsicherheit spezialisierte Blogs und Foren haben Hochkonjunktur, siehe z.B. „Throw it out of the window“, mit knapp 6 Mio. Klicks im ersten Halbjahr 2012. Restaurants und Systemgastronomie werden zunehmend nach Hygieneanmutung ausgewählt; Milliarden schwere Haushaltsausgaben gehen in Richtung sicherer vermutete Produkte. Reiche Chinesen verlegen auch aus solchen Gründen ihre Wohnsitze und Familien nach Kanada, USA oder Australien (siehe Artikel zu Auslandschinesen).
Zeitgleich rücken weitere Trends in Chinas Esskultur ins Visier der Marktforschung. Vermutlich zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte wird Übergewicht zum öffentlichen Thema und zum weiteren Auswahlkriterium bei der Ernährung. Je nach Zielgruppe, Erhebungsmethode und klinischem Maßstab gelten 20-34% der Bevölkerung zwischen 20-69 Jahren als übergewichtig; tendenziell vermehrt in Großstädten, unter Jüngeren und Männern. Das klingt fast wie eine Erfolgsmeldung nach der ebenfalls von Mao ausgelösten Hungerskatastrophe 1957 bis 1961 auf dem Land, als Folge des „großen Sprungs nach vorne“. Wie in den Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders, hat die neue chinesische Mittelschicht ihren wachsenden Wohlstand wörtlich zum Fressen gern. Seit Jahren geht im Lebensmittelverbrauch der Anteil der Grundnahrungsmittel wie Reis und Nudeln zurück und nimmt die Quote aus tierischen Proteinen zu. Großeltern und Eltern lassen ihre Liebe zum spärlichen Nachwuchs (Stichwort: Ein-Kind-Familie) durch dessen Magen gehen. Für die Jüngeren Limonade, für die Erwachsenen Bier und Wein; sie bedrängen als westliche Statussymbole den herkömmlichen Tee und abgekochtes Wasser beim Essen.
Ein geruhsames Frühstück in idyllischer Familienrunde, wie es die Werbung bebildert, gehört in die Sammlung der fantasievollen chinesischen Märchen. Bei vollberufstätigen Eltern und langwierigen Wegen zur Arbeit oder Schule ist morgendliche Frühstücksmuße zu Hause allenfalls das Privileg der Rentner ohne Großelternpflichten. Die meisten Chinesen kaufen etwas zum flüchtigen Frühstück auf dem Weg zur Arbeit vom Straßenhändler, Kiosk, Supermarkt oder in der Systemgastronomie. Ein warmes Mittag- und Abendessen sind ihnen wichtiger.
Seit Mao’s Zeiten spielen die Betriebskantinen, Schulspeisungen und Mensen eine herausragende Rolle in der Volksernährung. „Lunchboxes“ wie die indischen Tiffins sind unbeliebte Attribute der mittellosen Land- und Bauarbeiter. Noch heute erwarten chinesische Arbeitnehmer als Teil ihrer Vergütung ordentliches Kantinenessen umsonst, bezuschusst oder Essensgutscheine für einen warmen Mittagsimbiss, im Restaurant, Teehaus oder von einer Garküche. Kinder lernen schon in den Kindergärten und Schulen das gemeinsame warme Mittagessen. Neben der Speise selbst gehört das Zusammensitzen und Plaudern zu einem geglückten Lunch. Hinzugekommen sind Snacks und Fertiggerichte für Zwischenmahlzeiten – siehe Übergewicht.
„Getting rich and eating out“ hat sich in China als weiteres Statussymbol (siehe Artikel zu “Mianzi”: face consumption) etabliert. Wer es sich leisten kann, bewirtet in einem Lokal auswärts; um sich selbst zu belohnen, um Freunde zu beeindrucken – oder um etwas für die Guanxi-Pflege zu tun. – Übrigens, seitdem die neue chinesische Staatsführung unter Xi Jinping und Li Keqiang eine härtere Linie gegen Korruption propagiert, sollen nach Presseberichten die Umsätze der Luxusrestaurants im Beijing und Shanghai bis um ein Drittel, im Vergleich zum Vorjahr, zurückgegangen sein.
Die Tendenz zum „FAFH“ (Food away from home) wird von folgenden Treibern getragen: „Convenience“, Zeitersparnis für Einkauf und Kochen, Spontaneität und Mode. Ausländisch orientierte Lokale und Systemgastronomie locken jene Chinesen, die sich gern weltoffen und modern geben.
Laut „Euromonitor International“ 30.4.2012 sagen 43% der chinesischen FAFH Nutzer, dass sie selbst nicht/nicht gut kochen können. Das sind zuverlässige, langfristige Wasserströme auf die Mühlen der Convenience-Food Hersteller. Verstärkt wird dieser Trend durch Zunahme von Single-Haushalten in den Metropolen; jüngere, erfolgreiche Berufstätige, die es sich leisten können, von Zuhause auszuziehen und sich ohne Partner und Familie autonom zu versorgen.
Doch auch Singles essen zumeist lieber in Gesellschaft als alleine. An den chinesischen Tischregeln und deren Anwendung bzw. Vernachlässigung kann man auch die Geltung anderer traditioneller Gesellschaftswerte bei den Tischteilnehmern ablesen: „Sag mir, mit wem und wie Du isst, und ich sage Dir, wer Du bist...“
Fazit für die Marktforschung
China hat 2011 die USA als weltweit größten Lebensmittelmarkt überflügelt und wird auf absehbare Zeit diese Führungsposition noch weiter ausbauen. Chinas Küche ist äußerst diversifiziert; die Essgewohnheiten und Präferenzen weichen zwischen den geographischen Regionen erheblich voneinander ab. Jüngere goutieren durchaus ausländische Küche, auch wenn diese dem lokalen Gusto angepasst und nach chinesischen Kriterien beurteilt wird.
Die Sorge um Lebensmittelqualität spielt Markenprodukten mit besonderem Vertrauenspotential in die Hände. In Chinas östlichen Metropolen profitieren ausländische Marken besonders vom Misstrauen in heimische Erzeugnisse. In den westlichen Provinzen Chinas kann das umgekehrt gelten.
Die spezifischen Dimensionen für Marktforschung in China zu Lebensmittel sind glaubwürdige Qualitätsversprechen im Hinblick auf Inhalt, Ursprung, Verarbeitung und Verpackung; Gesundheit im chinesischem Verständnis, Convenience und Prestige. Chinas Konsumenten sind preisbewusst, wobei die Kriterien für Preis/Leistung zielgruppenspezifisch zu ermitteln sind. Die für die Marktforschung entscheidenden Funktionen wie Kaufentscheidung, Bezahlung, Verarbeitung, und Verzehr der Lebensmittel in den Mehrgenerationenhaushalten entfallen auf verschiedene Personen. Die bei uns übliche, kostengünstige Befragung der haushaltsführenden Person allein greift i.d.R. zu kurz. Während Frühstück und Mittagessen oft außer Haus erfolgen, bleibt das gemeinsame warme Abendessen zu Hause die Hauptmahlzeit.
Essen in China ist eng mit sozialen Gepflogenheiten verbunden. Alleine Essen ist noch immer die Ausnahme. Gerade bei Studien zum Essen bietet sich eine indirekte, auf die Beobachtung anderer abzielende Befragungstechnik an.
Zum Schluss
Wenn eines Tages einer Ihrer chinesischen Geschäftspartner oder Bekannten Sie mit 你吃了吗?"ni chi le ma ?" ("Hast Du schon gegessen?") begrüßt, sind Sie wahrscheinlich im Kreis seiner engten Freunde angekommen; mit allen Privilegien - und mit allen Pflichten.
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* Mit der „Mitte“ hat es in China mehrfach so seine besondere Bewandtnis; ich werde das in einem anderen Artikel beleuchten.
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