Kolumne von Rochus Winkler Was heißt es für die Marktforschung, wenn der Kühlschrank die Milch kauft?

Das Geschäft der Marktforschung ist es, die Motivationen von Konsumenten zu erfassen und zu verstehen. Im Idealfall geben die so gewonnenen Insights dem Marketing die Möglichkeit, Dienstleistungen und Produkte noch besser auf die Bedürfnisse der Kunden zuzuschneiden. Das Fundament des ganzen Gewerbes ist die Vorstellung eines autonom handelnden Subjekts, das Entscheidungen trifft, die sich begründen lassen und die man beeinflussen kann.

Dieses bewährte Setting steht allerdings vor einer Umwälzung, mit deren Folgen sich weder Unternehmen noch Marktforscher bisher ernsthaft auseinandergesetzt haben. Die Revolution lässt sich auf eine Frage zuspitzen: Was ist, wenn nicht mehr der Konsument, sondern der Kühlschrank die Milch kauft?

Wer aufmerksam die Nachrichten verfolgt, wird eine Fülle von Meldungen erinnern, die auf den ersten Blick wie die üblichen, technologiebegeisterten Berichte über Neuentwicklungen wirken. Google entwickelt das selbstfahrende Automobil, auf deutschen Autobahnen war der erste selbstfahrende Lastwagen erfolgreich unterwegs. Amazon führt einen Service ein, bei dem fehlende Haushaltswaren automatisch nachbestellt werden.

Und wir alle haben uns via Smartphone mit einer Fülle von Anwendungen umgeben, die unser Leben mit sicheren Leitplanken versehen – körperliche Betätigungen werden erfasst, Termine werden nicht nur frühzeitig gemeldet, sondern auch noch mit Hinweisen für die Anfahrt versehen, ohne dass man danach fragen muss.

Künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge – das sind die Schlagworte, die in diesen Berichten üblicherweise zu finden sind. Sie verdecken allerdings das entscheidende Merkmal dieser Revolution, die bereits in vollem Gange ist: Der Mensch ist nicht mehr Herr im eigenen Hause. Das ist sogar wörtlich zu verstehen, wenn in den so genannten "Smart Homes" die Algorithmen besser wissen als der Bewohner, wann es Zeit ist, die Heizung anzustellen.

Natürlich, so mag man jetzt einwenden, kann der Mensch in letzter Instanz immer noch den großen Aus-Schalter betätigen und wieder vollends die Kontrolle über sein Dasein zurückerobern. Aber wie realistisch ist dies in Alltagssituationen tatsächlich? Wer schaltet, wenn er in einer fremden Stadt Auto fährt, freiwillig das Navigationssystem ab, weil er das Gefühl hat, die Strecke selbst besser zu kennen? Wer fragt noch an einer Tankstelle nach dem Weg?

So, wie das Smartphone als Gerät in den vergangenen Jahren sich tief in unser Leben eingegraben hat und als Erweiterung unserer Person, unseres sofort verfügbaren Wissens und unserer Sinne nicht mehr wegzudenken ist, so sind auf der nächsten Entwicklungsstufe die autonomen, uns steuernden und kontrollierenden Anwendungen vermutlich ebenfalls ein elementarer Bestandteil des Alltags – vielleicht noch nicht in fünf Jahren, aber in zehn.

Was aber heißt dies für die Marktforschung?

Dazu drei Thesen:

  1. Zunächst einmal bedürfen die neuen Anwendungen und Lösungen ebenfalls eines effektiven Marketings, um die Konsumenten zu überzeugen. Es wird also eine Fülle neuer Produkte geben, für die allerdings ganz neue Regeln gelten. Wenn dereinst in den Autohäusern tatsächlich selbstfahrende Automobile zum Verkauf stehen, wird dies das Marketing zu einem völligen Umdenken bewegen müssen, weil die Werte von Freiheit und Autonomie zumindest nicht mehr in der bisher gewohnten Form ausgelebt werden können, sobald man ein Google-Auto besteigt. Einfach mal Gas geben, das ist nicht mehr. Allerdings bewegen wir uns hier immer noch auf den klassischen Terrain der Marktforschung, die ihre Methoden lediglich auf neue Produkte und veränderte Rahmenbedingungen anzuwenden lernen muss. Eine lösbare und sogar spannende Aufgabe, sollte man meinen.

  2. Wie aber ist es um den psychologischen Kollateralschaden dieser Produkte bestellt? Was genau geht im Konsumenten vor, wenn er zur Kenntnis nehmen muss, dass nicht er, sondern der Kühlschrank die Milch bestellt? Wer sagt dem Kühlschrank, welche Milch gewünscht ist? Wer sagt, was gekauft werden soll, wenn das Standardprodukt nicht verfügbar ist? Wer sagt, wie auf Sonderangebote reagiert werden soll? Es gehört nicht viel Fantasie dazu, vorherzusehen, dass eine solche Fremdbestimmung beim Konsumenten große Ängste auslöst – selbst wenn der Anbieter einer solchen Lösung garantieren sollte, dass dem Kunden durch deren Anwendung nur wirtschaftliche Vorteile entstehen (es wird garantiert immer die günstigste Milch gekauft, um bei dem Beispiel zu bleiben). Der Mensch handelt eben nicht nur als lupenreiner Homo oeconomicus. Hier werden Urängste von Entmündigung und Unterwerfung unter eine Maschinenwelt heraufbeschworen, die zumindest aus heutiger Sicht marketingtechnisch kaum in den Griff zu bekommen sind.

  3. Interessanterweise – und dies ist bisher kaum zur Kenntnis genommen worden – rüttelt diese Entwicklung aber auch an den Grundfesten der gesamten Konsumwelt. Der Mensch definiert sich durch eigene Handlungen, insbesondere auch in der Konsumwelt. Wenn Algorithmen einen Großteil der Entscheidungen übernehmen, bleibt da eine große Leere. Wie kann die gefüllt werden? Hat der Konsument tatsächlich den Mut, die etablierten materialistischen Pfade hinter sich zu lassen und sich auf die Suche nach neueren, noch nicht erschlossenen Möglichkeiten zu begeben? Das wäre spannend, auch für die Marktforschung. Auf jeden Fall wäre es besser, als wenn die Menschen sich zum Dackel der Algorithmen entwickelten.

Zur Person:

Rochus Winkler, Managing Partner bei concept m (Bild: concept m)
Rochus Winkler, Managing Partner bei concept m (Bild: concept m)
Rochus Winkler ist Managing Partner bei concept m research + consulting.

  • Seit 1999 in der Morphologischen Markt- und Medienwirkungsforschung sowie der strategischen Beratung tätig
  • Gesellschafter seit 2008 (Gründungsjahr)
  • Lehrauftrag an der Hochschule Fresenius unter anderem zu "Marketing" und "Pharma Ökonomie" (2014)
  • Arbeitsschwerpunkte: nationale und internationale Forschung in diversen Branchen, z.B. FMCG, Food & Beverages, Dienstleistungen, Medien, Telekommunikation, Energie, Mode, Electronics, Handel, Pharma, B2B, kulturpsychologische Fragestellungen
  • Vortragsreferent bei Branchenkongressen und Marketing-Fachtagungen und Gastdozent an Hochschulen
  • Grundlagenforschungen und zahlreiche Publikationen zur Markt-, Medien- und Kulturpsychologie in Fachzeitschriften
 

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