Tom Ewing, Brainjuicer Warum die Briten die EU verlassen

Vor ein paar Wochen war ich auf einer Preisverleihung und der Brexit war in aller Munde. "Was sagt ihr voraus?", fragte einer der Menschen an unserem Tisch. Und wir machten die Runde: bleiben nur knapp drin. Bleiben sicher drin. Bleiben. Die Frage kam zu mir und ich antwortete: "Ehrlich gesagt, glaube ich, wir werden die EU verlassen." Das ist keine persönliche Präferenz, fügte ich hinzu: "Ich bin 100 Prozent für Remain. Aber das Leave-Lager hat die Energie und sie haben eine Geschichte. Und diese haben sie in den Köpfen der Wähler verankert."
Traurigerweise sollte ich Recht behalten. Ich werde nicht vorgeben, unparteiisch zu sein, aber ich kann hoffentlich eine neutrale und nützliche Analyse liefern, wie es passiert ist. Aus dem Blickwinkel der Verhaltenswissenschaften, wie wir sie bei BrainJuicer in der Marktforschung anwenden, können wir die Situation analysieren, um zu einer Antwort zu kommen, warum der Brexit tatsächlich passiert ist.
Der erste Punkt ist, dass es einfach nicht hätte geschehen dürfen. Menschen haben eine angeborene Vorliebe für den Status Quo. Das Vertraute gibt ein gutes Gefühl, in diesem Fall also die EU, da die Briten seit 43 Jahren Mitglied gewesen sind.
Ein Blick auf das Alter zeigt ein starkes Remain unter den jungen Menschen. Ein bevorzugtes Leave unter den Alten – man kann sich fragen, ob ein Rest von verlorener Vertrautheit an die Oberfläche sprudelte, eine frühere Version von Großbritannien, die als unverwechselbare Erinnerung unter den älteren Generationen verweilt haben könnte.
Trotzdem ist es schwer, den natürlichen Hang zum Status Quo zu überwinden, weshalb die Buchmacher und Wettmärkte immer die klare Tendenz zu Remain hatten, auch wenn die Umfragen auf ein weit engeres Ergebnis hindeuteten. Wie hat Leave es also geschafft zu gewinnen?
Menschen treffen Entscheidungen, indem sie ihr schnelles, intuitives System 1 nutzen. Während der Kampagnen, vor der Entscheidung zum Brexit, führten wir eine experimentelle Studie durch und fragten Menschen in Großbritannien unter Zeitdruck, ob sie Leave oder Remain wählen würden und gaben ihnen nur ein paar Sekunden Zeit für ihre instinktive Wahl, anstatt eine durchdachte "System 2"-Entscheidung zu erfassen. Die Ergebnisse waren 54 Prozent für Leave und 46 Prozent für Remain. Die Leaver trafen ihre Entscheidung dabei sogar noch schneller als die Remainer, was auf eine fest verankerte, instinktive Wahl hindeutet.
Menschen verwenden System 2 als eine Möglichkeit zur Sicherung ihrer instinktiven Entscheidungen. Wir sahen dies oft in den Kampagnen, als Remain einen Experten nach dem anderen hervorbrachte, um für den Verbleib in der EU zu sprechen und Leave diese zerriss oder ignorierte. Denken Sie zum Beispiel an eine Organisation wie den Internationalen Währungsfond. Wenn Sie instinktiv für Remain sind und diese Instanz sagt, Leave wird eine Katastrophe sein, dann bestätigt dieses Ihr System 2 auf Basis seines Wissens in Wirtschaft und Ökonomie. Wenn Sie jedoch instinktiv für Leave sind, und ihr Bauchgefühl Ihnen sagt, nicht an die IWF-Warnungen zu glauben, so kann Ihr System 2 Beispiele dafür nennen, dass diese Warnungen falsch sind. Die Leave-Anführer waren sehr schnell und sehr gut mit Gegenargumenten, die das rationale System 2 der Unterstützer in dem bestätigte, was sie glauben wollten.
Aber wenn man mit einer Strategie erfolgreich sein will, muss das System 1 an erster Stelle stehen. Entscheidungen haben drei große Hebel – im Branding, in der Politik und überall sonst. Wir nennen sie Fame, Feeling & Fluency. Kommt eine Entscheidung leicht in den Sinn (Fame)? Dann ist es eine gute Entscheidung. Fühlt sich eine Entscheidung gut an (Feeling)? Dann ist es eine gute Entscheidung. Ist eine Entscheidung leicht zu erkennen und zu verstehen (Fluency)? Dann ist es eine gute Entscheidung.
Der Status Quo hat üblicherweise einen Vorteil beim Fame. Referenden sind in der Regel pro etwas Neues und damit versus den vertrauten Status Quo. Das war ein Grund, warum die Yes-Seite beim alternativen Wahlrechtsreferendum 2011 unterging. Im Falle des Brexit stand aber das EU-Referendum fast ein Jahrzehnt auf der britischen Tagesordnung und war als Idee damit bereits vertraut – so kamen beide Optionen, Leave oder Remain, leicht in den Sinn.
Feeling ist dagegen stärker umkämpft. Die Remain-Kampagne begann schon mit einem Nachteil: Die Briten haben noch nie viel positive Gefühle oder gar Liebe für die EU empfunden, für all das Gute, was die EU für sie getan hat. Dagegen konnte leicht an andere starke Emotionen appelliert werden, wie zum Beispiel die Angst der Menschen durch die Folgen des Brexits.
Projekt Angst, wie die Leave-Seite es nannte, war geboren. Aus Sicht der Verhaltensökonomie war das Projekt Angst durchaus zu empfehlen, denn Angst führt zu Vorsicht, das heißt man denkt eher zweimal über Optionen nach und genau das sollte eigentlich den Erhalt des Status Quo, also Remain, stärken.
Aber bei der Entscheidung zum Brexit hat das Projekt Angst aus zwei Gründen nicht funktioniert. Erstens wurde die Angst beim Namen genannt und versucht, sie mit aller Gewalt den Menschen einzubläuen. So wurde die Remain Kampagne zur Panikkampagne. Zweitens bekämpfte der inoffizielle Flügel der Leave-Befürworter, Nigel Farage, Angst mit Angst, indem er Einwanderung als seine Waffe nutzte. Das Schüren der Ängste von der Leave-Seite war genauso unverantwortlich wie das von der Remain-Seite. Aber zu diesem Zeitpunkt war die Geschichte schon geschrieben: Remain war der Angstmacher.
Was ist aber mit den positiven Emotionen geschehen? Um Menschen bei einer Entscheidung ein gutes Gefühl zu geben, hilft es, eine starke Geschichte zu erzählen und hier hatte die Leave-Kampagne einen weiteren Vorteil. Als wir uns mit den archetypischen Geschichten rund um Großbritannien und den Kampagnen beschäftigten, zeigte sich ein sehr knappes Ergebnis. Die positivste Geschichte – die von einer "starken und fairen Wirtschaft", die individuellen Wohlstand garantiert – schien außer Reichweite beider Kampagnen. Im Nachhinein unterstreicht es noch einmal die Stärke von Leave, da die konventionellen Umfragen einen deutlichen wirtschaftlichen Vorteil bei Remain zeigten. Aber sie haben es nicht geschafft, Remain in eine glaubhafte Geschichte zu verwandeln, um den Menschen in Großbritannien ein gutes Gefühl zu geben.
Leave hatte inzwischen eine starke Geschichte: "Die Kontrolle zurückgewinnen". Ihre stärkste Geschichte im archetypischen Begriff – Wiedergeburt, über das Lernen aus Fehlern und den Neuanfang – verwandelte sich in etwas, das sich positiv, dynamisch und zukunftsorientiert anfühlte. Mit dieser kraftvollen Geschichte war alles, was die Leave-Seite machen musste, die Botschaft diszipliniert zu verstärken – was sie auch taten.
Aber warum ist bei der Botschaft die Disziplin so wichtig? Das bringt uns zu dem dritten Hebel von System 1, Fluency. Bei Fluency geht es darum, dass Dinge vertraut sind, sodass leichte Entscheidungen ermöglicht werden. Im Branding wird dies durch den Aufbau von "Distinctive Assets" getan. Dinge wie Farben, Slogans, visuelle Bilder werden genutzt, um eine Marke sofort und einfach erkennbar zu machen.
Genau das gleiche Prinzip gilt auch in der Politik. Beide Seiten – Leave und Remain – hatten eine Reihe von einzigartigen Werten, die dabei halfen, dass sich eine Entscheidung richtig und vertraut anfühlen konnte. Remain hatte den Premierminister und eine Vielzahl von anderen Mainstream-Politikern auf seiner Seite. Leave hatte Boris Johnson, den beliebtesten Politiker im Land, und Nigel Farage, eine nicht zwingend beliebte, aber sehr bekannte Person auf seiner Seite. Insgesamt nutzte die Leave-Seite ihre Werte jedoch weit besser. Sie hatten die bissigeren Slogans – "Take Control", "We want our country back", "Project Fear" – und sie nutzten sie mit furchterregender Disziplin. Und sie hatten die Unterstützung der Boulevardpresse – sehr wichtig, um einzigartige Werte zu verstärken und die Entscheidung klar und einfach zu machen.
Auf der anderen Seite hatte Remain eine Reihe von bekannten Namen, konnte diese aber nicht gut nutzen. Eine Medienkampagne, die Politiker herunterspielt und britische Ikonen wie Richard Branson, Rio Ferdinand und Delia Smith nutzte, hätte einen weit besseren Anspruch auf das "Britisch-sein" aufbauen können. Auch ein markiger Slogan fehlte: "Stronger In", ein Slogan, der leicht andersherum verstanden werden konnte, verfehlte damit die konsequente Unterstützung der "Lead Not Leave"-Linie, wie seiner Zeit bei Tony Blair.
Mit den entscheidenden Hebeln der System 1 Entscheidungsfindung – Fame, Feeling & Fluency – hat die Leave-Kampagne sowohl das Spielfeld geebnet, als auch ihre Stärken besser genutzt. Damit brachte Leave genug Leute zur Abstimmung, um die angeborene Vorliebe für den Status Quo zu überwinden. Wir werden alle früh genug herausfinden, ob diese Entscheidung richtig war.
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Themenseite Brexit

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