Wahlbarometer 2.0: Die Piraten-Partei - politisches Schnellboot oder politischer Holzkahn mit baldigem Verfallsdatum?
Mannheim - Immer wieder erlebt die deutsche Politik das Auftauchen ganz neuer und meist frecher Kräfte, die bei Wahlen versuchen, sich zwischen die angestammten Plätze der etablierten Parteien an den Tisch der Politik zu drängeln. Die erfolgreichsten und beständigsten waren die in den 80er Jahren aufgestiegenen Grünen. Heute gehören sie zu den etablierten Parteien. Andere Versuche waren nicht von so dauerhafter Natur, wenn man die Linke als anders gelagerten Fall einmal außen vor lässt.
Die jüngste, einiges Aufsehen erregende Bewegung dieser Art ist die Piratenpartei. Sie sind die erste parteipolitische Organisation, die aus den Tiefen des Web 2.0 in die politische Arena tritt. Zur Überraschung aller erzielte sie bei minimalem zeitlichen Vorlauf und aus dem organisatorischen und finanziellen Stand ein beachtliches Ergebnis von 0,9 Prozent bei den Europawahlen (7,1% in Schweden). Nun tritt sie zur Bundestagswahl an und so mancher stellt sich die Frage, ob hier eine Überraschung heranwächst. Gelänge ihr das, hätte das Web 2.0 trotz seines zarten Alters erneut seine Leistungsfähigkeit als gesellschaftlicher Trendreaktor unter Beweis gestellt. Für die Piratenpartei entscheidet sich hingegen am 27.9., ob sie zum respektablen Underdog, zum entscheidenden Zünglein an der Waage oder sogar zum Königsmacher wird. Gelingt es ihr nicht, könnte sie hingegen schnell als bloße Randnotiz zur kurzlebigen Legende verfallen.
Die Forscher von Linkfluence und Q | Agentur für Forschung sind deshalb für das aktuelle Wahlbarometer der Frage nachgegangen, wie in der Brutstätte der Partei, dem Web 2.0 über die Aussichten und die Lage der Partei diskutiert wird. Dafür wurden die Beiträge zur Piratenpartei von Anfang Juni bis zum 9.September 2009 im politischen Web beobachtet und qualitativ und quantitativ analysiert.
Der sogenannte share of voice, das Rauschen im Internet der Piratenpartei ist beträchtlich, wenn man bedenkt wie jung diese Partei ist und welches Budget sie zur Verfügung hat. Mit 3,9% in den letzen 2 Wochen setzen die Piraten damit ein deutliches Ausrufezeichen. Von dem Traffic auf Twitter, den wir hier nicht berücksichtigt haben, ganz zu Schweigen. Die Piratenpartei ist im Web 2.0 eine echte Konkurrenz für die etablierten Parteien, was das Thema Aufmerksamkeit anbelangt.
Analysiert man die Beiträge, in denen die Piratenpartei ein Thema ist bzw. vorkommt, nach ihrer Verbreitung in den einzelnen politischen Communities, schält sich ein interessantes Ergebnis heraus:
Polit. Neutrale/Öffentlicher Diskurs: 49,5%
Professionelle Online-Medien: 27,6%
Linke Community: 8,8%
Satire Seiten: 4,5%
Sozialdemokratische Community: 2,8%
Liberale Community: 2,7%
Grüne Community: 1,9%
Rechte Community: 1,2%
Konservative Community: 0,8%
Bemerkenswert sind an dieser Verteilung vor allem 2 Werte:
- Mit Abstand am häufigsten ist die Piratenpartei Thema im öffentlichen Diskurs der parteiunabhängigen politischen Blogs und Seiten. Hier beschäftigt man sich intensiv mit ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer politischen Ausrichtung und vor allem ihren Top-Themen Bürgerrechte und Zensur.
Das Thema Piratenpartei ist damit eines der wenigen Themen der letzten Wochen, in dem nicht die professionellen Medienseiten die meisten Beiträge/Posts im politischen Web verursachen. Der Befund lässt erkennen, dass die Piratenpartei noch immer in besonderem Maße ein Thema des Webs ist. Dort, in der politischen Blogosphäre, ist die Partei gut vernetzt und profitiert davon, dass gerade eines ihrer Themen, die "Internetzensur" (Stichwort "Zensursula"), in der Bloggergemeinde – über alle politischen Grenzen hinweg – ein wichtiges Thema ist.
- Zum anderen fällt auf, dass sich die linke Community weit aktiver mit der Partei auseinandersetzt als andere parteinahe Communities. Ihr Share of Voice am Thema liegt zumindest in der Nähe ihres Anteils an den Webpräsenzen. Zum wiederholten Male zeigt sich damit, wie wenig die etablierten Parteien den Debatten im Internet folgen können und wie schwach ihre themenspezifische Präsenz trotz ihres beachtlichen Anteils an den Webpräsenzen ausfällt. Anders gesagt: Man hat zwar Möglichkeiten, macht aber nichts daraus.
In der konservativen Community beachtet man die Piratenpartei am wenigsten. In der grünen Community fand vor allem der Wechsel des früheren Abgeordneten und Gründungsmitglied der Grünen, Herbert Rusche, Beachtung. In der sozialdemokratischen Community nimmt man die Erfolge wahr, erkennt sie auch an, weist aber darauf hin, dass immer noch in der "richtigen" Welt gewählt wird.
Die schiere Präsenz aber ist nicht alles. Wichtig ist auch, wie über sie diskutiert wird. Denn angesichts eher knapper Kampagnenkassen ist die im Web veröffentlichte Meinung und ihre meinungsprägende Qualität und Geschwindigkeit entscheidend für die Erfolgschancen dieser Partei.
Die Piratenpartei findet einerseits viel Anerkennung wegen ihres schnellen Erfolges. Angesichts ihres Abschneidens bei der Europawahl, dem "Entern" einiger Stadträte, den hohen Zuwachsraten an Parteimitgliedern oder den exzellenten Umfagewerten bei XING und studiVz wird im politischen Web spekuliert, ob die Piratenpartei so etwas wie die Grünen in den 80er Jahren werden könnten. Man zeigt Respekt, denn hier kann anscheinend wirklich etwas bewegt werden. Andererseits stellt sich manchen auch die Frage, wie weit diese erste Glückssträhne reicht.
Allerdings gibt es angesichts einiger aktueller Vorfälle und so manchen wahrgenommenen inhaltlichen Ungereimtheiten auch viel kritischen Diskussionsstoff. Beispiel ist etwa die "Personalpolitik" der Piraten. Die Aufnahme des inzwischen wegen Besitzes kinderpornografischer Bilder angeklagten (aber bisher nicht verurteilten) Bundestagsabgeordneten Jörg Tauss war vor allem Ende Juni und aktuell – durch die Aufhebung seiner Immunität – ein wichtiges Thema. Allein 18% der Beiträge über die Piratenpartei in professionellen Online-Medien drehen sich um die Person Tauss. Sicher ist das eine eher zwiespältige Ernte. Eine weitere Personalie, die sich negativ auf das Image der Piratenpartei ausgewirkt hat, ist der rechter Tendenzen verdächtigte Bodo Thiesen.
In allen politischen Communities findet man zudem kontroverse Debatten darüber, dass die Piratenpartei eine "Ein-Themen-Partei" und ein "Männerbund" sei (Gender Trouble). Hintergrund ist sicher auch, dass selbst viele Blogger die Piratenpartei noch nicht richtig einordnen können. Während man einerseits festhält, dass sie nicht in das gewohnte Spektrum passe, spekuliert man andererseits, in welches Spektrum sie dann passt. Gerade wer Wahloptionen kritisch diskutiert, verlangt nach einer nachvollziehbaren und konsistenten Positionsbestimmung. Die Unsicherheit in dieser Sache führt zu höchst unterschiedlichen Einschätzungen: Von "Fertig zum Abwracken" über die Frage "Was machen denn die Piraten genau?" bis hin zu die Piraten sind die "Grünen 2.0".
Der Debattenstand im politischen Web zeigt, dass die Piratenpartei ihren Platz noch nicht gefunden hat. Sie liegen quer zum gewohnten politischen Universum, was ihnen bei den einen zum Vorteil, bei anderen zum Nachteil gereicht. Das macht die Piraten einerseits interessant und attraktiv, aber auch unberechenbar.
Währenddessen naht die Bundestagswahl. Die Inhaltsanalyse zeigt, dass die Piraten-Unterstützer, Fürsprecher und Sympathisanten eher in der grünen, linken und politisch-neutralen Community zu finden sind. Das macht ihre Existenz umso brisanter. Angesichts vielleicht sehr knapper Verhältnisse könnten selbst 2 Prozent für die Piratenpartei am 27.9. einer schwarz-gelben Koalition die nötige Mehrheit verschaffen, indem sie den anderen Stimmen wegnimmt.
Zu viel der Spekulation? Immerhin: Das Ergebnis der Bundestagswahl scheint von Woche zu Woche offener zu werden. Bereits die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und dem Saarland (siehe Wahlbarometer Landtagswahl-Nachlese von letzter Woche) machten das deutlich. Neue Umfragen bestätigen diesen Trend zur Offenheit der Wahlsituation. Auf jeden Fall wird taktisches Wählen höchst schwierig und unübersichtlich. Aber am Abend des Wahlsonntags haben die Spekulationen ein Ende. Dann ist – um in der Sprache der Piraten zu bleiben – klar: Entern oder Kentern?!
Zur Analyse:
Mit linkfluence® segmentiert und analysiert Q | Agentur für Forschung (www.teamq.de) das deutsche Internet. Im Wahljahr 2009 widmen sie sich neben anderen Märkten auch dem politischen Leben im Internet. Aus hunderttausenden deutschen Webpräsenzen haben sie zunächst das "politische Web" herausgearbeitet (www.wahlradar.de). Es umfasst die rund 3000 wichtigsten Blogs und Sites, die sich mit dem politischen Leben in Deutschland und der Welt beschäftigen. Zusätzlich haben sie in diesem thematisch abgegrenzten Segment des Internets die Sub-Communities identifiziert und ihre Einflussstärke vermessen. Auf dieser Grundlage analysieren sie laufend, welche Themen wo eine Rolle spielen und wie sie diskutiert werden.
Quelle: Q | Agentur für Forschung
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