Wähler sind genervt und innerlich zerrissen

Ihre Unzufriedenheit und das Misstrauen gegenüber der Politik lassen die Bürger vor allem in den sozialen Netzwerken aus. Hier hat das Toben und Wüten der Wähler eine neue Dimension erreicht. Die Republik wird im Inneren als instabil wahrgenommen – verstärkt durch das Gefühl der als beängstigend erlebten äußeren Instabilität mit Brexit, Trump und Erdogan.
Wähler sind gespalten
Bisher konnte keine Partei mit einem Umsetzungsplan und klaren Leitlinien zum drängenden Thema Flüchtlingskrise punkten. Die Wähler können bis heute keine klare Haltung entwickeln. Mache ich die Tür für Fremde auf oder zu? Setze ich auf Neuerung oder auf Besitzstandswahrung? Auch das Unbehagen im Land wächst. Deutschland wird trotz seines Wohlstandes als verwahrlostes Land erlebt: Marode Schulen, kaputte Autobahnen, No-Go-Areas, Geheim-Absprachen zwischen Politik und Industrie, eine sich immer weiter öffnende soziale Schere und eine zunehmend gefühlte Unsicherheit im Alltag.
Merkel: Erfahren und krisensicher
Die Wähler fühlen sich innerlich zerrissen und dieser Argwohn macht sich oft an Angela Merkel fest. Letztendlich arrangieren sich die Wähler jedoch mit der Schönfärberei, die die Politiker betreiben. In der Wahlkabine schwanken sie zwischen Merkels Stabilitätsversprechen und kompensatorischen Korrektur-Versuchen. Während für fast alle Wähler der Sieg Merkels sicher ist, wollen vor allem die Anhänger der kleineren Parteien ein Signal setzen, den Kurs der Kanzlerin in die gewünschte Richtung zu korrigieren.
FDP: Lindner weckt Hoffnungen
Mit der FDP soll frischer Wind und Modernität in die Politik einkehren. Die erfahrene Mutter Merkel und der junge Held Lindner werden als bestes Team erlebt. Die wiedererstarkte Aktualität der FDP macht sich vor allem an ihrem Parteivorsitzenden fest, über den die Wähler viel lieber reden als über andere Politiker. Lindner gilt als jung und cool, der Frauentyp mit 007-Ausstrahlung. Die FDP-Kampagne mit den unkonventionellen Privatfotos von Lindner fällt durch ihre Modernität und Nähe auf. Trotz seiner “Selbstverliebtheit“ wirkt Lindner “staatsmännisch“, verkörpert den “deutschen Macron“, der Durchsetzungsfähigkeit und Stärke verheißt.
SPD: Martin Schulz, der große Verlierer
Martin Schulz kann die Erwartungen der Wähler als Leitfigur nicht erfüllen. In der Skepsis rund um Merkel kam im Frühjahr mit ihm jemand, der unverbraucht, volksnah und zupackend wirkte. Nach der Saarlandwahl merkte man jedoch schnell, dass der SPD-Mann keine Wunder wirken kann. Der Hype war schneller vorbei als er angefangen hat und die Wähler sehen in Schulz eher einen Onkel als einen Staatschef.
AfD: Sprachrohr der Bevölkerung ohne Leitfigur
Die AfD verspricht die Befreiung von den Fremden und dem Befremden im eigenen Land - durch rigide Abschottung, nationalen Egoismus und eine Rolle rückwärts in die Beschaulichkeit der alten Bundesrepublik. Trotz ihrer radikalen Standpunkte im Osten gilt die AfD nicht als eine rechtsradikale Partei wie etwa die NPD. Die Partei kanalisiert zwar die Wut der Wähler, aber ihr fehlt eine berechenbare Leitfigur.
Die Grünen: Umweltthemen weniger relevant
Die Grünen werden es schwer haben, denn sie haben ihre Leitfiguren verloren. Zudem sind die Themen Innere Sicherheit, persönlicher Wohlstand und soziale Gerechtigkeit derzeit für die Bürger relevanter als Umweltschutz. Bevormundung in Fragen der Ernährung oder der Mobilität, erdrückende moralische Überlegenheit. Der Kampf der Grünen für die Natur richtet sich zu oft gegen die eigene menschliche Natur. Selbst ihre Stammwähler bekunden, die Grünen allenfalls aus Gewohnheit noch einmal zu wählen.
Die LINKE: Glaubhaft aber zu radikal
Die LINKE tritt entschieden und glaubhaft für soziale Gerechtigkeit und zeigt in den Augen der Wähler das stärkste soziale Engagement. Unklarheit herrscht bei den Wählern allerdings in der Frage, ob die LINKE überhaupt regieren will und ob sie ihre Forderungen auch umsetzen kann. Vor allem auf ihren Plakaten setzt die Partei auf Parolen, die als radikal und einseitig erlebt werden. Das schürt die Zweifel der Wähler, ob die LINKE Gemeinsinn und verlässliche Verbindlichkeit herstellen kann. Auch fehlt es an einer Leitfigur: Während Gregor Gysi noch als Politiker erlebt wurde, der durch Humor und Intellekt etwas Verbindendes hatte, wird Sahra Wagenknecht durch ihren harten und unerbittlichen Tonfall als polarisierend erlebt.
Das rheingold Institut hat vor der Wahl eine Tiefenanalyse der deutschen Befindlichkeit vorgenommen und fünfzig Wähler auf die Couch gelegt. Sechsundzwanzig in psychologischen Tiefeninterviews und die anderen in drei Gruppendiskussionen. Zudem wurden in einer Social Media Analyse über 90.000 Beiträge zur Bundestagswahl ausgewertet.
ma
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