Nachschlag zur EU-Umfrage Von verdrehten Uhrzeiten und falsch verstandener Demoskopie

Der Dauersommer kommt – wir sind parat!
Dass der Klimawandel stattfindet, scheint immer sicherer. Auch wenn Donald Trump von normalen Wetterschwankungen spricht und mancher Wissenschaftler durchaus noch zweifelt, haben sich zumindest die Bürger Europas anscheinend auf einen fortlaufenden Sommer eingestellt. Wie in den vergangenen Tagen breit in den Medien zu erfahren war, stimmten nämlich 4,6 Millionen Teilnehmer einer EU-Umfrage nicht nur mit überwältigender Mehrheit für die Abschaffung der halbjährlichen Zeitumstellung, sondern zugleich auch für die dauerhafte Beibehaltung der Sommerzeit, anstatt zur zuvor gültigen Winterzeit zurückzukehren (obwohl ja die Winterzeit am natürlichen Verlauf der Sonne ausgerichtet ist).
Auf dieser Basis haben sich führende Politiker, allen voran EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, auf eine zügige Umsetzung festgelegt. "Die Menschen wollen das, wir machen das", sagte er im ZDF, denn es mache keinen Sinn, Menschen zu fragen, was sie denken, und das dann zu ignorieren.
Ein rauschender Sieg der Basisdemokratie also in der oft als bürgerfern verschrienen EU. Und Dauersommer für alle! Langen Grillabenden an lauschigen Novembertagen steht nichts mehr im Wege, während Martinsfackeln wohl bald gegen die späte Abendsonne anleuchten müssen. Zumindest zeitlich haben wir den Klimawandel also schon im Griff – die paar fehlenden Deiche werden wir dann wohl auch noch hinbekommen.
Nörgeleien eines Methodikers
DIE MENSCHEN WOLLEN DAS? Bei über vier Millionen Teilnehmern und mehr als 80 Prozent Mehrheit sicher keine Frage. So scheint es zumindest für die Medien, wenn Sie von der "großen EU-Umfrage" berichteten. Und schließlich wissen die Allermeisten: Ab Tausend ist es "repräsentativ". (Zumindest geistert diese Aussage immer wieder herum, wenn es um die Aussagekraft von Stichproben geht. Erst vor zwei Wochen habe ich den Satz wieder von einem Unternehmensberater gehört, der auf dieser Basis gerade eine Studie plante.)
Dabei weiß jeder, der auch nur entfernt mit Methoden in Verbindung gekommen ist, dass Stichprobengröße und Repräsentativität allenfalls marginal miteinander zu tun haben, während vielmehr die Teilnehmerauswahl und Durchführung entscheidend ist.
Die zitierte Umfrage war danach alles andere als repräsentativ: Die Teilnehmer waren selbstrekrutiert, sie mussten mehr oder weniger zufällig über die Medien darüber erfahren und konnten sich dann aktiv – wenn sie wollten auch mehrfach – an der Umfrage beteiligen. Ergebnis war eine dramatisch verzerrte Population. So nahmen etwa fast vier Prozent der Deutschen, aber nur 0,04 Prozent der Italiener und Rumänen teil. Im Ergebnis kamen zwei von drei Stimmen aus Deutschland - bei 16 Prozent Einwohneranteil in Europa.
Ausgleichende Gerechtigkeit?
Endlich mal nicht nur gleichberechtigt, sondern sogar übergewichtet, könnten wir uns freuen. Wer nämlich wie ich in der nach Einwohnerzahl größten Stadt des größten Bundeslandes des größten Mitgliedsstaates der EU lebt, dessen politische Stimme fließt dank mehrfach gestufter Stimmrechte nur noch in homöopathischer Dosis in die unterschiedlichen Entscheidungsgremien der Gemeinschaft ein – zumindest verglichen mit einem Bürger aus Zypern, Luxemburg oder Malta beispielsweise. Diesmal zählte meine Stimme wirklich. (Beziehungsweise hätte gezählt, wenn ich sie hätte abgeben können, was in meinem Fall aber an einem technischen Problem auf dem EU-Server scheiterte. Aber das ist jetzt schon wieder methodische Nörgelei).
Mehr Vorsicht, mehr Verantwortung?
Die dennoch breite gesellschaftliche Rezeption der "Umfrage" und die zügige Umsetzung der Ergebnisse zeigt dreierlei:
- Die zu recht immer wieder angemahnte Rolle sauberer methodischer Arbeit, wenn tatsächlich Aussagen getroffen werden sollen in der Art "DIE MENSCHEN WOLLEN DAS". Teilen die – weitaus unterrepräsentierten - Bürger weiter westlich gelegenen Staaten überhaupt die deutsch dominierte Abstimmungspräferenz oder wollen sie keine Sommerzeit, weil die Abende dort sowieso schon länger sind? Sehen die Bewohner Schwedens und Siziliens den Nutzen einer Zeitumstellung angesichts ganz anderer Lichtverhältnisse völlig anders? Nach den bisher veröffentlichten Ergebnissen schwankt die Zustimmungsquote zur Abschaffung der Zeitumstellung je nach Land zwischen 44 und 95 Prozent. Genauere Daten zur Bevorzugung der dauerhaften Sommer- gegenüber Winterzeit werden erst in den nächsten Tagen veröffentlicht.
- Die Leichtfertigkeit, mit der Medien empirische Ergebnisse aufgreifen, wenn sie nur die richtige Teilnehmerzahl haben und das richtige Thema adressieren. Die EU selbst spricht nämlich gar nicht von einer Umfrage, sondern von einer "öffentlichen Konsultation". Auch waren keineswegs nur Bürger, sondern ebenso Unternehmen und Institutionen zur Teilnahme eingeladen. Das geht aber schnell unter, wenn zum Beispiel das ZDF schließt, "die Mehrheit in einer EU-Umfrage wünscht sich die Sommerzeit dauerhaft."
- Die Gefahr des Rosinenpickens durch die Politik, also der Suche nach "passenden" empirischen Ergebnissen, um gewünschte Maßnahmen zu rechtfertigen. Würde ein Bürgervotum zur Migrationspolitik oder zur Bezahlung von EU-Mitarbeitern wohl ebenso unkritisch aufgenommen und zügig in Maßnahmen umgesetzt wie das zur Zeitumstellungs-Frage?
Zumindest zu den erstgenannten Punkten ist sicherlich auch die professionelle Umfrageforschung in der Pflicht, nicht nur sorgfältig zu arbeiten und zu kommunizieren, sondern auch zur Aufklärung beizutragen. Angesichts der zunehmenden Vielfalt und Oberflächlichkeit der Medien ein außerordentlich dickes Brett.
Aber lassen Sie sich von diesen Überlegungen die Ganzjahres-Sommerzeit nicht verderben!
Ihr
Horst Müller-Peters
(Herausgeber)
Kommentare (8)
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