Hartmut Scheffler, Berater für Marktforschung und Markenführung Von steilen Thesen, Branded-Solutions, Vertrauen, Werten, KI, menschlichem Fit und Transparenz - Ein konstruktiver Widerspruch

Sind Branded Solutions und das intransparente Hinterzimmer wirklich tot? Muss alles Open Source und frei zugänglich sein? Macht der menschliche Fit den Unterschied zwischen Instituten aus? Hartmut Scheffler mit einer Gegenrede auf Jens Krügers Kolumne aus dem Mai und seinen eigenen Thesen.

Am 24. Mai dieses Jahres hat Jens Krüger in marktforschung.de einen spannenden Artikel geschrieben: "Die Branded Solution und das Hinterzimmer sind tot. Warum hoffentlich Open Source gewinnt".

Was ist eine Branded Solution in der Marktforschung und was sind die Vorwürfe dagegen?

Ein spannender Artikel deshalb, weil er die Wichtigkeit von Transparenz betont und dabei leider das Kind mit dem Bade auskippt. Seine Kolumne argumentiert gegen Branded Solutions, das heißt Ansätze und Tools, die Institute selbst entwickeln und zum Beispiel durch die Eintragung von Wort-Bild-Marken dann als sogenannte Branded Solution schützen lassen. Er negiert damit die Logik, die „DNA“ von Tools: langjährige Entwicklung, Validierung, research on research, Weiterentwicklung. Dies alles mit dem Vorwurf, dass Algorithmen, Indices und Ähnliches ohne Offenlegung der dahinterstehenden Analysen und Formeln nicht mehr zeitgemäß seien.

Sind Branded Solutions noch zeitgemäß?

Und wenn Marke, Tools, entwickelte Algorithmen nicht mehr entscheidend für Differenzierung im Markt sind, was dann? Seine Antwort: ein Institut, beziehungsweise die Menschen dort, müsste besonders gut zum Kunden passen. Und weiter: "Wo Produkte immer weniger differenzieren, entscheidet der Faktor Mensch. Das Image, der Fit, die Geschwindigkeit, der vorherrschende Pragmatismus und die Beratungsqualität. Und auch die Transparenz".

Mein Eindruck. Da ist eine ganze Menge richtig und wichtig. Zum Beispiel, dass im Zeitalter von Open Source, Blockchain und ChatGPT Neues entsteht, bestehendes weiterentwickelt wird. Ebenso richtig und wichtig ist die Forderung nach Transparenz.

Trotzdem, nein, gerade deshalb sind Branded Solutions unverändert wichtig und zeitgemäß – siehe weiter unten.

Marken sind Vertrauensträger

"Man kann das bestimmt auch ganz anders sehen" schreibt Jens Krüger. Und an einer Reihe von Stellen sehe ich das anders. Ich möchte mich distanzieren von der unterschwelligen Unterstellung der Geheimniskrämerei in Form von undurchsichtig entwickelten Tools, Branded Solutions oder Algorithmen in der Branche. Ich möchte mich distanzieren vom unterschwelligen Tool–Bashing (das ich übrigens in den neunziger Jahren als Vertreter eines Institutes, das keine Branded-Solutions hatte, mit sehr ähnlichen Argumenten auch gemacht habe).

Und ich möchte mich outen als ein Anhänger starker Marktforschungsmarken, starker Branded Solutions – Marken (also der kritisierten Wort-Bild-Marken). Genau diese Marken dienen einerseits als Vertrauensträger und andererseits als wertschaffende Basis für die Unternehmen (wofür bei Akquisitionen berechtigt viel bezahlt wird).

Mein Standpunkt zu drei besonders wichtigen Aspekten – z.T. und gerne als Antithese zu verstehen!

Marken, Tools, Branded Solutions als Entwicklungstreiber

Wort-Marken, Wort-Bild-Marken, starke Marken zu entwickeln, anzumelden und zu schützen ist nicht gestrig und überholt, sondern verantwortungsvolle Firmenpolitik einerseits zum Schutz des geistigen Eigentums und Firmenwertes.

Andererseits, weil in gute Branded Solutions viel Wissen, viel Aufwand, viel Geld zum Wohle der Validität der Instrumente gesteckt wurde. Zugegeben, das gilt nicht für alle Tools, aber sehr viele, sehr gute. Schlechte Branded Solutions sind qualitative Irreführung unter einem Namen, einer Brand. Das stimmt! Gut gemachte Tools und Branded-Solutions aber sind seriöse Entwicklung, forschungsbasierte Validierung, Aufbau von interessanten Datenbanken für Benchmarks und ständige Weiterentwicklung. Gute von schlechten Tools zu unterscheiden, geht nur mit Wissen und Transparenz.

Wer gute Tools hat, will damit Geschäft machen…also nicht im verborgenen Hinterzimmer feilbieten, sondern die Tools stattdessen gerade im gesamten Markt präsentieren, um die erwünschten Skalierungseffekte zu erzielen. Und dazu gehört auch ein gehöriges Stück Transparenz zum Tool – die Katze im Sack ist out.

Aber warum sogar Entwicklungstreiber?

Die Halbwertszeit von Wissen verkürzt sich ständig, aber dadurch wird vergangenes Wissen in der Regel nicht falsch, sondern durch neues Wissen ergänzt. Niemand weiß das besser als Tool-Verantwortliche, die Tools ständig aktualisieren und anpassen müssen.

Branded Solutions, Innovationsgeschwindigkeit und auch Kooperationen schließen sich also nicht nur nicht aus, sie sind vielmehr zusammen Treiber von Erkenntnissen und Wissen schaffender Weiterentwicklung.

Gute Modelle aus der Marken- und Innovationsforschung, basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen vor allem der Geistes- und Sozialwissenschaften (vorrangig Soziologie und Psychologie) haben sich nicht überholt. Die Grundregeln und Erkenntnisse zum Beispiel aus der Sozialpsychologie gelten unverändert.

Sie sind aber natürlich im täglichen Doing den Veränderungen durch Digitalisierung, wandelnden Wertemustern, massiv sich verändernder Customer Journeys etc. anzupassen. Die Komplexität hat sich erhöht, der wissenschaftliche Modellkern aber bleibt erhalten.

Es war immer so, dass diejenigen gewinnen werden, die bereits früh weiterdenken. Und nicht die, welche das einmal Gedachte konservieren. Stillstand ist auch für jede Branded Solution Rückschritt.

So (und nur so!) verstandene Branded Solution sind und schaffen Excellenz, was für Open Source Plattformen und -lösungen wegen der gänzlich anderen Gestehungslogik bei weitem nicht immer gilt.

Resümee: Branded Solutions passen nach wie vor in die Zeit.

Von Wissen und Menschen

Entscheidend für die Qualität eines Anbieters sind Know-how, Erfahrung und Verstehen der relevanten Themen, Branchen, Daten(quellen) und „beforschten“ Menschen. Wenn das fehlt, hilft auch eine besonders gute Chemie, ein besonders guter Fit zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer nicht. Auch Differenzierung ist weiterhin zuerst eine Frage von Können und Erfahrung und erst dann von menschlicher Chemie. Erst wo Können, Erfahrung, Produkte nicht mehr differenzieren, da entscheidet der Faktor Mensch.

Deshalb versuchen Anbieter in der Markt- und Sozialforschung, sich über Produkte, über Lösungsansätze, über methodologische und methodische Positionierung, über besondere Beratungsqualität zu differenzieren und den Unterschied zu machen. Das macht den „menschlichen Faktor“ natürlich nicht irrelevant. Gut zuhören, schnell lernen, messerscharf analysieren und sich selbst vielleicht nicht so wichtig nehmen, sollte deshalb längst zum Standardrepertoire dazugehören.

Resümee: Wissen ist notwendiger Faktor für Excellenz und Differenzierung.

Transparenz schafft und braucht(Daten-)Kompetenz

Das Transparenzgebot betrifft alle Entwicklungsstufen der Markt- und Meinungsforschung. Es galt und gilt bei der ganz klassischen Primärforschung (Stichprobenziehung etc.), ging und geht über Algorithmen, Tools und Branded Solutions bis hin zu generativer KI und LLMs. Durch generative KI und ChatGPT geschieht übrigens nicht täglich Neues, es sei denn, die Maschinen werden fleißig mit neuen (und hoffentlich an vielen Stellen auch besseren) Trainingsdaten gefüttert. Tools und Branded Solutions können ideale Trainingsdaten sein. Ohne solchen Input kommt irgendwann nicht mehr viel Neues in die Welt.

In Zeiten, wo Daten missbräuchlich interpretiert und gefälscht werden, Vertrauen in Daten gefährdet ist, braucht es Datenkompetenz: idealerweise schon in der Bevölkerung über Anwendende wie Journalisten und Politiker bis hin zu den Spezialisten. Und Datenkompetenz braucht Transparenz als Voraussetzung. Immer häufiger beinhaltet Transparenz auch, warum bestimmte Daten(-quellen) für die zu untersuchende Geschichte genutzt oder erhoben werden. Das Problem definiert die notwendigen und sinnvollen Daten und nicht umgekehrt.

Resümee: Keine Forderung von Jens Krüger ist mehr zu bejahen und zu unterstreichen als die Forderung nach Transparenz.

Eine Synthese

"Vielleicht können wir tatsächlich die neuen Beratenden sein, die mit echtem Wissen von der Welt und den Menschen da draußen überzeugen und sich nicht hinter Algorithmen und Blackboxen verstecken."

(Jens Krüger)

Da kommen wir also doch mit unterschiedlichem Verständnis und unterschiedlichen Meinungen in vielen Details zur gleichen Schlussfolgerung. Aus Thesen und Antithesen wird also eine gemeinsame Synthese. Möge die Übung gelingen!

 

Über die Person

Hartmut Scheffler ist Diplom-Soziologe und Stadt –, Raum – und Regionalplaner. Von 1980 an in der Marktforschung tätig, seit 1990 bis 2020 Geschäftsführer des Emnid Institutes Bielefeld, später TNS Emnid, dann TNS Infratest, Kantar TNS, Kantar Deutschland. Mitglied in verschiedenen Beiräten und Branchenverbänden, unter anderem ADM (12 Jahre Vorstandsvorsitzender, seit 2021 Ehrenmitglied), BVM (dort 2009 als Forscherpersönlichkeit des Jahres geehrt). Seit Juli 2020 im Ruhestand, seit Januar 2021... mehr

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