dossier.PLUS-Logo

Hartmut Scheffler, Berater für Marktforschung und Markenführung Von Mythen, Experten, KI und einem Schirm

Im dossier.PLUS zu UX–Research wurde laut Hartmut Scheffler zweierlei deutlich: Zum einen, warum dies, wie viele andere Themenfelder, ein Spezialgebiet mit viel Spezialwissen ist, und zum anderen, dass optimale UX-Forschung in ein größeres Ganzes eingebunden werden kann und sollte. Lesen Sie Hartmut Schefflers Zusammenfassung über ein dossier.PLUS, das mit intensiverer Beschäftigung immer spannender wurde.

Die Marktforschung sollte als Umbrella für die User Experience dienen, so eines der Learnings auf dem dossier.PLUS zur UX Research (Bild: picture alliance / Photoshot).

Ganz kurz zur Begrifflichkeit: Zwei getrennte Themenfelder, nämlich User Experience (eigentlich UX) und Usability oder auch Usability-Research werden mittlerweile unter der Überschrift „UX“ zusammengefasst und als ein Themenfeld verstanden. UX-Research: Da weiß man doch, worum es geht, was im Markt so angeboten wird, wofür man es braucht. Ich bin mit einer gewissen „Ich weiß schon fast alles-Arroganz“ eingestiegen und wurde zunehmend ob der Vielfalt des Themas ebenso demütig wie fasziniert.

Also wieder ein Dossier, das nicht durch einen einzelnen Artikel, sondern in der Summe der Artikel und der UX-Research Days sowohl tiefe Einblicke wie auch einen Rundumblick zum Thema geliefert hat.

Etwas flapsig formuliert kam - wie bei vielen anderen früheren Dossiers - der Appetit beim Essen. Warum?

Ein eigenständiges Thema

Ja, UX ist ein eigenständiges Thema mit speziellen Anforderungen, ganz besonderen Kenntnissen und Erkenntnissen, besonderen Skills für Durchführung und Beratung. Da ist es nicht anders als bei anderen Themen der breiten Markt- und Sozialforschung wie Ideation, Touchpoint Management, Markenführung oder Customer Experience (CX).

Natürlich hat das Thema UX – und dies zeigen viele der Artikel – gleiche Herausforderungen wie alle anderen Themen: die Suche nach den geeigneten und validen Methoden, die Zielgruppenfrage/Personas bis hin zu den Herausforderungen der Implementierung der Erkenntnisse im Unternehmen. Und es ist natürlich kein Stand-Alone-Thema, sondern mit den anderen Themen, zum Beispiel CX, Kommunikation und Markenführung, eng verbunden. Dazu später mehr.

Die Eigenständigkeit des Themas, das heißt die Notwendigkeit und Existenz von spezieller Expertise, Expertenwissen, eigenständigen Ansätzen ist aber über eine Reihe unterschiedlicher Aspekte in den Artikeln und Webinaren deutlich geworden.

Das Beste hierzu kam am Ende – Sabrina Duda hat im Podcast mit Holger Geissler eindrucksvoll den Einsatzbogen von Produktidee und Produktentwicklung bis Ergebnisimplementierung, von qualitativen und quantitativen Methoden, von Schnittstellen zu diversen Wissenschaften und Ausprägungen der Psychologie aufgezeigt: ein Kaleidoskop der oft noch ungenutzten Möglichkeiten.

Dann gibt es zum Beispiel den German UPA, der als Verband die Interessen bündelt. Laut Holger Geissler werden 31 Studiengänge mit UX im Namen angeboten. Außerdem existiert eine DIN-Norm und es gibt eine Vielzahl von theoretischen Ansätzen und fertig entwickelten (Fragebogen-)Tools.

Anspruchsvolle Verknüpfungen

Neben – oft auf Kundenwunsch – ganz einfachen Ansätzen und Basic-Forschung stehen anspruchsvolle Verknüpfungen mit der Wertethematik, Personas, und mit dem Thema der Emotionalität. Es gibt aus der UX-Forschung heraus entwickelte KPIs. Hinzu kommen Standards und flexible, customizable Ansätze. Die Breite der in verschiedenen Artikeln präsentierten bewährten Verfahren ist das eine, die ständige Arbeit an Erweiterungen das andere.

Es gibt eine eigenständige Begrifflichkeit, ganz unterschiedliche Ausrichtungen von Basic-Data über detailliertes Zielgruppenverständnis bis zur Emotionalisierungs- und Evaluationsmessung. Je breiter die Anwendungsmöglichkeiten, je vielfältiger die benötigte Expertise.

Kein Wunder, dass sich bei dieser Vielfalt Mythen gebildet haben, die zu diskutieren sich wirklich lohnt und in einer Diskussionsrunde auch diskutiert wurden.

Beispiele für solche Mythen und worin sich die Experten einig waren:

  • Fünf Personen reichen! Antwort: bei qualitativen, iterativ entwickelten Ansätzen durchaus
  • UX kann jeder! Antwort: Ja, wenn man Expertise hat - sonst nicht
  • Eigentlich reicht „beobachten“! Antwort: Ein spannendes Thema – die Diskussion ansehen!
  • Ohne Personas geht es nicht! Antwort: Klares Votum, aber Gefahr der Stereotype
  • KI macht UX obsolet! Antwort: Wir brauchen eine KI-Literacy!

UX braucht ein gutes Fundament im Unternehmen

Dies sind nur einige der Mythen und bei fast allen ist die Diskussionslage offen, gibt es pro und contra und gibt es keine leichten Antworten. Ein weiteres Indiz für Eigenständigkeit des Themas und Relevanz von Expertise.

Der nächste Aspekt: Forschung ohne Implementierung der Ergebnisse im Unternehmen ist verschwendetes Geld. UX braucht ein gutes Fundament im Unternehmen: Struktur, Ressourcen, klare Einsatzzwecke, klare Verantwortung, Qualitätsbewusstsein und Qualitätssicherung, organisatorische und prozessuale Einbindung und eine entsprechende Kultur, um nur einige Stichworte aus dem Webinar von Till Winkler von Skopos Nova zu nennen.

Exkurs: Laut Definition und beim Blick auf die Historie beschäftigt sich UX in gleichem Maße mit Online-Anwendungen oder Websites als auch mit der guten alten Offline-Produktwelt. Dazu eine kleine Kritik am Dossier:

Offline war ausgeblendet, obwohl der Test von Offline-Kontakten mit Produkten, mit Dienstleistungen und Dienstleistern nach wie vor ein wesentlicher Bestandteil der Forschung und der investierten Budgets ist.

Auch wenn der Hype aus den Online-Anwendungen entstanden ist: Hier fehlt ein Stück zum Gesamtbild von UX-Research. Bitte nachreichen!

Der Umbrella–Gedanke

Am deutlichsten hat die Idee der Einbindung von UX in einen größeren Rahmen in der Aussage von Johanna Ullsperger von der GIM formuliert:

Marktforschung ist die Umbrella des UX.

Was meint sie? Und was kommt auch an vielen anderen Stellen im Dossier deutlich heraus?

So sehr UX ein eigenständiges Thema mit eigenständiger Expertise bis hin zu eigenständigen Organisationsformen in den Unternehmen ist, so sehr wird der Wert von UX unterschätzt, wenn es nicht als wertvoller Teil eines Ganzen gesehen wird.

Dieses Ganze aus Forschungssicht: UX ist wie CX trotz der Besonderheiten ein Teil einer modernen und umfassend verstandenen Markt- und Markenforschung. Und auch aus Unternehmenssicht ist UX im Idealfall ein integrierter Teil der Markenführung, also in den Ergebnissen immer verbunden und zu verbinden mit Maßnahmen und Aktivitäten in der Kommunikation, der Markenführung bis hin zu Produktneu- und Produktweiterentwicklung.

Die Expertise aus der Eigenständigkeit heraus ist notwendige Bedingung für wirkstarke UX. Die Einbindung in den größeren Rahmen der Forschungsaktivitäten hier und der ganzheitlichen Markenführung dort ist notwendige Bedingung für noch höhere Relevanz und Impact, für einen – wie schwer auch immer messbar – hohen ROI.

Meine persönliche Meinung: die Unterschiede und Grenzen zwischen UX und sonstiger Marktforschung werden oft überbetont, die Gemeinsamkeiten und sinnvollen Verknüpfungen unterbewertet. Die Trennung zwischen dem Nutzer im Mittelpunkt bei UX und dem Kunden im Mittelpunkt von Marktforschung greift zu kurz. Beim Unternehmen ist immer der Kunde (dann auch als Nutzer der Produkte und Dienstleistungen) im Fokus. Das Bild von Nutzer hier und – übergeordnet - Kunden dort unterstreicht die Richtigkeit des Umbrella-Bildes. Am Rande: klassische Marktforschung wie auch UX-Forschung (anders als CX) werden anonym durchgeführt.

Vielfalt und Weiterentwicklung

Ein weiterer roter Faden durch die Artikel und die Research Days war der der Themen- und Entwicklungsvielfalt. Spannende Beispiele aus diversen Dossier-Beiträgen: Die Erweiterung um wertebasierte Ansätze schafft eine Verbindung zwischen Mensch und Produkt/Marke. Die Kombination mit Emotionalisierung hat Eingang in die anspruchsvolle UX-Forschung gefunden. Emotionsforschung und auch das Thema Nachhaltigkeit und Marke sind zunehmend in UX-Forschung integrierte Themenfelder. Das weite Einsatzfeld guter UX-Forschung reicht so von kurzfristiger Schwächenbeseitigung bis hin zu nachhaltigen Wirkungen (Werte, Emotionen, Bindung).

Drei weitere Themen aus dem Dossier zu den vielfältigen Herausforderungen und als Denkanregung möchte ich hervorheben:

1) Lisa Wiese von EyeSquare hat den Gedanken des digitalen Wohlbefindens, des „Digital Wellbeing“, eingebracht und präsentiert. War das Ziel bisher, beim Nutzer positive Gefühle zu erzeugen und negative zu vermeiden, geht dieser Ansatz darüber hinaus und thematisiert in der Forschung und mithilfe anspruchsvoller Methodik das menschliche Erleben und Wohlbefinden im Nutzungsprozess mit den Konsequenzen für Produkt- und Markenbindung und langfristigem Erfolg. Schön, wenn dieser Ansatz über die reine digitale Nutzung auch auf Offline-Nutzung erweitert werden könnte.  

2) Werden DIY-Ansätze – auch hier unter dem gewagten Terminus der Demokratisierung – klassische Forschungsansätze ersetzen? Wenn ich die Meinung der Experten richtig verstehe, dann ist dies angesichts der Komplexität des Themas, der notwendigen Expertise vom Problemverständnis über die methodische Umsetzung bis hin zur Auswertung und Implementierung im Zielunternehmen sowie der Einbindung in alle Markenthemen zu riskant. Vielleicht wird es so sein: einfache Basic-Ansätze können und werden (nur) bei entsprechender Expertise mit DIY-Ansätzen durchgeführt. Anspruchsvolle Ansätze, mithilfe derer die Möglichkeiten der UX-Forschung erst gehoben werden können, sind bis auf weiteres Expertenthema!

3) Wie überall KI: ersetzt KI die klassische Forschung, wo ist KI schon jetzt sinnvoll einsetzbar? So viel darf man wohl sagen: für die Erstellung von Leitfaden und Fragen, von Textanalysen, von Zusammenfassungen, für speech to text und Designthemen sind KI-Tools schon jetzt auch im UX-Research ein Werkzeug, werden dies zukünftig verstärkt sein. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Vielfalt durch die Einbindung beim Umbrella-Gedanken, Vielfalt durch Themenerweiterung in Richtung Emotionen und Emotionalisierung, digitales Wohlbefinden, KI-Relevanz und Nutzung: UX als eigenständigem, anspruchsvollem Thema gehen die Aufgaben und Herausforderungen nicht aus.

Resümee

Das dossier.PLUS UX-Research öffnet, wenn man sich auf die Vielfalt der zahlreichen Artikel, Webinare, Diskussionen und den Podcast mit Sabrina Duda einlässt, einen erweiterten und zum Teil neuen Blick auf die UX-Thematik und ihre für Marktforschung, Markenführung, Produkt- und Unternehmenserfolg wachsende Relevanz. Meine These: den vollen Wert von UX-Forschung kann man nur heben, wenn man Eigenständigkeit und Expertise als Voraussetzung akzeptiert, die vielfältigen verknüpfbaren Themen sieht und aktiv in den Forschungsmodellen umsetzt und schließlich UX als wichtigen Teil unter einem Dach integrierter Produkt- und Markenforschung sieht.

Täglicher Newsletter der Insightsbranche

News +++ Jobs +++ Whitepaper +++ Webinare
Wir beliefern täglich mehr als 9.000 Abonnenten

 

Über die Person

Hartmut Scheffler ist Diplom-Soziologe und Stadt –, Raum – und Regionalplaner. Von 1980 an in der Marktforschung tätig, seit 1990 bis 2020 Geschäftsführer des Emnid Institutes Bielefeld, später TNS Emnid, dann TNS Infratest, Kantar TNS, Kantar Deutschland. Mitglied in verschiedenen Beiräten und Branchenverbänden, unter anderem ADM (12 Jahre Vorstandsvorsitzender, seit 2021 Ehrenmitglied), BVM (dort 2009 als Forscherpersönlichkeit des Jahres geehrt). Seit Juli 2020 im Ruhestand, seit Januar 2021... mehr

Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

EXKLUSIV

GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung

Heidelberg

GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung

180

Die GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung forscht und berät seit 35 Jahren international in den Bereichen Konsum, Arbeit,…
EXKLUSIV

eye square GmbH

Berlin

eye square GmbH

74

See the Experience - Human Insight Technologies eye square hilft Unternehmen dabei, die wichtigsten Menschen in Ihrem Geschäft…

Diskutieren Sie mit!     

  1. Olaf Hofmann am 05.10.2023
    Hallo,
    lieber Hartmut,
    das nenne ich mal eine richtige starke Meta-Analyse. Auf den Punkt. Hat mir an vielen Stellen die Augen geöffnet. Vielen herzlichen Dank dafür,
    Olaf

Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.

Anmelden

Mehr zum Dossier: UX Research Days

Artikel dieser Ausgabe:

alle anzeigen
Vielen Dank an die Sponsoren

Weitere Highlights auf marktforschung.de