Von Gauck lernen!

Hartmut Scheffler (ADM, TNS Infratest)
Von Hartmut Scheffler
Anlässlich der Verleihung der Goldenen Viktoria an Herrn Gauck im Herbst des vergangenen Jahres hat dieser eine beeindruckende Dankesrede gehalten. Im Mittelpunkt stand dabei ein deutliches Plädoyer gegen Verzagtheit und für den Blick nach vorne. Er hat dies auf Deutschland insgesamt bezogen und dabei mit Recht auch noch bemerkt, dass man viel zu häufig ein besonderes Augenmerk auf das legt, was fehlt oder nicht so gut läuft. Man vergisst dabei immer wieder, sich in Erinnerung zu rufen und sich selbst und anderen bewusst zu machen, was alles funktioniert, was geschafft wurde, kurz: Das Erreichte zu sehen und zu genießen. Dieses Plädoyer – bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland – kann aus meiner Sicht ohne weiteres auf die Marktforschung übertragen werden.
Es ist immer wieder überraschend, wie klein sich Marktforschung häufig selbst macht und wie reflexartig und sehr häufig verteidigend - erklärend auf Kritik, ja oft sogar schon auf Wünsche und Forderungen reagiert wird. Auch die Marktforschung hat dies - wie die Bundesrepublik Deutschland – wahrlich nicht nötig. Sich das Erreichte anzuschauen und auf das Erreichte stolz zu sein, wäre hin und wieder angebracht. Dies natürlich nicht allein mit dem Blick zurück, sondern mit dem Selbstbewusstsein, auf diesem Fundament auch eine interessante und erfolgreiche Zukunft gestalten zu können.
Einige Beispiele, die immer wieder vergessen werden und doch so wichtig für das Sein und das Bewusstsein der Marktforschung sind:
Es gibt wohl kaum eine angewandte Wissenschaft, in der das Know-how aus so vielen Disziplinen zusammengeführt wird, in der wirkliche Interdisziplinarität herrscht. Soziologen, Psychologen, Sozialpsychologen, Betriebswirte, Neurologen, Mathematiker, Statistiker, Evolutionsbiologen, Juristen und viele Wissenschaften mehr geben ihren Input, spielen eine nennenswerte Rolle in der wissenschaftstheoretischen/ methodologischen Diskussion einerseits, der Entwicklung der Methoden und Analysen anderseits. Die Marktforschung findet nicht im Elfenbeinturm eines eng begrenzten Wissenskanons statt, sondern sie ist per definitionem offen für vielen Wissenschaften, neue Fragestellungen und neue Erkenntnisse. Dies führt fast automatisch zum 2. Vorteil, zur 2. Stärke:
Seit mindestens 60 Jahren findet ein kontinuierlicher evolutionärer Prozess der Weiterentwicklung existierender und Entwicklung neuer Methoden und Forschungsansätze statt. Die Marktforschung ist kontinuierlich nicht nur auf der Suche, sondern auch im Findungsprozess nach besseren Ansätzen auf zum Teil neue, zum Teil aber weiterhin existierende und weiterhin relevante alte Fragen.
Eine 3. Stärke: Dies alles geschieht auf einem hohen Qualitätsniveau. Dafür sorgen ganz automatisch der hohe Wettbewerb auf Nachfrager- und vor allem Anbieterseite. Dafür sorgen aber auch die Verbände der Marktforschung, die Qualitätsnormen und Richtlinien. Ein hoher qualitativer Standard schließt schwarze Schafe und einzelne Flops nicht aus; es kommt auf die hohe durchschnittliche Qualität an. Dieses Niveau zu halten, verlangt auch in Zukunft Zweierlei, nämlich auf der einen Seite eine hervorragende Hochschulausbildung und berufliche Ausbildung, auf der anderen Seite eine entsprechende Qualitätsforderung und ein Erkennen von Qualität und vor allem fehlender Qualität auf Nachfragerseite. Diese Stärke der Marktforschung ist vielleicht diejenige, die durch die aktuellen Entwicklungen am stärksten in Gefahr ist: Eine gewisse Do-it-yourself-Euphorie wie auch das Faszinosum der Möglichkeiten über Online (dem Verbraucher ins Wohnzimmer schauen) lassen häufig die seriöse Prüfung dahingehend vermissen, welche Aussagekraft und Qualität die Informationshäppchen haben, mit denen der Informationshunger auf Nachfragerseite gesättigt werden soll. "Schön, überraschend, laut, plakativ" ist nicht automatisch identisch mit "qualitativ richtig und hochwertig". Die zukünftigen Aufgaben an dieser Stelle sind evident, auf die Praxis darf man mit Fug und Recht Stolz sein.
Hierzu gehört auch die – nicht zuletzt durch die Evolution und die Anforderungen auf Nachfragerseite getriebene – Methodenvielfalt. Jede Methode hat ihre originären Stärken und Schwächen und die Aufgabe der Fachleute ist es, die bestmögliche Methode in bestmöglicher Weise der jeweiligen Fragestellung, dem jeweiligen Erkenntnisinteresse anzupassen. Die Vielfalt der Methoden erlaubt es der Marktforschung, in genau dieser Weise vorzugehen und nicht umgekehrt Erkenntnisinteresse und Fragestellung einem begrenzten Set von Methoden anpassen zu müssen.
Aber es ist nicht nur die Methodenvielfalt, die die Marktforschung und den guten Marktforscher ausmacht: Es ist die Kombination aus Methodenwissen, Themenwissen (zu Themen wie Produktentwicklung, Kommunikation, Markenführung, CRM etc.) und Branchenwissen. Gute Marktforscher sind Spezialisten in allen drei Bereichen. Welche andere Profession kann dies bieten?
Interdisziplinarität, hohes qualitatives Niveau, evolutionäre Entwicklung, Methodenvielfalt und Multi-Spezialistentum: Und trotzdem immer wieder Flops? Ich kann ehrlich gesagt diese ständigen Hinweise auf Red Bull, Bionade oder früher den Walkman nicht mehr hören. Dies sind berechtigte Beispiele dafür, dass besonders kreative Ideen auf ganz unterschiedlichen – auch marktforschungsfremden - Wegen entstehen können. Es sind keine Belege dafür, dass Marktforschung im Innovationsprozess nicht hilfreich sein könnte. Es sind erst recht keine Belege dafür, wie wichtig durch die Marktforschung erhobene Informationen für Entscheidungen im Bereich der Kommunikation, Mediaplanung, des CRM etc. sind. Die tausende und abertausende Beispiele hierzu sind in den Unternehmen bekannt.
Natürlich bleibt genügend zu tun: Die Weiterentwicklung der Methodik in Richtung neuer qualitativer Verfahren, Neuroscience, weitere intelligente Verfahren der Datenfusion und -verknüpfung und nicht zuletzt Verbesserungen in Richtung der Datenlieferung über anwenderfreundliche Portale und optimale Visualisierung sind nur einige Beispiele. Das Wissen darum und das Wissen, hier qualitativ hochwertig evolutionär und interdisziplinär besser werden zu müssen und zu können, ist vorhanden.
Nun gibt es neuerdings noch eine andere Anti-Marktforschungs-Argumentationslinie: Im Zeitalter der Digitalisierung sei die Marke tot und markenführungs-begleitende Marktforschung damit überflüssig. Im Rahmen der Individualisierung und 1:1 Interaktion sei die Zielgruppe tot und damit werde zielgruppenrelevante Forschung nicht mehr benötigt. Und schließlich ersetzen die sozialen Medien und Do-it-yourself-Forschung den Bedarf an traditioneller Forschung. Drei völlig falsche Behauptungen: Die Marken sind nicht tot, sondern im Zeitalter der Digitalisierung z.B. zur Orientierung noch wichtiger als je zuvor. Markenführung muss sich allerdings neu deklinieren. Zielgruppen sind längst nicht tot, denn nur über ein Zielgruppen-Verständnis können Produkte entwickelt und der gesamte Marketingprozess gesteuert werden. Die Zielgruppenfindung und -definition ist allerdings anspruchsvoller und schwieriger als je zuvor. Und zu Do-it-yourself: Wenn es Könner machen, wunderbar! Dies macht Marktforschung nur noch stärker, unterstreicht das hohe Qualitätslevel. Wenn es Nicht-Könner machen ist nur zu hoffen, dass Entscheider auf Basis so entstandener Daten dies rechtzeitig merken.
Machen wir also wie von Joachim Gauck für Deutschland empfohlen: Das Erreichte sehen, aus guten Gründen nicht verzagt sein und selbstbewusst vorwärts sehen und gehen.
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