Wie die Deutschen mit der Flüchtlingssituation umgehen Von der nationalen Schutzheiligen zum Willkommensengel

Im Interview mit marktforschung.de beschreibt Psychologe Stephan Grünewald vom rheingold-Institut die Stimmungslage der Deutschen vor dem Hintergrund der Flüchtlingssituation und erklärt, inwiefern Mutter Merkel zum Willkommensengel wurde und Sympathien eingebüßt hat.

Stephan Grünewald, Psychologe und Mitbegründer des rheingold instituts (Bild: rheingold institut)

marktforschung.de: Herr Grünewald, wie würden Sie die aktuelle Stimmung der Deutschen  beschreiben?

Stephan Grünewald: Wir stellen grundsätzlich fest, dass die Gesellschaft innerlich zerrissen ist. Es gibt gerade vor dem Hintergrund der schrecklichen Ereignisse im Mittelmeer einen tiefen Konflikt zwischen der Notwendigkeit zu helfen und den sehr großen Ängsten, die gewohnten Besitzstände zu verlieren, das heißt in einen unabsehbaren Wandlungsprozess hineinzugeraten.

Außerdem beobachten wir an den Rändern der zerrissenen gesellschaftlichen Mitte zwei Extreme: Das eine sind die Willkommensromantiker, die dem Thema eher euphorisch begegnen, hier aber sehr stark ausblenden, welche Risiken, Probleme und Herausforderungen damit verbunden sind. Und auf der anderen Seite haben wir die Untergangsapologeten, die komplett ausblenden, welche Notwendigkeiten humanitärer Art, aber auch welche Chancen für Deutschland damit verbunden sind.

marktforschung.de: Stehen sich beide Gruppen unversöhnlich gegenüber oder welche Tendenzen sehen Sie in diesem Zusammenhang?

Stephan Grünewald: Das Problem ist, dass die bürgerliche Mitte, und somit die mit Abstand größte Gruppe der Gesellschaft, in eine Zerrissenheit geraten ist, in der sie sich lange Zeit, vor allen Dingen vor den Ereignissen in der Silvesternacht in Köln, nicht getraut hat, Probleme klar auszusprechen.  Sie fürchtete, egal wie sie sich äußert, in eine Ecke hineingeschoben zu werden, in der sie sich nicht zu Hause fühlt. Entweder gilt man als Willkommensromantiker oder was vielleicht noch schlimmer ist, man artikuliert Zweifel und wird dann sofort als Pegida- oder Nazi-verdächtig qualifiziert. Die Willkommensseite möchte im Übrigen im Flüchtling nur das Opfer sehen. Die andere Seite sieht die Leute nur als Täter, da ist dann die Opferseite komplett ausgeblendet. Wichtig zu erkennen ist aber, dass es unter den Flüchtlingen Menschen gibt, die ein unglaubliches Potenzial haben, die andererseits aber auch viel lernen müssen. Oder anders betrachtet, wo es eben vorbildliche, tolle Menschen, aber auch Arschlöcher gibt.

Warum die Silvesternacht zu einer nationalen Inventur zwingt

marktforschung.de: Stellt die Silvesternacht von Köln Ihren Beobachtungen zufolge einen Wendepunkt dar?

Stephan Grünewald: Köln ist in gewissem Sinne ein Wendepunkt, weil die Gefahr, dass die Mitte komplett zerreißt und wir in eine gesellschaftliche Spaltung hineingeraten, zumindest kleiner geworden ist. Es gibt jetzt einen gemeinsamen Blickpunkt. Das heißt, durch die zugespitzten Ereignisse in Köln sehen die Willkommensromantiker auf einmal die unleugbaren Probleme, die es zu lösen gilt und die immensen Herausforderungen, die damit verbunden sind. Umgekehrt erleben die Untergangsapologeten, dass die sogenannte Lügenpresse seit Wochen darüber berichtet und dass Probleme jetzt klar benannt werden.

Somit ist aus diesen diffusen Befürchtungsphantasien ein konkretes Bedrohungsszenario geworden, das behandelbar ist. Denn je unkonkreter eine Befürchtung ist, desto stärker kann sie mit Angst besetzt und mit Schreckensszenarien aufgefüllt werden. Die Wirklichkeit ist nicht so schlimm wie unsere heimlichen Phantasien. Das ist wie in einem Vampirfilm: Der Schrecken ist am größten, so lange man den Vampir nicht gesehen hat, so lange das diffuse Grauen herumwabert, sobald der Vampir aber aufgetaucht ist, hat man Knoblauch, Kreuze und Pfähle, um sich zu wehren. Auf die Flüchtlingssituation bezogen heißt das: Das, was bisher verdrängt wurde, kann nun nicht mehr verdrängt werden. In diesem Sinne denken viele Menschen jetzt: Ich kaufe mir ein Pfefferspray, ich sorge dafür, dass die Polizei präsent ist, dass die Flüchtlinge aufgeklärt werden und dann werden wir dieser Bedrohung auch Herr. Es besteht die Chance, dass es ansatzweise wieder einen Common Sense gibt.

marktforschung.de: Welche Folgen kann dieser Wendepunkt nun konkret haben?

Stephan Grünewald: Angela Merkel hat es mit ihrem Zweckoptimismus und dem Satz "Wir schaffen das!" versäumt, klar aufzuzeigen, wie wir das schaffen und welchen Beitrag jeder Einzelne leisten muss. Es existiert an den Rändern nämlich auch die Position: Die schaffen uns. Nun gibt es die Chance, dass man ein gemeinsames Blickfeld, ein gemeinsames Aufgabenfeld hat. Im besten Sinne führt Köln nicht zu einer weiteren Spaltung und Radikalisierung, sondern dazu, dass wir in einen Inventurprozess kommen und dass jetzt Themen, wie öffentliche Sicherheit, Wohnungsnot, Bildung und Integrationskonzepte, die bisher nicht konkret angegangen wurden, unleugbar sind und vor allen Dingen jetzt endlich angepackt werden. Die Sicherheitsdefizite haben wir ja nicht erst seit Köln, sondern seit Jahren, aber das wurde immer wieder beschönigt oder vertuscht, das heißt, jetzt ist die größte Chance, dass wir sagen: Die Probleme sind erkannt, wir werden jetzt aktiv und können dadurch auch die schon lange schlummernden Gefahren bannen. Das verstehe ich unter einer nationalen Inventur, die jetzt im besten Falle eben ansteht.

Warum ein Dilemma zu Verdrängungstendenzen führen kann

marktforschung.de: Die Meinung "Die schaffen uns" scheint auch in Österreich verbreitet zu sein, wie schätzen Sie die Auswirkungen der Entscheidung Österreichs für eine Obergrenze auf die Stimmung der Deutschen ein?

Stephan Grünewald: Die Obergrenze ist ja so etwas wie ein verzweifelter Vermittlungsversuch. Wir sind in dem grundsätzlichen Dilemma, dass wir uns schuldig machen, egal was wir tun. Denn was passiert mit den Menschen, wenn wir beschließen, sie nicht mehr reinzulassen? Dann haben wir eine humanitäre Katastrophe, die wir nicht verantworten wollen. Wenn wir sie unbegrenzt reinlassen, dann sind wir irgendwann an den Kapazitäten unserer Aufnahmefähigkeit und dann gefährden wir auch die innere Stabilität. Das heißt, wir sind in einem klassischen Dilemma und das führt dazu, dass es im Moment diese Verdrängungstendenzen gibt. Das heißt, wir suchen beschönigende oder radikale Lösungen, um uns dieses Dilemma vom Hals zu halten.

Wenn man das tiefenpsychologisch betrachtet, dann spielt sich dieser ganze Konflikt vor dem Hintergrund eines schon seit Jahren voranschreitenden gesellschaftlichen Erosionsprozesses ab: Wir haben den Glauben an uns, die Institutionen, den Wert unserer Freiheit mehr und mehr aus dem Blick verloren, wir sind als Gesellschaft saturiert und bequem geworden und haben uns in einer Vollkaskomentalität eingerichtet. Vor diesem Hintergrund erleben wir, dass auf einmal Menschen in unser Land eindringen, die ganz anders sind als wir, die todesmutig sind, die eine ungeheure Risikobereitschaft, klare Ziele und Träume, einen familiären Zusammenhang und ganz klare, zum Teil zementierte Rollenbilder haben – während wir in einer Rollendiffusion sind. Das ist der tiefenpsychologische Kern dieser enormen Bedrohung.

Denn faktisch ist es ja schon seltsam, dass viele Menschen das Gefühl haben, die schaffen uns. Unterschwellig merkt man aber, es kommt eine Stärke und eine seelische Qualität ins Land, die diametral entgegengesetzt ist zu dem, was wir hier ausgebildet haben. Das macht sich dann vor allen Dingen an Frau Merkel fest, denn sie war immer so etwas wie die nationale Beruhigungspille, sie hat den Leuten eine konstante Gegenwart versprochen: Ich tröste euch, ich beruhige euch, ich sichere eure Besitzstände und ich konfrontiere euch nicht mit einer ungewissen Zukunft.

Wenn Mutter Merkel fremde Kinder mehr liebt

marktforschung.de: Wozu kann es führen, wenn nun dieser Zustand so massiv infrage gestellt wird?

Stephan Grünewald: Angela Merkel hat diesen Zustand selbst aufgehoben, das führt auch zu ihrem Sympathieverlust. Als Mutter Merkel war ihre Raute ein Sinnbild für eine fürsorgliche Umhegung. Nun hat sie die Arme ausgebreitet und damit die Raute geöffnet und ist vom Schutzheiligen der Heimat zum internationalen Willkommensengel geworden. An der Stelle fragen sich natürlich die Kinder, wen liebt Mutter Merkel mehr, die eigenen oder die fremden Kinder, die jetzt ins Land kommen und unsere Turnhallen besetzen? Unterschwellig ist die große Sorge bei einem Teil der Bevölkerung, dass die fremden Kinder mehr geliebt werden, gerade weil sie todesmutig und risikobereit sind.

Dieses Ressentiment, das wir im Moment erleben, ist umso stärker ausgeprägt, desto mehr die Menschen das Gefühl haben, selbst nicht genügend wertgeschätzt zu werden. Je mehr jemand das Gefühl hat, selbst zweitklassig zu sein, keine Bestätigung im Privaten oder auf der Arbeit zu finden, in desto stärkerem Maße sieht er sich von den fremden Kindern bedroht, den fremden Geschwistern, die jetzt von der Mutter gehegt und gepflegt werden.

marktforschung.de: Hinzu kommt dann, dass uns die eigenen Werte fehlen. Inwiefern spielt das aus Ihrer Sicht eine Rolle?

Stephan Grünewald: Dieser Erosionsprozess existiert schon lange. Wir haben nicht nur eine Entideologisierung, wir haben uns auch von den Religionen verabschiedet, wir sind in eine Sphäre der Beliebigkeit geraten, zu der zwar einerseits große Offenheit, Liberalität und Toleranz gehört, die aber andererseits auch dazu geführt hat, dass viele die Orientierung verloren haben, dass viele den Wert unserer Freiheit gar nicht mehr schätzen können. Was ist denn unser Wertefundament, wofür sind wir bereit zu kämpfen? Das ist aus dem Blick geraten, weil wir das Gefühl haben, dass ohnehin schon alles da ist.

Im zweiten Teil des Interviews erklärt Stephan Grünewald, warum sich die deutsche Gesellschaft unbedingt wieder auf gemeinsame Werte einigen muss und warum es wenig hilfreich ist, Menschen als Pack zu bezeichnen.

Das Interview führte Dorothee Ragg.

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