Die neue Geschäftsleitung von infratest dimap im Interview Von der Freude an Herausforderungen und gewachsenem Vertrauen

Die neuen Geschäftsführer von infratest dimap: Michael Kunert und Dr. Nico A. Siegel haben Richard Hilmer abgelöst (Bilder: infratest dimap)
marktforschung.de: Herr Kunert, Herr Dr. Siegel, Sie haben jüngst die Geschäftsführung von infratest dimap übernommen. Ihr Vorgänger Richard Hilmer hat die Geschicke des Unternehmens fast zwei Jahrzehnte lang verantwortet – der Führungswechsel dürfte also schon einen tiefen Einschnitt in der Firmenhistorie markieren. Was ändert sich nun im Unternehmen? Und: Wie groß ist Ihr Respekt vor der neuen Aufgabe als Geschäftsführer?
Michael Kunert: Erst Mal überwiegt da die Freude auf die neue Herausforderung! Aber natürlich schwingt auch großer Respekt vor der Aufgabe mit: schließlich liefern wir mit der 18 Uhr-Prognose an Wahlsonntagen live für die ARD die Zahlen, die den weiteren Verlauf des Abends maßgeblich prägen. Die Güte unserer Prognose wird zudem bei den meisten Wahlen bereits wenige Stunden später durch das vorläufige amtliche Endergebnis überprüft. Wir gehen aber auch sehr selbstbewusst in die Zukunft: seit vielen Jahren arbeiten wir nicht nur an den Wahlwochenenden, sondern zum Beispiel auch für den ARD-Deutschlandtrend als "Team". Dass die Institutsleitung besondere Verantwortung trägt, ist völlig klar, allerdings können wir uns auf eine breit gefächerte Expertise unserer Mitarbeiter stützen.
Nico A. Siegel: Richard Hilmer hat die Geschicke des Instituts in den zurückliegenden Jahren stark geprägt. Insbesondere war er in der Öffentlichkeit das Gesicht des Instituts, wenn es um kurzfristige demoskopische Einschätzungen ging – hier hinterlässt er zweifellos eine spürbare Lücke. Diese angemessen zu schließen, ist eine unserer Kernaufgaben für die nächsten Wochen und Monate.
marktforschung.de: Herr Kunert, Sie kennen infratest dimap ebenfalls seit der Gründungsphase. Was waren aus Ihrer Sicht bislang die Milestones in der Geschichte des Unternehmens?
Ein Meilenstein: der erste DeutschlandTREND für die ARD
Michael Kunert: Da ist als aller erstes das Jahr 1997 zu nennen: zum einen die Hamburgwahl im September, unsere erste Wahlberichterstattung für die ARD. Die Software lief nicht stabil und wir hatten kurz vor 18 Uhr schon "tief in den Abgrund gesehen". Letztlich konnten wir aber der ARD die gewünschten TV-Grafiken zur Verfügung stellen und unsere Zahlen waren richtig gut. 1997 haben wir auch unseren ersten DeutschlandTREND für die ARD durchgeführt, den wir im Laufe der Jahre zu einer starken Marke ausgebaut haben. Weitere Milestones waren 1999, erstes Wahlwochenende mit süddeutschem Kommunalwahlrecht, 2004 mit einem radikalen Methodenwechsel bei den Exit Polls und 2013 mit DualFrame als Standarderhebungsmethode bei deutschlandweiten ARD-Erhebungen und einer kompletten Neuprogrammierung zur Grafikproduktion, die neue Möglichkeiten wie die Steuerung des TouchScreens ermöglicht.
marktforschung.de: In der Öffentlichkeit werden die Prognosen der Institute ja häufig sehr kritisch beäugt, zuletzt beispielsweise in Großbritannien bei der Wahl zum britischen Unterhaus: Wie gehen sie mit der Kritik um?
Nico A. Siegel: Ich denke, hier hilft nur eine klare Trennung zwischen dem, was wir als Prognosen veröffentlichen und was als "Trendmessungen" der aktuellen politischen Stimmung. Nehmen Sie ein prominentes Beispiel für unsere Arbeit, den ARD-DeutschlandTrend. Wir legen immer großen Wert darauf zu betonen, dass es sich bei Parteianteilen zur Sonntagsfrage nicht um eine "Prognose" handelt. Aufgrund nachlassender Parteibindung, einer größer werdenden Zahl von Wählerinnen und Wähler, die bis wenige Tage vor dem Gang zur Wahlurne noch nicht entschieden haben, wen sie wählen und anderen kurzfristig wirksamen Faktoren in der Endphase von Wahlkämpfen können wir mit mehreren Wochen oder Monaten Abstand bis zur nächsten Wahl keine belastbaren Prognosen liefern.
Am Wahltag, wenn wir Punkt 18 Uhr mit der Schließung der Wahllokale auf Sendung gehen, nachdem wir mehrere zehntausend Menschen direkt nach ihrer Stimmabgabe im Wahllokal nach ihrer Wahlentscheidung befragt haben, dann – und nur dann – sprechen wir von Prognosen. Und die sind im Zeitverlauf in den vergangenen 20 Jahren stetig besser geworden, mit nur geringfügigen Abweichungen gegenüber dem Endergebnis.
marktforschung.de: Den Experten dürfte der Unterschied verständlich sein – aber ist die Differenzierung auch der breiten Öffentlichkeit klar? Wie kann hier für mehr Transparenz gesorgt werden?
Nico A. Siegel: Indem man immer wieder darauf hinweist …
Michael Kunert: … und auch in den Veröffentlichungen sehr konsequent ist. Bei allen unseren Erhebungen werden Informationen über Feldzeit, Fallzahl, Erhebungsmethode, komplette Fragen- und Antworttexte und auch spezielle Hinweise zur Sonntagsfrage mit veröffentlicht.
Vertrauen in politische Parteien nimmt ab
marktforschung.de: Demokratie erschöpft sich nicht in Stimmungen und Wahlen: In Deutschland wird in den Medien häufig von einer Parteienverdrossenheit, oder gar von einer allgemeinen Politikverdrossenheit gesprochen: Was sagen eigentlich ihre Umfrageergebnisse dazu?
Nico A. Siegel: Ein wahrlich weites Feld…
Michael Kunert: …in der Tat! Pauschal eine stets wachsende Politikverdrossenheit zu attestieren, greift jedenfalls deutlich zu kurz und im Lichte unserer Umfrageergebnisse auch weitgehend daneben. Viele Menschen beschäftigen sich natürlich nicht so häufig und intensiv mit politischen Fragen wie Berufspolitiker, Journalisten, Politikwissenschaftler oder "Partei- und Verbandsaktivisten". Dennoch äußert die Mehrheit der Bevölkerung hierzulande ein Interesse an Politik und am politischen Geschehen. Was wir allerdings immer wieder bei unseren Umfragen feststellen ist: das Vertrauen in die politischen Parteien nimmt ab. Nur noch eine Minderheit der Deutschen glaubt, diese handeln in ihrem Sinne an guten politischen Lösungen.
Nico A. Siegel: Die Krux ist ja: die Befürwortung der Demokratie und ihrer fundamentalen Pfeiler wie Freiheitsrechte, ist über alle politischen Lager hinweg sehr hoch und stabil, nur an den politischen Rändern messen wir hier eine signifikante Skepsis. Der "politische Alltag" in unserer Parteien- und Mediendemokratie sorgt dagegen zunehmend für Kritik, ja Misstrauen. Der "Vertrauensentzug" trifft beide Seiten dessen, was man in der Wissenschaft als "politischen Prozess" bezeichnet: die so genannte "Input-Seite" des politischen Prozesses, wenn es um tradierten Verfahren politischer Teilhabe geht, was sich verstärkt in Forderungen nach alternativen Formaten der "Bürgerbeteiligung" äußert. Und auf der "Output"- oder Leistungsseite politischer Prozesse werden die Ergebnisse politischer Entscheidungen, also im klassische Sinne die "Regierungstätigkeit", ebenfalls zunehmend kritisch betrachtet.
Abnehmende Parteibindung und größere Volatilität des Wahlverhaltens
marktforschung.de: Inwieweit erschweren solche Trends eigentlich die Arbeit eines Politik- und Meinungsforschungsinstituts?
Michael Kunert: Drücken wir es freundlich aus, diese Entwicklungen machen unsere Arbeit nicht unbedingt leichter. Die abnehmende Parteibindung resultiert in dem, was wir als "größere Volatilität" des Wahlverhaltens bezeichnen. Das erschwert längerfristige Vorhersagen…
Nico A. Siegel: ...Dabei kommt auch noch die Entwicklung des Parteiensystems hinzu. Bis in die 1980er Jahre hatten wir in der alten Bundesrepublik über rund drei Jahrzehnte eine Art "konsolidiertes Zwei-einhalb-Parteiensystem", in dem – von einigen Ausnahmen abgesehen –, die Unionsparteien, SPD und FDP die maßgeblichen politischen Parteien waren. Mittlerweile haben wir es mit einem ausgewachsenen Mehrparteiensystem zu tun, in dem oft sechs oder sieben Parteien bei einer Wahl realistische Chancen auf den Einzug in das jeweilige Parlament haben. Eine erhebliche Fragmentierung der politischen Landschaft…
marktforschung.de: Nun, das dürfte zwar die Komplexität Ihrer Aufgaben erhöhen, aber erzeugt das wirklich – sagen wir mal – Gegenwind bei der täglichen Arbeit?
Michael Kunert: Naja, wir haben insgesamt überhaupt keinen Grund zur Klage! In der täglichen Arbeit sorgt unser Bekanntheitsgrad, den wir der Zusammenarbeit mit der ARD verdanken, für viel "Rückenwind". Wenn wir per Telefon die Menschen anrufen oder an ihren Türen klopfen, um face-to-face Interviews durchzuführen, öffnen sich "Türen und Ohren" der Menschen häufiger als das bei anderen Instituten der Fall ist.
Nico A. Siegel: Dem kann ich nur zustimmen. Bei allen Trends, die das Leben umfragebasierter Politik- und Meinungsforscher heutzutage erschweren: Was kann man sich Schöneres vorstellen als für den Marktführer im deutschen Fernsehen zu forschen, darüber hinaus Wissenschaftler mit qualitativ hochwertigen Umfrageergebnissen zu versorgen!
marktforschung.de: Sie haben es gerade angesprochen: Ihre Arbeit in einem sehr relevanten Themenbereich für eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt öffnet Ihnen Türen bei potentiellen Umfrageteilnehmern. Nur wenige Institute können für sich in Anspruch nehmen, als "Marke" in der Öffentlichkeit bekannt zu sein. Nun ist die oft zitierte rückläufige Teilnahmebereitschaft an Markt- und Meinungsforschung beileibe nicht der einzige Aspekt, mit dem der Branche vielfach mangelnde Zukunftsfähigkeit attestiert wird. Wie ist es denn aus Ihrer Sicht um die Zukunft der Wahl- und Politikforschung bestellt?
Markt für Wahl- und Politikforschung ist gewachsen
Michael Kunert: In den vergangenen Jahren ist der Markt für Wahl- und Politikforschung gewachsen, eine ähnliche Diskussion wie in der Marktforschung können wir wahrlich nicht erkennen. Allerdings müssen auch wir uns für künftige Herausforderungen wappnen, dies gilt insbesondere für die Investition in unsere Technologie, sei es während der Datenerhebung, sei es bei der Präsentation der Ergebnisse.
marktforschung.de: Inwieweit tangieren die methodischen Diskussionen bezüglich Digitalisierung die Arbeit von infratest dimap? Werden Ihre Erhebungsmethoden in zehn Jahren noch die gleichen sein?
Nico A. Siegel: Bis heute zeichnet sich im Markt der anspruchsvollen Politik- und Sozialforschungsstudien nicht ab, dass eine Erhebungsmethode wirklich "ausstirbt". Nehmen Sie nur den Bereich face-to-face: während hier in der Marktforschung in den vergangenen Jahren ein schmerzhafter Schrumpfungsprozess stattfand, ist die Nachfrage in unserem Markt erheblich gestiegen: und zwar vor allem die Nachfrage nach "best practice"-Designs. Neben schriftlich, persönlich-mündlich sowie Telefon ist Online als alternativer Erhebungsweg hinzugekommen. Die einzelnen Methoden haben sich teilweise in verschiedene Facetten aufgesplittet, teilweise werden sie unter dem Stichwort mixed mode aber auch intelligent miteinander verbunden.
Michael Kunert: Und lassen Sie mich hinzufügen: Die qualitativ hochwertigsten Bevölkerungsbefragungen werden in der Politik- und Sozialforschung nach wie vor interviewergestützt durchgeführt. Sowohl der Qualitätsvorsprung der Stichproben als auch der Angaben, die wir bei f2f-Interviews und auch bei methodisch robusten CATI-Befragungen erhalten, ist gegenüber alternativen Online-Surveys oder gar non-survey based Daten immer noch frappant.
marktforschung.de: Noch einmal zurück zur ARD: Was ist aus Ihrer Sicht der wesentliche Grund für die langfristig erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen dem Sender und den Landesanstalten und infratest dimap?
Nico A. Siegel: Mit Abstand der wichtigste Faktor ist das "gewachsene Vertrauen", basierend auf Expertise und dem daraus resultierenden gegenseitigen Respekt! Wir wissen, unter welchem Druck Redakteure bei Live-Sendungen stehen, unsere Ansprechpartner bei der ARD wissen: auf unsere Expertise können sie sich verlassen...
Michael Kunert: … denn die Qualität unserer Umfragen und die dazugehörige Einordnung der Ergebnisse sind Eckpfeiler für die so wichtige Seriosität unserer Auftraggeber…
Nico A. Siegel: ... und vor allem für unseren wichtigsten Auftraggeber, die ARD! Natürlich soll die Zusammenarbeit bei aller Verantwortung, die unsere Tätigkeit mit sich bringt, auch Spaß bereiten. Das funktioniert nur dann, wenn die Chemie zwischen den Beteiligten stimmt. Es muss immer allen auf unserer Seite klar sein: wir agieren hauptsächlich im Hintergrund, die Ansprechpartner der ARD vor den Kameras und Mikrofonen.
Interviews und Einschätzungen zur politischen Lage
marktforschung.de: Heißt das, sie geben künftig gar keine öffentlichen Interviews und Einschätzungen zur politischen Lage und Stimmung?
Michael Kunert: Wenn wir gefragt werden, geben wir gerne auch unsere Einschätzung ab. Aber wir sehen unser Ziel nicht darin, durch möglichst viele Auftritte oder künstlich provozierende Aussagen vor Kameras oder Mikrofone zu gelangen. Auf die richtige Dosierung kommt es bei den Auftritten in der Öffentlichkeit an, im Zweifel tendieren Nico Siegel und ich eher zur Zurückhaltung als vorschneller Interviewtätigkeit.
Nico A. Siegel: Uns kommt es vor allem auf die Seriosität der Aussage und deren Mehrwert im Sinne einer "unparteiischen" Experteneinschätzung an. Wir definieren unsere Stellung am Markt nicht dadurch, dass unser Namen mit möglichst oft zitierten Aussagen in der Zeitung steht. Unser "impact" beruht zuallererst auf dem Mehrwert für seriöse, expertenbasierte Politikforschung in Deutschland.
marktforschung.de: Nun, Sie profitieren aber ja auch davon, wenn der Name Ihres Unternehmens in der Öffentlichkeit fällt, wie Sie ja selbst sagten. Ohne den sprichwörtlichen Teufel an die Wand malen zu wollen: Was passiert mit infratest dimap, wenn die ARD als Auftraggeber wegfällt?
Nico A. Siegel: Seien Sie versichert: Für die neue Führung ist oberste Priorität, dass die ARD ein noch zufriedenerer Auftraggeber wird und dies auch bleiben wird.
marktforschung.de: Herr Kunert, Herr Dr. Siegel, dann wünschen wir viel Erfolg - herzlichen Dank für das Interview!
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