Von Datenbrillen, Tennisbällen und Cornflakes-Packungen

Andera Gadeib (Bild: Dialego AG)
marktforschung.de: Frau Gadeib, Sie arbeiten seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Virtual Reality (VR) in der Marktforschung. Wie sind Sie damals dazu gekommen?
Andera Gadeib: Mitte der 1990er Jahre habe ich angefangen, mich für meine Diplomarbeit intensiv mit der Frage zu beschäftigen, wie man Marktforschung in Zukunft betreiben wird. Ich wollte das Kaufverhalten im Internet erforschen und suchte dafür nach passenden Instrumenten. Während eines Studienaufenthalts an der George Mason University in Fairfax, Virginia, habe ich dann zum ersten Mal die Möglichkeiten von Virtual Reality kennengelernt. Ein Professor am dortigen Institut forschte daran, die Realität virtuell abzubilden. Das hat mich fasziniert. Sie müssen sich vorstellen, damals war es noch richtig kompliziert, überhaupt einen simplen Fragebogen online zu stellen.
marktforschung.de: Wie sah eine virtuelle Realität denn zu dem Zeitpunkt aus?
Andera Gadeib: Der Professor in Fairfax betreute am Informatik-Institut ein Projekt, das Phänomene der Physik mithilfe von Virtual Reality anschaulich für Schüler aufbereiten wollte. Es ging darum, Magnetfelder zu visualisieren: In der Realität sieht man sie nicht, virtuell kann man sie aber abbilden. Um die Magnetfelder sichtbar zu machen, dunkelte die Projektgruppe den realen Testraum ab und warf den virtuellen Raum per Beamer an die Wand. Mithilfe eines Tennisballs, den die Forscher zum Datenhandschuh umfunktioniert hatten, konnten sich die Probanden im virtuellen Raum bewegen. Sie konnten zum Beispiel einen Minus- und einen Pluspol setzen und sahen, wie sich das Magnetfeld dazwischen aufzog. Wenn sie einen weiteren Pluspol setzten, sahen sie, wie das Magnetfeld abgelenkt wurde. Ich saß also bereits vor 20 Jahren mitten in der virtuellen Realität und der Zukunft der Datenvisualisierung.
marktforschung.de: Brauchten Sie keine VR-Brille?
Andera Gadeib: Nein, das war nicht nötig. Ich glaube auch, dass die Brillen oft eine Art Sinnbild für VR sind. Technisch gesehen würde vieles auch ohne funktionieren. Die Fragen hinter Virtual Reality sind ja: Wie kann ich etwas sichtbar machen, das sonst nicht sichtbar ist? Wie kann ich in eine Welt eintauchen, ohne real dort zu sein?
marktforschung.de: Der Virtual-Reality-Professor inspirierte Sie letztlich zu Ihrem wissenschaftlichen Forschungsprojekt, in dem Sie virtuell das Einkaufsverhalten im Supermarkt simuliert haben. Wie haben Sie das Thema umgesetzt?
Andera Gadeib: VR war damals noch sehr neu. Die Programmiersprache VRML (Virtual Reality Modeling Language) steckte in den Kinderschuhen und sollte online virtuelle Welten darstellen. Leider hat sie sich bis heute nicht durchgesetzt. Für den virtuellen Supermarkt habe ich zunächst geometrische Objekte digital abgebildet. Als Vorlage nutzte ich Cornflakes-Packungen. Das waren sehr dankbare Objekte: groß, eckig, mit bunten Bildern. Mit diesen baute ich dann meinen ersten kleinen VR-Supermarkt selbst nach.
marktforschung.de: Ist die Programmierung eines virtuellen Supermarkts eigentlich einfacher geworden?
Andera Gadeib: Nicht unbedingt. Ein Supermarkt ist sehr kleinteilig und wenn man ihn immer wieder neu bestücken muss, ist das viel Detailarbeit. Ständig kommt neue Ware dazu. Die Hersteller entwickeln neue Produkte am Fließband, da der Konsument nach Neuem ruft. Fast Moving Consumer Goods, die ich in meiner Arbeit vorwiegend abbilde, sind eben im Wortsinne schnelldrehende Güter.
marktforschung.de: Mit Gründung des Marktforschungsunternehmens Dialego AG haben Sie Ihre Forschung zum Geschäftsmodell gemacht. Wie kam es dazu?
Andera Gadeib: Während meiner wissenschaftlichen Arbeit war ich quasi ein Ein-Frau-Forschungsunternehmen und habe neben der Forschung bereits virtuelle Marktforschung für erste Kunden gemacht. Im Jahr 1999 ist daraus dann Dialego entstanden. Zu Beginn waren die Kunden von der VR-Idee total begeistert. Das änderte sich aber.
marktforschung.de: Wie meinen Sie das?
Andera Gadeib: Als ich Ihnen erklärt habe, wie hoch der Aufwand für so ein Projekt ist, schreckten viele zurück. Es dauerte damals mehrere Wochen, einen virtuellen Supermarkt zu bauen, und es kostete einen fünfstelligen Betrag. Der große Aufwand, den die VR-Marktforschung damals erforderte, stand in keinem Verhältnis zu den Erkenntnissen. Auch die Handhabung war ein Problem: Die Probanden bewegten sich per Mausklick durch den virtuellen Raum. Das konnten Computerspieler zwar intuitiv. Doch Hausfrauen, die noch nie mit einem Computer gearbeitet hatten, konnten damit nichts anfangen. Dadurch stieg natürlich das Risiko, durch die Stichprobeneinschränkung Einbußen in der Erkenntnisqualität hinnehmen zu müssen.
marktforschung.de: Wie konnten Sie trotzdem bei VR als Geschäftsmodell bleiben?
Andera Gadeib: Ich habe nach alternativen Szenarien gesucht, Supermärkte digital darzustellen. Klar war: Ich musste die Komplexität reduzieren. Ich bin dann bei einem relativ einfachen virtuellen Modell gelandet: Dort konnten Probanden Packungen auf Skalen hin- und herschieben und bewerten, sie mussten sich nicht selbst durch den Raum bewegen. Die Programmierung war auch nicht so aufwendig, da ich anstelle eines kompletten Supermarkts nur fünf Packungen nebeneinander gestellt hatte. Die Fragen waren angelehnt an klassische Befragungen: Wie neuartig ist das Produkt? Wie stark spricht Sie die Verpackung an? Das war zwar nicht neu, aber die Probanden bewerteten ein dreidimensionales Produkt, das sie per Computermaus betrachten und verschieben konnten.
marktforschung.de: Sie wollten aber doch nicht bloß eine Meinung über einzelne Produkte abfragen, sondern einen kompletten Supermarkt virtuell abbilden, oder?
Andera Gadeib: Genau. Das habe ich auch irgendwann geschafft. Heute sind wir wieder zur virtuellen Darstellung eines oder weniger Regale zurückgekehrt. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass es gar nicht nötig ist, einen kompletten Supermarkt virtuell abzubilden. Will man herausfinden, wie sich jemand im Supermarkt bewegt, sind reale Tests vielversprechender, zum Beispiel Beacon-Technologien am Einkaufswagen oder Handy. Wenn es allerdings darum geht, ein neues Produkt auf den Markt zu bringen, ist ein Test mittels VR wirkungsvoll. Und dafür reicht halt auch ein einziges Regal.
marktforschung.de: Welche Fragestellungen lassen sich mit Virtual Reality besser untersuchen?
Andera Gadeib: Ein Beispiel: Wenn Hersteller mehrere Verpackungs-Designs eines neuen Produkts zur Auswahl haben, simulieren wir ein virtuelles Regal. So kann man sehen, wie die Produkte im Gesamtumfeld wirken, wie sie sich einfügen. Das ist authentischer, als wenn man einfach eine Liste mit Konkurrenzprodukten macht oder Fotos ausdruckt. In der virtuellen Welt können wir außerdem verschiedene Entfernungen zum Regal simulieren. Gängig sind ein bis drei Meter Abstand zu den Produkten. So kann man sehen, ob neue Produkte oder Verpackungen auf Kunden wirken. Zieht das Produkt die potenziellen Käufer an? Betrachten sie es näher? VR-Tests eignen sich zudem für offene Fragestellungen. Wenn ein Hersteller beispielsweise einen Fruchtriegel auf den Markt bringt und nicht weiß, an welcher Stelle des Supermarkts der Kunde danach suchen würde, können wir auch das simulieren. Wir bereiten unterschiedliche Regalszenarien vor: Wir positionieren den Riegel dann einmal im Müsli-Umfeld und einmal im Reformhaus-Regal. Bei solchen Tests geht es aus Herstellersicht auch darum, den Handel zu überzeugen, wo ein Produkt am besten zu platzieren ist.
marktforschung.de: Wie läuft so ein Test genau ab?
Andera Gadeib: Wir nehmen repräsentative Stichproben aus rund 250 Probanden. Jeder Teilnehmer bekommt dann ein Szenario, durch das er sich per Mausklick navigieren kann. Im Schnitt bilden wir 40 oder mehr Produkte pro Supermarktregal ab. Wir vergleichen dann statistisch, welches Szenario wie abschneidet. Wir messen zum Beispiel, was der Proband betrachtet hat, wann er ein Produkt angefasst oder gekauft hat.

marktforschung.de: Haben Ihre Probanden Vorerfahrung mit Virtual Reality?
Andera Gadeib: Das ist keine Voraussetzung. Die Mehrzahl hat davon schon etwas gehört, aber noch nicht damit gearbeitet. Nur ein Viertel aller Probanden haben VR bereits ausprobiert. Das sind dann meist junge Männer unter 29 Jahren. Mit ihnen könnte man heute auch komplexe Virtual-Reality-Marktforschung mit einer Datenbrille machen. Doch die Mehrzahl unserer Probanden ist technisch noch nicht so weit. Gerade die kaufkräftigen Bevölkerungsschichten zwischen 45 und 65 Jahren sind dem Thema noch sehr fern. Damit alle wichtigen Zielgruppen unserer Kunden und damit auch ältere Probanden an unseren Tests teilnehmen können, haben wir den Online-Supermarkt technisch so einfach wie möglich gestaltet.
marktforschung.de: In welche Richtung wird sich der virtuelle Supermarkt in dem kommenden fünf bis zehn Jahren entwickeln?
Andera Gadeib: Ich bin gespannt, was bei den Datenbrillen passiert. Ich kann mir vorstellen, dass sie zu einem wichtigen Instrument werden können. Wenn sie auch im Hausgebrauch genutzt werden, können wir mehr technisches Vorwissen voraussetzen und so die Tests komplexer gestalten. Ich glaube aber, dass die breite Masse davon noch weit entfernt ist. Potenzial haben auch unterschiedliche Formen der Eingabe und Navigation: Die klassische Tastatur und Maus werden bereits heute zunehmend durch andere Technologien abgelöst, etwa durch Touchscreens oder Spracherkennung. Und so etwas wie die Messung der Augenbewegung per Datenbrille steht noch am Anfang der Entwicklung. Wenn eine neue Technologie auf den Markt kommt, probieren wir sie sofort aus und schauen, ob wir daraus einen Nutzen für die Marktforschung generieren können. Spielerei reicht nicht. Bei VR sehe ich da aktuell weniger Ansatzpunkte als beispielsweise im Feld der künstlichen Intelligenz und Big Data.
marktforschung.de: Frau Gadeib, vielen Dank für das Gespräch.
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