Vom Warum zum Wie: Die Bedeutung systemischen Denkens für die Marktforschungspraxis
Alles ist System
Was haben Familien, Teams, Unternehmen und Märkte gemeinsam? Sie sind allesamt Systeme, in denen Menschen funktionsfähige Beziehungen zueinander anstreben und auf Dauer stabilisieren wollen. Um Beziehungen zu anderen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, muss man erfolgreich kommunizieren. Mit Kommunikation ist hierbei alles gemeint, was eine Person oder eine Institution aussenden und andere Personen als eine Botschaft verstehen können: bei Menschen zum Beispiel Sprache, Mimik und Gestik, Kleidung, bei Unternehmen zum Beispiel Produkte, Markenimage, werbliche Kommunikation, Sponsoring, Service.
Erfolgreich kommunizieren bedeutet, dass jeder der Beteiligten am Ende den Eindruck hat, der andere habe ihn verstanden. Das zu erreichen, ist kein leichtes Unterfangen. Wenn zwei oder mehr Menschen miteinander kommunizieren, so ereignet sich ein vielschichtiger Prozess, der weit über das hinausgeht, was normalerweise bewusst bemerkt wird. Jeder erlebt den anderen, aber keiner kann zunächst erkennen, was der andere über ihn denkt oder von ihm erwartet. Die Situation ist völlig offen und ungeklärt. Jeder kann sich so oder auch anders verhalten. Kommunikation kann dann schnell scheitern, weil der andere nicht versteht, was man meint, weil die Botschaft den anderen nicht erreicht oder weil die Mitteilung beim anderen keine Wirkung erzielt.
Den Zustand der Instabilität und das daraus resultierende Gefühl der Unsicherheit kann niemand aus eigener Kraft auflösen. Vielmehr treibt dieser Zustand etwas an, was Luhmann soziales System nennt. Denn um sicher zu gehen, dass man sich grundsätzlich richtig versteht, handeln Menschen einen Konsens über Bezeichnungen und deren Bedeutungen aus, und sie entwickeln explizite und implizite Regeln des Umgangs miteinander.
Diese spezifischen Interaktionsmuster in sozialen Systemen entwickeln sich auf der Basis von Vorerwartungen, die sich in zirkulären Kommunikationsprozessen bilden. Auf ein Kommunikationsangebot erhalten die Akteure eine Reaktion. Infolge des positiven oder negativen Feedbacks machen sich die Akteure in dem Kommunikationsprozess eine Vorstellung davon, welches Verhalten und welcher Sprachcode akzeptiert ist. Sie verhalten sich dann entsprechend ihrer Vorstellung, was andere von ihnen erwarten. Dies ist besonders augenfällig, wenn Akteure gegen die expliziten und impliziten "Spielregeln" verstoßen, wie hier am Beispiel der Interaktion innerhalb einer Familie illustriert. Auch Familien bzw. das Paar als kleinste Familieneinheit bilden interne Erwartungs- und Kommunikationsmuster aus. Ein Kommunikationsakt, der für den Empfänger der Kommunikation erwartungsgemäß verläuft, könnte sich folgendermaßen abspielen:

Eine Kommunikation, die den familiären Kommunikationsmustern und damit den Erwartungen des Empfängers widerspricht, könnte dagegen wie folgt verlaufen:

Durch inneren und äußeren Wandel wird das fragile Interaktionsgefüge verstört und gerät in Unordnung. Um die Funktionsfähigkeit des Systems aufrechtzuerhalten, werden die gegenseitigen Erwartungen, Verhaltensmuster wieder neu ausgehandelt und an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst. Diese Aushandlungsprozesse haben wieder zum Ziel gegenseitiges Verstehen und damit Sicherheit und Stabilität herzustellen.

Dieses Prinzip ist die Grundvoraussetzung für den Systemerhalt und lässt sich auf alle Bereiche übertragen, in denen Menschen miteinander zu tun haben. Auf diese Weise funktionieren Freundschaften, Familien, Arbeitsgruppen, Unternehmen, Parteien und im Übrigen auch Märkte.
Die Systemtheorie und der Radikale Konstruktivismus haben grundlegende Erkenntnisse dazu geliefert, wie sich Personen durch das Aushandeln von Bedeutungen und Regeln zu Systemen organisieren. Das systemisch-konstruktivistische Paradigma bildet eine Meta-Theorie, die zurzeit konkurrenzlos erscheint und viele anwendungsbezogene Disziplinen von der Familientherapie über die Organisationsentwicklung bis zur Unternehmensführung grundlegend beeinflusst hat. Seit der Jahrtausendwende entdecken auch das Marketing und das Innovationsmanagement systemtheoretische Ansätze und ihr Potenzial zum Verstehen komplexer Zusammenhänge zunehmend für sich.
Was heißt das für die Marktforschungspraxis?
Auch Märkte sind Systeme, die sich durch ständige Interaktion und das Aushandeln von Bedeutungen bilden und organisieren. Zwischen den Subsystemen "Anbieter" und "Kunden" laufen oben beschriebene Kommunikationsprozesse ab, und die Stabilisierung der Anbieter-Kunden-Beziehung beruht auf der Ausrichtung an den Erwartungen des jeweils anderen. Der Anbieter erwartet, dass die Zielgruppe von seinem Unternehmen bestimmte Leistungen erwartet. Die Zielgruppe entwickelt ihrerseits bestimmte Erwartungen an den Anbieter, seine Produkte und seine Kommunikation und erwartet, dass diese Erwartungen erfüllt werden. Indem ein Anbieter die in ihn gestellten Erwartungen zuverlässig erfüllt, bildet sich Vertrauen und Stabilität aus.
Systemische Forschung beobachtet diese Prozesse aus der Meta-Perspektive. Es wird nicht allein die Kundenseite in den Fokus gerückt, sondern die Interaktionsmuster zwischen Anbieter und Kunden im kontextuellen Umfeld (wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Wettbewerb). Ziel dabei ist nachzuvollziehen, welche gegenseitigen Vorerwartungen die Beziehung prägen, wo Kunde und Anbieter sich treffen und wie erfolgreich sie miteinander kommunizieren. Hierzu werden alle relevanten Berührungspunkte zwischen Anbieter und Zielgruppe (Produkte, Vertriebskanäle, Services, Werbung) betrachtet und die Schnittstellen untersucht, wo sich Kundschaft und Anbieter verstehen und wo sie aneinander vorbei kommunizieren, um schlussendlich funktionsfähige Interaktionsmuster zu etablieren und eine dynamische Stabilität in das System zu bringen.

Systemische Forschung und Entwicklung initiiert dabei einen gemeinsamen Lern- und Entwicklungsprozess und setzt sich aus drei Forschungsschritten zusammen:
- Die Analyse der Anbieterperspektive
- Die Analyse der Kundenperspektive
- Die Verknüpfung der Perspektiven durch Interaktionsanalyse
Die Anbieterperspektive
In Unternehmen beobachten Mitarbeiter den Markt und entwickeln ein Bild vom Markt, in dem sich ihr Unternehmen bewegt. Im Verlauf alltäglicher Interaktion, handeln sie eine gemeinsame unternehmens- oder bereichsspezifische Vorstellung von der Marktsituation aus und entwickeln besagte Vorerwartungen (das, was das Unternehmen glaubt, was die Kunden von ihm im Unterschied zum Wettbewerb erwarten). Diese Vorerwartungen bestimmen wiederum alle Interaktion mit den Kunden, denn das Unternehmen bezieht sich in seinen Handlungen und Maßnahmen ausschließlich auf diese subjektive Wahrnehmung des Marktes und nicht auf die Realität. So sind alle Manifestationen von Unternehmen wie Produkte, Serviceleistungen oder Werbung immer Ausdruck dieser internen Kommunikationsprozesse und Erwartungsmuster.
Daher wird sowohl das offizielle (die „herrschende Meinung“) als auch das implizite Wissen (informelle Meinungen und Sichtweisen) der von dem Forschungsthema betroffenen Abteilungen (Workshop mit Vertretern der betroffenen Bereiche) gesammelt und in eine Struktur gebracht, mit dem Ziel die Gesamtsituation aus der Unternehmensperspektive zu erfassen. Bereits in dieser Phase werden erste Lernprozesse angestoßen: Indem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihr unterschiedliches Know-how und ihre Intuitionen austauschen, gelangen sie gemeinsam zu einem erweiterten Blick auf das Problemgelände und zu neuen Einsichten über Ressourcen und alternative Handlungsspielräume.
Die Kundenperspektive
Die Kunden beobachten ihrerseits das Feld, auf dem sich für sie der Markt ereignet und konstruieren sich ein Bild vom Unternehmen und seinen Leistungen. Damit die Kunden das Unternehmen im Feld der Marktinteraktion überhaupt beobachten können, müssen sich die beiden „Marktpartner“ erst einmal begegnen. Diese Begegnungen können bewusst vom Kunden herbeigeführt werden, indem er sich gezielt informiert und nach Anbietern und Produkten sucht. Sie können sich aber auch zufällig ereignen. Das Unternehmen begegnet den Kunden dann, ohne dass diese danach gesucht haben.
Treffen sich Kunden und Unternehmen (seine Marke, seine Produkte) an einem der Berührungspunkte, so selektieren die Kunden aus allen wahrnehmbaren Merkmalen diejenigen heraus, die mit ihrem Relevanzsystem korrespondieren. Den selektierten Informationen verleihen die Kunden eine subjektive Bedeutung, und infolge der Bedeutungszuweisung bewertet der Kunde das Produkt als für ihn attraktiv oder uninteressant. Bei ihren Handlungen (zum Beispiel Kauf oder Nicht-Kauf) beziehen sich die Kunden immer nur auf dieses subjektive Abbild von Produkt und Marke und nicht auf das Produkt oder die Marke selbst.
Eine erfolgreiche Interaktion zwischen Anbieter und Kunden findet dann statt, wenn sich im Hinblick auf Berührungspunkte und Bedeutungszuweisungen verlässliche Beziehungsmuster etabliert haben (sogenannte „Best Patterns“). Man trifft sich gezielt oder zufällig an denselben Orten und kommuniziert so, dass jede Seite den Eindruck gewinnt, die andere habe sie verstanden. In der Beziehung zwischen Anbieter und Kunden bildet sich dann ein gemeinsamer Sinnkern heraus, der der Kunden-Anbieter-Beziehung auf Zeit Stabilität verleiht.
Um den Erfolgsgrad der Interaktion zwischen Anbieter und Kunden zu erforschen, wird analysiert, was die Kunden beobachten, wenn sie den Markt beobachten, wie sie das Beobachtete interpretieren und bewerten und welches Relevanzsystem die Wahrnehmung und die Informationsverarbeitung steuert.
Die Verknüpfung der Perspektiven durch Interaktionsanalyse
Durch die Verknüpfung der beiden Perspektiven wird sichtbar, wo tragfähige und nützliche Interaktionsmuster zwischen Kunde und Anbieter bestehen und wo nicht. In einem Fall hat sich beispielsweise gezeigt, dass das, was das Unternehmen als Markt beobachtet, nicht konvergent ist mit dem, was die Kunden beobachten, wenn sie den Markt beobachten. Aus systemischer Sicht kann man sagen, die interne Komplexität entspricht nicht der externen. Derartige grundlegende Divergenzen zwischen Kunden und Unternehmen entfalten häufig ein komplexes Muster an Beziehungsstörungen.
So beobachteten zum Beispiel die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Anbieters ein geringer gewordenes Involvement bei den Kunden. Die auf diese Beobachtung abgestellten Maßnahmen führten aber nicht zum gewünschten Erfolg. Auf Unternehmensseite ging man nämlich davon aus, dass „Low Involvement“ gleichzusetzen sei mit einer sehr hohen Preisaffinität der Kunden. Bezogen auf diese Interpretation wurden viele verschiedene preisbezogene Maßnahmen realisiert. Für die Kunden bedeutete geringes Involvement aber noch etwas anderes, nämlich dass sie sich mit der Materie nicht gerne beschäftigen. Im Gegenteil, im Hinblick auf die Produktkategorie gibt es das große Bedürfnis nach Unterstützung und Entlastung bei der Orientierung und Entscheidungsfindung. Durch die diskontinuierliche Preispolitik erschwerte das Unternehmen den Kunden aber die Entscheidung, da sie viele Preisvergleiche anstellen müssen und sich damit intensiv mit der Materie befassen müssen. Die ergriffenen Maßnahmen verschlimmbesserten also das Problem, da man von falschen Erwartungen ausgegangen war.
Wenn solche und andere Interaktionsschwachstellen identifiziert sind, können neue Interaktionsmuster zwischen Anbieter und Kunden gefunden und etabliert werden. Der Handlungsspielraum wird erweitert und alternative Ressourcen können genutzt werden.
Die Lösung zweiter Ordnung oder das Problem hinter dem Problem
Unter systemischen Gesichtspunkten ist dies oft lediglich der erste Schritt: eine Lösung erster Ordnung, ein – wenn auch zielgerichtetes – „Herumdoktern am Symptom“. Denn viele Probleme werden intern verursacht und unterstützt, zum Beispiel wenn das vorherrschende unternehmens- oder bereichsspezifische Bild vom Markt zu wenig Ähnlichkeit mit dem Markt selbst hat, oder wenn zweckrational motivierte Umstrukturierungen die Bedürfnisse des Marktes zu wenig berücksichtigen, oder wenn das Gesetz der Trägheit und die Furcht vor Veränderung notwendige interne Anpassungsprozesse blockieren.
Systemische Forschung versucht daher eine Meta-Perspektive einzunehmen und Lösungen zweiter Ordnung zu finden. Dazu wird über den Tellerrand der Symptome hinaus geschaut, die Systemgrenzen werden erweitert, um dadurch das übergreifende Problem, das Problem hinter dem Problem zu entdecken. Denn: „Jedes Ding, das wir sehen, verdeckt ein anderes.“ (René Magritte)
Kommentare (0)
Noch keine Kommentare zu diesem Artikel. Machen Sie gerne den Anfang!
Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.
Anmelden