Arbeiten in der Marktforschung Vom Reiz des Entdeckens

Sie waren bereits für mehrere Unternehmen in ganz unterschiedlichen Bereichen tätig. Was ist so spannend am Arbeiten in der Marktforschungsbranche?
Tom Schultheiß: Die Marktforschung strahlt einen für mich ganz besonderen und dazu besonders wichtigen Reiz aus: Den Reiz des Entdeckens.
Unabhängig davon, ob Sie nun auf Seiten eines großen Forschungsinstituts, eines neuen Tech-Startups in unserer Branche oder aber in der Rolle des betrieblichen Wissensschürfers arbeiten, so werden Sie Tag für Tag mit der Aufgabe betraut, fundierte Einblicke in Kunden, Wettbewerber oder auch ganze Gesellschaften zu ermöglichen. Kenntnisse werden täglich hinterfragt und weiter geschärft.
Von außen entsteht oft der Eindruck "Marktforschung kann ja jede*r". Inwiefern würden Sie dem widersprechen?
Tom Schultheiß: Meine Botschaft lautet: Die Marktforschung ist weit mehr als eine Kostenstelle. Sie verfolgt die Ambition durch das undurchsichtige Geflecht von Emotionen und Datenmassen zu navigieren.
Da erinnere ich mich noch an einen anschaulichen Fall vor einigen Jahren: Es ereilte mich ein Anruf eines Betriebsmarktforschers, der kurz zuvor Daten über eine Benchmarking-Studie erhalten hatte, die in einer anderen Abteilung erhoben wurden. Sobald jene Abteilung in die Daten blickte, entstand erstmal große Verwunderung, aus welchem Grunde die Daten nicht interpretierbar waren und man kam nicht drumherum, die Frage an ihn weiterzureichen, womit er sich gleich an uns wandte. Mehr Augenpaare sehen nun mal mehr.
Bei unserem Blick in die Zahlen offenbarte sich, dass diese nicht über einen Panel-Partner, sondern zwecks Kostenersparnis über ein Werbenetzwerk erhoben wurden. Dass der Großteil der europäischen Befragten zumeist nicht aus Europa kam sowie über 70 Prozent einen 20-minütigen Fragebogen in menschenunmöglicher Geschwindigkeit bewältigt hatten, ist wohl erstmal nicht weiter aufgefallen. Beim Säubern der Daten wurden somit aus 800 Fällen nun 300. Und aus 300 wurden 50. Und aus 50 wurde Panik bei der verantwortlichen Abteilung.
Hier kam der wirklich kritische Punkt: Verständnisvoll kommunizieren, wie man gemeinsam nun das Beste rausholt und das Ruder rumzureißen vermag. Wenig später konnten wir gemeinsam siloübergreifend(!) das Unterfangen doch noch zum Erfolg führen – eben auch mit der Erkenntnis, welchen Mehrwert Marktforschung tatsächlich treiben kann.
Auf ein Unternehmen, das den Wert fundierter Informationen erkennt, kommen wahrscheinlich viele, bei denen mangelhafte Daten zu mangelhaften Entscheidungen führen. Solange dies der Fall ist, haben wir in der Branche noch eine große Aufgabe vor uns.
Sie haben sehr viele Perspektiven auf die Marktforschung erlebt. Welches ist Ihr ganz persönliches Lieblingsfeld?
Tom Schultheiß: Wenn ich auf meine Tätigkeiten so zurückblicke, so denke ich vor allem an zwei Felder: Auf der einen Seite liebe ich es, meine Analytiker-Kenntnisse spielen zu lassen. Es ist immer wieder ein Zauber für sich zahlreiche Fragestellungen zu sezieren, nach signifikanten Unterschieden zu fahnden und auch mal per Machine Learning nach Mustern zu suchen, an die man vorher vielleicht noch gar nicht gedacht hat.
Auf der anderen Seite findet sich eine gewichtige Beratungskomponente. Niemand kann etwas mit Zahlenkolonnen anfangen, wenn nicht klar wird, welche Erkenntnisse daraus gewonnen werden können. Ergebnisse entstehen nicht im Report, sondern im Kopf derer, die ihn wahrnehmen.
Welche Besonderheiten haben Sie in den einzelnen Bereichen erlebt? Und was können Sie aus Ihrer ganz persönlichen Erfahrung als Mensch der Branche aus dem Nähkästchen berichten?
Tom Schultheiß: In der Marktforschung erhält man häufig die Möglichkeit auch mal Neues auszuprobieren, Grenzen zu sprengen und über sich hinauszuwachsen. Ein schönes Beispiel: Es gab mal ein Projekt, an dem der Kunde erfahren wollte, wie seine Endkunden über ihn dachten. Nun muss man dazu wissen, dass es sich um einen Service-Spezialisten im B2B-Bereich handelte, was rein klassisch-quantitative Ansätze vor schwer lösbare Herausforderungen stellte. Nach intensiven Gesprächen entstand ein recht ungewöhnlicher Hybrid aus teilgestützte 1-on-1-Tiefenexplorationen und folgender Treiberanalyse, den wir so in der Form noch nie durchgeführt hatten. Wir waren uns allerdings gewiss, dass es funktionieren musste. Und es funktionierte.
Man könnte gewissermaßen sagen, Sie sind ein Allrounder. Gibt es so etwas überhaupt wirklich? Was ist Ihre Beobachtung? Wohin geht der Trend: Brauchen Angestellte in der Branche einen breiten Erfahrungsschatz in möglichst vielen Bereichen oder tiefgehende Expertise in einem ganz bestimmten Fachgebiet?
Tom Schultheiß: Eher sehe ich mich als jemand, der sehr unterschiedliche Bereiche des Forschungsprozesses kennengelernt hat und sich mehr und mehr auf Analytik und datenbasiertes Consulting fokussiert. Grundsätzlich gilt aus meiner Sicht: Das Verständnis übers Ganzheitliche hilft ungemein, wenn man Forschungsfragen schon mal selbst entwickelt, Fragebögen programmiert sowie die Studien erhoben, analysiert und die zentralen Ergebnisse anderen nähergebracht hat.
Ich denke, ein Meister der eigenen Domäne wird innerhalb des fraglichen Fachgebiets den Allrounder in der Regel überschatten. Definitiv gibt es Forscher, die methodisch über vielfältige Fähigkeiten verfügen und dafür weniger in die branchenspezifische Materie eintauchen. Gerade in Instituten kann dies von Vorteil sein, wenn man sich sowohl mit den Fragestellungen von IT-Konzernen als auch von kleinen Lebensmittelherstellern konfrontiert sieht und damit die Fertigkeiten auf themenagnostischer Basis gestählt werden.
Unabhängig davon, ob wir nun über spezielle Kenntnisse in Branchenfragen oder aber über bestimmte methodischen Fertigkeiten sprechen, so spüren wir, dass sich die Erwartungshaltung an uns Marktforscher gewandelt hat. Wir müssen imstande sein nicht nur blanke Zahlen, sondern auch Erklärungen zu den Zahlen zu liefern und zu interpretieren. Und es hilft auch, ein paar gewagte Impulse ins Feld zu führen.
Den nebulösen Vorhang vor dem "Warum?" zu lichten, das ist ein zunehmend dominierender Faktor.
Und jetzt nochmal in einem Satz: Was ist so spannend am Arbeiten in der Marktforschungsbranche?
Tom Schultheiß: Das Wundervolle an der Marktforschung zeigt sich darin, dass Menschen aus völlig unterschiedlichen Bereichen zusammenkommen, um das Wissen von morgen zu schaffen.
Zur Person

Das Interview führte Manuel Fuß
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