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Vom rationalen Ideal zu den Irrationalitäten im Alltag. Perspektivenwechsel in den Wirtschaftswissenschaften?

Von Prof. Dr. Dominik H. Enste und Anna-Carina Tschörner, Institut der deutschen Wirtschaft Köln
Ausgangspunkt der Reise vom rationalen Ideal zu den Irrationalitäten im Alltag ist die ökonomische Welt und das stringente, wenngleich von sehr restriktiven Annahmen geprägte neoklassische Theoriegebäude mit spezifischen Aussagen zu den Präferenzen der Menschen, zur Entscheidungsfindung und zum rationalen Verhalten sowie zur Nutzenmaximierung. Diese Vorstellungen der neoklassischen Ökonomen sind nicht zuletzt durch die Finanzkrise aber auch die Forschungsergebnisse der Behavioral Economics oder Verhaltensökonomik ins Wanken geraten.
Das rationale Ideal
Die klassische Theorie legt eine Welt zugrunde, in der Menschen sich rational verhalten, über vollständige Informationen verfügen und Verhalten vor allem über monetäre Anreize gesteuert wird. Zu den Grundannahmen des neoklassischen “Homo oeconomicus” zählen die Eigennutzannahme, die Nutzenmaximierung sowie die Rationalität des Handelns auf der Basis transaktionsfreier vollständiger Information. Der Homo oeconomicus der neoklassischen Theorie maximiert vollkommen informiert auf vollkommenen Märkten ohne institutionelle Beschränkungen seinen Nutzen unter Sicherheit. Die relativen Preise sind dabei als Knappheitsindikatoren der entscheidende Faktor. Das Individuum wägt in einer Knappheitssituation Vor- und Nachteile, Nutzen und Kosten der einzelnen Alternativen gegeneinander ab und wählt dann diejenige, die den höchsten Nettonutzen verspricht (rationale Wahl). Grundlage dieses Menschenbilds ist das Eigennutzaxiom, das von gegenseitig desinteressierter Vernünftigkeit ausgeht. Mit anderen Worten, ich tue das, was mir nützt und möchte den anderen dabei weder schaden noch nützen, sondern bin an deren Nutzen nicht weiter interessiert, weder neidisch noch altruistisch, sprich desinteressiert. Der Homo oeconomicus kennt keine Selbstkontrollprobleme, das heißt, er tut das, was auch langfristig in seinem wohlverstandenen Eigeninteresse liegt. Dieses Menschenbild hat den Vorteil, dass es die Entwicklung formaler Modelle erleichtert, mit denen menschliches Verhalten in bestimmten Situationen erklärt und vorausgesagt werden kann. Doch spätestens seit Daniel Kahneman 2002 den Nobelpreis für Ökonomie für seine Forschungen auf dem Gebiet der Verhaltensökonomik zur „Prospekt Theorie“ erhalten hat, scheint auch der Mainstream der modernen Mikroökonomie zu akzeptieren, dass deren Annahmen zu restriktiv sind. In der Literatur finden sich mittlerweile Forschungsergebnisse zu fast einhundert kognitiven Verzerrungen oder Denkfehlern, d.h. zu systematischen Abweichungen von der rationalen Entscheidungsfindung, welche die Kognitionspsychologie gefunden hat.
Kognitive Verzerrungen: Eingeschränkt rationales Verhalten
- Satisficing: Das Satisficing-Konzept und das Konzept einer „Bounded Rationality“ (eingeschränkte Rationalität) stellen erste Abschwächungen der strikten Annahmen der Neoklassik dar: Statt von der Maximierung des Nutzens auszugehen, wird angenommen, dass das Individuum – in Abhängigkeit von seinem Anspruchsniveau – nach einer „befriedigenden Alternative“ (Satisficing) sucht. Eine solche Wahl ist unter Berücksichtigung der Informationssuch- und -verarbeitungskosten rational. Die Annahme einer beschränkten Rationalität trägt der Begrenztheit menschlicher Informationsverarbeitung Rechnung. Der Mensch ist nicht in der Lage, sämtliche Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, sondern muss sich auf wenige, besonders wichtige Problembereiche konzentrieren. Dennoch werden vielfach wirtschafts- oder steuerpolitische Entscheidungen getroffen, die vom Idealbild des rationalen Bürgers ausgehen und nur in der Theorie zu effizienten Lösungen führen. Erst im Zuge der Debatte über „Better Regulation“ und Bürokratieabbau wurden die begrenzten kognitiven Fähigkeiten implizit in die Überlegungen aufgenommen, bisher jedoch ohne explizit Bezüge zur Verhaltensökonomik herzustellen und deren Erkenntnisse systematisch zu nutzen.
- Gamblers Fallacy und Hot Hand Fallacy: Die Prinzipien der Wahrscheinlichkeitstheorie werden auch bei der „Gamblers Fallacy“ (Fehlschluss eines Glückspielers) “ und der „Hot Hand“-Fallacy („einen Lauf haben“) nicht beachtet, die als weitere relevante Verhaltensanomalien nachgewiesen wurden. Bei Glücksspielern konnten diese Verzerrungen als erstes beobachtet werden: Wenn beim Roulette mehrmals Schwarz gewonnen hat, tendieren viele Spieler dazu, auf Rot zu setzen. Die zunehmende Neigung, auf Rot zu setzen, je häufiger Schwarz zuvor gewonnen hat, wird als Gamblers Fallacy bezeichnet (vgl. Croson/ Sundali, 2005). Die „Hot Hand“-Fallacy beschreibt das Gegenteil: Wenn Schwarz so oft gefallen ist, dann wird auch beim nächsten Mal wieder Schwarz kommen. Es handelt sich um Verzerrungen, da die Ereignisse jeweils unabhängig voneinander sind. Solche Verzerrungen spielen zum Beispiel auch im realen Leben beim Bewerbungsprozess von Arbeitssuchenden eine Rolle. Schätzungen zeigen, dass die „Hot Hand Fallacy“ die Wahrscheinlichkeit, Langzeitarbeitslos zu sein, um 6,1 Prozentpunkte ansteigen lässt, wobei für Alter, Geschlecht, Schulbildung und Haushaltseinkommen kontrolliert wurde. Mit anderen Worten: Die persönliche Erwartung, dass nach einer Reihe von Absagen dann auch wieder eine Absage kommen wird, führt letztlich dazu, dass die Arbeitslosigkeit länger andauert.
- Framing: Weitere Vereinfachungen für die Entscheidungsfindung sind Skripte und Schemata (standardisierte Vorstellungen über typische Sachverhalte oder Personen) sowie Frames (handlungsleitende Ziele oder Leitmotive). Skripte und Frames können erklären, warum Akteure in (objektiv) gleichen Situationen aufgrund einer jeweils unterschiedlichen (subjektiven) Situationsdefinition zu anderen Ergebnissen und Entscheidungen kommen. Ein dominierender Frame beeinflusst den Evaluationsprozess und die Bewertung der Alternativen. Diese Ergebnisse stehen im Widerspruch zu traditionellen, von subjektiven Faktoren abstrahierenden Entscheidungstheorien und bestätigen den Einfluss von individuellen Situationsdefinitionen. Zahlreiche Beispiele aus dem alltäglichen Leben zeigen dies. Ein Zuschlag von 2 Cent pro Liter für Kreditkartenzahlung an Tankstellen wurde in den USA heftig diskutiert. Der Abschlag für Barzahlung in gleicher Höhe wurde klaglos akzeptiert.
- Verlustaversion: Auch dem Referenzpunkt kommt, wie Kahneman/ Tversky in ihrer „Prospekt-Theorie“ (1979/1992) beschrieben haben, entscheidende Bedeutung zu. Meist dient der Status Quo als Referenzpunkt für die Bewertung von Veränderungen oder Alternativen. Dies ist u. a. deshalb von Bedeutung, weil Menschen Verluste stärker gewichten als Gewinne. Menschen unternehmen größere Anstrengungen, um einen Verlust zu vermeiden, als um einen gleich hohen Gewinn zu erzielen. Die Nutzenfunktion verläuft demnach im Verlustbereich steiler als im Gewinnbereich (vgl. auch Kahneman, Knetsch, Thaler, 1991). Praktische Bedeutung kann dies etwa im Kontext der Steuerpolitik gewinnen: Menschen hinterziehen mehr Steuern, wenn sie eine Steuernachzahlung befürchten (Verlustvermeidung). Wenn sie eine Steuererstattung erwarten (Gewinnerzielung), verhalten sie sich risikoaverser und sind ehrlicher bei der Versteuerung des Einkommens.
Egoismus versus Altruismus
Gemäß den Axiomen der neoklassischen Ökonomie verhalten sich Menschen stets eigennützig. Dies bedeutet: Menschen befolgen Gesetze nur dann, wenn sie andernfalls mit Strafe (sprich: Kosten) rechnen müssen. Sind Sanktionen unwahrscheinlich oder aber trivial, werden sie versuchen, z.B. den Staat auszunutzen – durch Steuerhinterziehung oder durch ungerechtfertigten Bezug von Sozialtransferleistungen.
Studien zeigen jedoch, dass sich Menschen in einem ständigen Dilemma befinden, zwischen Eigennutz und Altruismus, zwischen Kooperation und Defektion. In Entscheidungssituationen greift der Mensch auf ihm bekannte Heuristiken und Bewertungsstrategien zurück, um diese sozialen Dilemmata zu lösen. Ökonomen und ökonomische Laien unterscheiden sich dabei entscheidend in ihren Bewertungen: Ökonomische Laien wenden eine Fairness-Heuristik (Daumenregel) zur Bewertung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen im Hinblick auf Arbeitslosigkeit, Staatshaushalt, Wirtschaftswachstum an. Für Ökonomen sind hingegen die Effizienz und der erzielbare wirtschaftliche Vorteil einer Maßnahme am wichtigsten. Grundlage für die Entscheidungen und Bewertungen sind wiederum verschiedene kognitive, in diesem Fall ethische Verzerrungen. Diese basieren implizit auf gesinnungsethischen, deontologischen Maximen. Wichtig ist den ökonomischen Laien somit nicht, ob der Nutzen (z.B. Wohlstand für alle) gesteigert werden kann, sondern ob die Motive gut waren (z.B. mehr Gerechtigkeit erreicht werden sollte), ohne dass Gerechtigkeit klar definiert ist und auch nicht zählt, ob sie erreicht wurde. Kurzum: Während der Ökonom nicht nach den Motiven einer Handlung fragt, sondern auf die Performanz offener Märkte setzt, gilt für ökonomische Laien genau das Gegenteil. Fairnessbeurteilungen orientieren sich dabei vielmehr an den folgenden Daumenregeln und unterliegen diversen logischen Fehlschlüssen:
- Do-no-harm Heuristik: Die „Do-no-harm“-Daumenregel beschreibt die Aversion von Menschen, anderen Personen Schaden zuzufügen. Oberstes Ziel ist es, andere Personen vor Schaden zu bewahren und zu schützen, wobei das Motiv und der Wille und nicht das Ergebnis der Handlung entscheidend sind. Damit verbundenen ist der „Identifiable victim effect“, also der Effekt von identifizierbaren Opfern/ Geschädigten. Insbesondere wenn Schaden von einzelnen Personen oder Gruppen abgewendet werden soll, die sich von der anonymen Masse abheben, setzen Menschen große Energien und finanzielle Ressourcen ein, um Hilfe zu leisten oder um Solidarität zu bekunden. Dieser Bias kann zur Festschreibung des „Status quo“ führen, selbst wenn durch Politikmaßnahmen viele besser gestellt werden könnten, aber eine kleine Gruppe Schaden nehmen würde (vgl. Abschaffung von Subventionen für Landwirte oder der Steuerfreiheit von Feiertags- und Sonntagszuschlägen etc.). Generell bevorzugen Menschen das „Ist“, halten länger bestehende Regeln für gerecht (Status Quo-Bias), selbst wenn diese willkürlich oder zufällig sind. Die Nachteile für einzelne Personen werden deshalb in den Medien immer entsprechend prominent dargestellt (Krankenschwestern und die Besteuerung von Nachtzuschlägen, Hartz IV Empfänger etc.). Allerdings werden bei der Bewertung wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen vor allem die kurzfristigen Konsequenzen für die unmittelbar Betroffenen einbezogen, die langfristigen Konsequenzen jedoch weitgehend vernachlässigt.
- Fixed-Pie-Bias: Außerdem nehmen ökonomische Laien die Summe des Wohlstands ebenso als eine Konstante wahr wie auch die Summe der Arbeitsplätze (Fixed-Pie-Bias). Bei der Bewertung von wirtschaftlichen Maßnahmen führt die Intuition, dass nur ein bestimmtes, fixes Volumen an Arbeit, Arbeitsplätzen, Einkommen, Kapital und Löhnen zur Verfügung steht, zu Neiddebatten und eine Fokussierung auf Verteilungsfragen. Im Zentrum steht die gerechte Verteilung des vorhandenen Kuchens (Pie) und nicht die Frage, wie der Kuchen möglichst groß werden könnte. Wohlfahrtszuwachs einer Gruppe ist in dieser Perspektive nicht ohne Wohlfahrtsverluste Anderer möglich („Nullsummenspiel“), eine Kompensation der Verlierer durch die Gewinner wird genauso wenig in Betracht gezogen wie die Möglichkeiten eines Zuwachses insgesamt. Die Dynamik wirtschaftlicher Prozesse wird dabei systematisch unterschätzt. Diese Fixed-Pie-Annahme findet sich in der Argumentation für eine gerechtere Verteilung der Arbeitszeit zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wieder, aber auch bei der (Um-) Verteilung des Bruttosozialprodukts, über die heftig gestritten wird, statt über Chancen für eine größere Partizipationsgerechtigkeit aller beim gemeinsamen Erreichen eines höheren Sozialprodukts nachzudenken.
Fazit
Diese wenigen Beispiele sollen zeigen, welche Impulse die Verhaltensökonomik für die Erforschung menschlichen Verhaltens liefern kann. Dabei verhalten sich Menschen nicht unbedingt irrational, sondern im Prinzip „nur“ beschränkt rational, nämlich insofern sie Kosten und Nutzen aufgrund mangelnder Informationen oder kurzfristiger, individueller Präferenzen nur begrenzt richtig einschätzen. Letztlich kann man zwei grundlegende Systeme, nach denen wir Entscheidungen treffen, unterscheiden: (1) das schnelle, von Daumenregeln und Heuristiken bestimmte Denken und Entscheiden sowie (2) das langsame, abwägende und eher rationale Denken und Entscheiden für komplexere, wichtigere und von mit einem höheren Involvement verbundene Situationen (vgl. Kahneman, Daniel, 2014 – Schnelles Denken, langsames Denken). Beide Wege können somit je nach Situation Sinn machen.
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