Gábor Hahn, Harris Interactive Qualitative Forschung - Vom Eldorado in die hybride Zukunft

Ausgelöst durch die Pandemie wurden in der qualitativen Forschung viele Formate wie z. B. Gruppendiskussionen ins Digitale überführt. Nun ist die Entwicklung in eine hybride Zukunft im Gange, in der traditionelle und digitale Tools miteinander kombiniert werden. (Bild: picture alliance / Zoonar | Robert Kneschke)
Als qualitativ Forschende können wir selbstbewusst in eine hybride Zukunft mit einer Einheit aus traditionellen und digitalen Tools blicken. Eine Zukunft, spannend und herausfordernd zugleich. Der Köcher unserer methodischen Fähigkeiten hat sich gefüllt, ohne dass dauerhaft auf Bewährtes verzichtet werden muss. Qualitative Interpretation und Technologie bereichern sich gegenseitig, und Stichworte wie virtuelle Realität und künstliche Intelligenz machen Lust auf den Forschungsalltag kommender Tage. Dennoch – ohne Wasser in den Wein schütten zu wollen – es bleibt noch viel zu tun. Einige wichtige Felder der Weiterentwicklung dieser hybriden Zukunft seien beispielhaft angerissen.
Das volle Potential asynchroner Tools ausschöpfen
Aktueller Goldstandard qualitativer Forschung sind Remote-Interviews, -Diskussionen und -Workshops auf Basis von Videokonferenzen – oftmals mit sehr kreativen Erweiterungen zur Kollaboration. Auch die Bedeutung asynchroner Tools wie Boards, Blogs und Communities ist gestiegen, aber diese gelten oftmals noch immer als Lösungen für spezifische Zielgruppen und Fragestellungen. Somit hat sich die Bedeutung der räumlichen Nähe relativiert, diejenige der Zeit ist aber mit der Synchronität der Kommunikation erhalten geblieben. Im pandemischen Survivalmodus der Jahre 2020 und 2021 war dies sicher kein Problem. Jetzt gilt es hier aber, den nächsten Schritt zu machen und das Potential der Asynchronität auszuschöpfen – etwa für ein Mehr an Tiefe und Autoethnographie, einen Austausch ohne Meinungsführerschaft und eine größere Nähe am Alltag.
Gefragt sind lebendige, Vorteile miteinander verbindende Designs, Plattformen mit dem gewissen Etwas jenseits bereits etwas verstaubter Social Media-Anmutung. Daneben sollte unser Mut treten, als qualitative Forschende auch neue Rollen anzunehmen, die ein Stück der Verantwortung für eine gelungene Forschung an die Teilnehmenden delegieren. Hierbei erlangen assisted DIY-Lösungen eine größere Bedeutung als bisher. Die Möglichkeit zur Intensivierung des direkten Kontakts zwischen dem Unternehmen und seinen Kunden wird mit neuen asynchronen Tools weiter an Attraktivität gewinnen. Und analog zu den Teilnehmenden sind es auch die Stakeholder auf Kundenseite, die mit ihrer Perspektive deutlicher als bisher die Relevanz der Ergebnisse bereits im Forschungsprozess sichern.
Für uns als qualitative Forschende kann dies zukünftig eine Bereicherung bedeuten:
- Unsere Fähigkeit zu moderieren wird im gesamten Forschungsprozess benötigt,
- wir werden tiefer eingebunden in interne Fragestellungen und
- es bleibt mehr Zeit und Raum für Analysen und deren Diskussion.
Die gesamte Gesellschaft erreichen
Der gefüllte Köcher unserer methodischen Fähigkeiten hat auch den Pool derer vergrößert, die an qualitativen Studien teilnehmen. Am auffälligsten ist dies bei der Dimension „Raum“ mit der signifikant gestiegenen Erreichbarkeit ländlicher und kleinstädtischer Bevölkerungsgruppen, die neben die „klassische“ Studiobevölkerung innenstadtnaher Quartiere von Metropolen getreten sind. In ähnlicher Weise gilt dies für spezifische soziokulturelle Milieus und spitze Zielgruppen.
Hierbei stellt sich auch in Bezug auf Online-Tools die Frage der Erreichbarkeit immer weniger in technischer Hinsicht. 96 Prozent der Bevölkerung in Deutschland nutzen das Internet und sogar bei den über 70-jährigen liegt dieser Anteil bereits bei 77 Prozent. Der berühmte Silver Surfer ist nicht mehr allein ein Marketing-Traum, sondern beschreibt die mehrheitliche Lebensrealität. Zugleich ist mit den vergangenen zwei Jahren ein großer Zugewinn an digitaler Kompetenz in vielen Bevölkerungsgruppen verbunden. MS Teams, Zoom, Webex und andere sind in den lebhaften Alltag getreten – auch jenseits des geordneten Rückzugs der urbanen Mittelschicht in Homeoffice und Homeschooling.
Eine gewisse digitale Spaltung bleibt
Für ein zufriedenes Zurücklehnen ist es jedoch zu früh. Noch immer besteht eine digitale Spaltung, und gerade der Zugewinn an digitaler Kompetenz für Viele dürfte diese Spaltung für Wenige noch verschärft haben. Wenige, die dennoch als Zielgruppen von Produkten, Services und Marktforschung hoch relevant sein können und die zudem vermutlich auch mit traditionellen Verfahren schwer zu erreichen sind. Wir müssen uns also immer noch in jedem Fall fragen: Wen erreichen wir, wen aber auch nicht?
Erlaubt sei ein kleiner Exkurs: Mit dem Problem der Erreichbarkeit stehen wir als Marktforscher nicht allein. Mit der vielleicht größten Kampagne aller Zeiten mit breiter Unterstützung aus Politik, Wissenschaft und Medien ist im März 2022 nach zweijähriger Pandemie noch immer jeder sechste Erwachsene in Deutschland ungeimpft – eine wirklich große Zielgruppe, wenngleich in diesem Fall leider nur für einen Virus, den eine Mehrheit gerne verbannen würde.
Agiles Verstehen ermöglichen
Auch wenn es der qualitativen Forschung nie möglich sein wird, alles zu verstehen, so ist doch der Anspruch gewachsen, analog zum schnelleren Aufsetzen und Durchführen von Studien auch das Verstehen zumindest zu beschleunigen. Ergebnisse und Interpretationen nahezu in Echtzeit zu bieten, ist unabhängig von der jeweiligen Fragestellung wünschenswert und herausfordernd.
Jüngere technische Schritte zur Unterstützung der qualitativen Analyse umfassen etwa automatische Transkripte, Sentiment-Analysen und Wordwolken. Dies sind sicherlich häufig nützliche Tools und im Einzelfall auch sehr gelungene Visualisierungen. Eine umfassende Symbiose von qualitativer Tiefe und Beschleunigung ist mit Ihnen jedoch noch nicht gegeben – in der Regel fehlt hierzu schlicht die Aussagkraft.
Komplexe, stärker noch in der Wissenschaft verortete Ansätze zur umfassenden qualitativen Analyse großer Datenmengen basieren auf deduktiven oder induktiven Modellen, deren Erarbeitung und schrittweise Überprüfung mit einem hohen Aufwand verbunden ist – ein Aufwand, der sich schon aufgrund zeitlicher Limitierungen in der Welt der Marktforschung häufig nicht abbilden lässt.
Der Einzug Künstlicher Intelligenz
Neues Licht am Horizont verspricht der Einzug künstlicher Intelligenz. Noch in der Praxis beschränkt auf Details wie die automatische Codierung von Mimik, Verhalten oder Texten ist das Potential enorm – warum sollten weiterentwickelte Versionen von Alexa und Siri nicht Interviews führen und gleichzeitig im Hintergrund Analysedatenbanken aufbauen können – Datenbanken als Basis wirklich umfassender Analyse, die das Label qualitativ verdient?
Dies mag noch in fernerer Zukunft liegen – wichtiger erscheint mir auch das näher liegende Potential mit der künstlichen Intelligenz einen Partner in der Analyse zu gewinnen, der Teilanalysen beschleunigt und vor allem als Korrektiv dient. So verstanden verspricht der Einzug künstlicher Intelligenz nicht nur einen Gewinn an Zeit, sondern auch an Aussagkraft.
Losgelöst von Raum und Zeit wirklich alle zu erreichen und zu verstehen – dies ist ein Traum qualitativer Forscher – ein Traum, dem wir vielleicht noch nie so nah waren wie jetzt.
Über Gábor Hahn

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