Applied Science Virtual und Augmented Reality im Marketing: Was kommt da auf uns zu?

Diskussionsteilnehmer experimentieren mit VR auf der Veranstaltung "Artificial Intelligence (AI), Metaverse and all Else" in Antalya Anfang März 2022. (Bild: picture alliance / AA | Arif Hudaverdi Yaman)
First things first: Als wir im Sommer 2018 das erste Mal eine Oculus Rift aufsetzten und bei Freunden eine Runde Beat Saber spielten, dachten wir: Langsam aber sicher werden diese virtuellen Welten so gut, es kann nicht mehr lange dauern, bis auch Branchen fernab der Gaming-Industrie sinnvolle und überzeugende Anwendungen entwickeln werden. Prädestiniert dafür sind nicht nur Medizin, Bildung, Tourismus oder Entertainment, sondern auch das Marketing. So sagte schon Gartner 2018 voraus, dass sich VR als eine der zehn strategisch bedeutsamsten Technologien bis 2028 etablieren wird.
Die aktuelle Deloitte-Studie zu VR und AR zeigt zwar, dass sich der Markt mit deutlicher Verzögerung entwickelt, allerdings werden nach Schätzungen im Jahr 2024 in Deutschland mit VR-Hardware und -Inhalten 530 Millionen Euro umgesetzt und die jährliche Wachstumsrate (CAGR) wird zwischen 2019 und 2024 bei beachtlichen 30 Prozent liegen. Insbesondere beim Thema E-Commerce bieten AR und VR viel Potential. Neue Möglichkeiten zur personalisierten Visualisierung von Produkten versprechen nicht nur zusätzlichen Spaß, sondern auch zusätzlichen Nutzen beim Online-Shoppen. Hier profitieren naturgemäß visuell orientierte Bereiche wie Mode und Möbel am meisten.
Aktuelle Use-Cases entlang der Customer Journey
Laut dem eingangs erwähnten Review von Wedel et al. können VR-Anwendungen die Erfahrung und Entscheidungsfindung der Verbraucher in den Phasen vor, während und nach dem Kauf unterstützen. Entsprechend kann es sehr unterschiedlich sein, wie Nutzer mit VR-Systemen interagieren und auf sie reagieren, je nachdem in welcher Phase der Customer Journey sie sich befinden.
1. Die Pre-Sales-Stage
Im Zentrum der Pre-Sales Stage stehen natürlich Kommunikation & Werbung. Tatsächlich zeigen Studienergebnisse, dass AR-Werbung ein stärkeres Engagement und höhere Klickraten als klassische Online-Werbemittel erzielt und auch signifikant zur Steigerung von Markenimage und Kaufabsichten beiträgt. Beispiele sind AR-Werbemitel, die Verbraucherinnen und Verbrauchern die Interaktion mit Print- und Außenmedien über Mobile Apps, in der Regel über einen QR-Code, ermöglichen, der dann zu einer AR- oder VR-Schnittstelle führt. Dies macht Anzeigen interaktiv, bietet weiterführende Produktinformationen und erlaubt darüber hinaus genaueres Tracking.
Ein eindrückliches Beispiel bietet Sky Österreich in Zusammenarbeit mit dem TV-Sender FOX. Diese machten die heimischen Fans auf den Start der fünften Staffel der Serie "The Walking Dead" aufmerksam, indem eine Wiener Straßenbahnhaltestelle via Augmented Reality zum „Scary Shelter“ umgebaut und zwei Tage lang von Zombies heimgesucht wurde. Auch GM setzte für die Promotion des neuen SUVs auf AR und entwickelte zusammen mit Dentsu Aegis die weltweit erste interaktive digitale Out-of-Home-Kampagne.
Doch nicht nur Werbekontakte werden durch AR und VR immersiver gestaltet. Auch Produktplatzierungen können von AR profitieren, zum Beispiel indem ein Produkt in seiner Nutzung so in Szene gesetzt wird, dass es im (wünschenswerten) virtuellen Kontext erscheint und verwendet wird. 360°-, 3D- oder immersive Videoanzeigen können in Spielen, virtuellen Stores und VR-Sportübertragungen so platziert werden, dass sie auf die spezifischen Interaktionen eines bestimmten Nutzers mit der virtuellen Umgebung abgestimmt werden.
2. Die Sales-Stage
VR- und AR-Anwendungen werden vor allem in großem Umfang im Einzelhandel eingesetzt, wo sie nachweislich die Kaufbereitschaft erhöhen. Im stationären Einzelhandel erleichtert AR geplante Einkäufe, indem es Kunden ermöglicht, Produkte im Geschäft durch eine umgekehrte Bildsuche zu finden (etwa über Apps von Home Depot und IKEA). Weitere Anwendungen finden sich beispielsweise bei adidas, wo standardmäßig VR-Pretests zur Validierung von neuen Store-Konzepten eingesetzt werden, bevor teure Prototypen für den Einzelhandel erstellt werden müssen.
Auch der Immobilienmakler Engel & Völkers setzt auf VR, um Kunden beim Kaufentscheidungsprozess zu unterstützen und eine (nochmalige) virtuelle Besichtigung 24/7 zu ermöglichen. Natürlich werden auch AR-Anwendung zur Wohnungseinrichtung immer beliebter, da sie schnell und unkompliziert einen guten Eindruck darüber vermitteln können, inwieweit ein Möbelstück in den gegebenen Raum passt oder nicht.
ShelfZone® ist eine SaaS-Lösung zur Erstellung komplexer VR-Einzelhandels-Simulationen. Sie ermöglicht es Händlern, die Bildung von Warengruppen oder die Wirkung verschiedener Platzierungen und Facings mit einer Auswahl echter Kunden vorab risikoarm zu testen. Durch die Integration moderner biometrischer und neurowissenschaftlicher Messverfahren wie Eye-Tracking, EEG und GSR in die Testsituation können Marktforschende aussagekräftige Erkenntnisse zur Optimierung des POS sammeln.
Zusammengefasst kommt die Stärke von VR und AR in der Verkaufsphase voll zum Tragen: Sei es das Ausprobieren neuer Produkte daheim (z.B. Möbel), das Anprobieren von Klamotten in “smarten” Umkleiden, die virtuelle Besichtigung von Museen, Hotels oder Eigentumswohnungen oder das Bereitstellen von Produktinformationen und -empfehlungen, Rabatten, Werbeaktionen und Produktbewertungen, die entweder im Geschäft auf interaktiven digitalen Bildschirmen oder über VR/AR-Apps auf dem Endgerät des Kunden dargestellt werden.
3. Die After-Sales-Stage
Marken können AR/VR-Anwendungen in der Phase nach dem Kauf einsetzen, um das Konsumerlebnis zu verbessern, Kundenbeziehungen zu stärken und langfristig Kundenloyalität aufzubauen. In bestimmten Konsumgüterkategorien ist die geschaffene virtuelle Umgebung bereits selbst das Produkt, oftmals durch den Einsatz von HMDs (Head Mounted Displays) oder mobile AR-Anwendungen. Insbesondere Videospiele und eSports gewinnen in diesem Bereich immens an Popularität.
VR-Anwendungen als Produktangebot nehmen aber auch in den Bereichen Reisen, Kunst und News zu. So bietet zum Beispiel das Nationale Museum für Naturgeschichte in Washington/USA virtuelle Rundgänge durch ausgewählte Ausstellungen an und der TV-Sender BBC inspiriert mit der App „Civilisations AR“, mit der Nutzer 3D-gescannte Artefakte aus britischen Museen ins eigene Wohnzimmer projizieren und aus der Nähe untersuchen können.
Die am weitesten verbreiteten Anwendungen in diesem Bereich betreffen allerdings noch die Ergänzung und Verbesserung der Kundenerfahrung beim Konsum selbst, beispielsweise durch das Präsentieren weiterführender Produktinformationen (siehe Bombay Sapphire). Im After-Sales ermöglichen AR/VR-Anwendungen…:
- die Produktanpassung, -personalisierung und Co-Creation daheim oder am POS (häufige Use Cases im Bereich Mode, Schmuck und Kosmetika),
- die Verbesserung der Nutzungserfahrung beim Konsum und damit eine Steigerung des Produkterlebnisses (häufige Use Cases im Bereich Automobil- und Immobilienanwendungen oder Haushaltsgeräten, auch über Gamification- und Trainingselemente) sowie
- die Kontextualisierung und Reflexion nach dem Konsum (zum Beispiel durch das “Wiedererleben” von Reisen).
Die Gestaltung und der Einsatz von VR und AR sollte auf die verschiedenen Phasen der Customer Journey zugeschnitten sein, indem Informationen präsentiert werden, die mit den jeweiligen Phasenzielen der Verbraucher übereinstimmen und gewünschte Verhaltensweisen in der jeweiligen Phase fördern. Die folgende Abbildung gibt einen abschließenden Überblick:

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Michel Wedel et al. (2020).
Ausblick: Von VR und AR zum Metaverse?
Ein ganzer Artikel zu AR/VR und Marketing ohne das Metaverse zu erwähnen? Das geht natürlich nicht. Die akademische Forschung hat sich allerdings tatsächlich noch nicht systematisch mit dem Thema auseinandergesetzt, auch weil viel von dem, was im Zuge der Vorstellung angekündigt wurde, noch nicht umgesetzt ist. Inwieweit also Marken zukünftig Präsenz in Metas Paralleluniversum zeigen werden und dieses Spielfeld für Marketeers und Marktforschende wichtig wird, ist noch nicht absehbar.
Mit Blick auf vergangene (siehe die “Mercedes-Benz Island” in Second Life) und aktuelle Entwicklungen (der Hype um Non Fungible Tokens) ist allerdings davon auszugehen, dass zumindest einige Marken und Konsumenten dem Ruf von Metaverse, Microsoft und Co. folgen werden. Egal also, ob man First-Mover-Marke in entstehenden digitalen Welten oder Nachzügler in der um digitale Eindrücke erweiterten analogen Welt sein möchte - es führen immer weniger (erfolgversprechende) Wege um die Themen AR, VR und MR (mixed reality) herum.
In diesem Sinne - wir drehen jetzt eine Runde auf dem Mars.
Über Prof. Dr. Michael Fretschner & Prof. Dr. Jan-Paul Lüdtke


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