Vertrauen im chinesischen Alltag als Hintergrund zum Marktgeschehen

Recht und Verträge gelten nur bedingt als vertrauensstiftende Geschäftsgrundlage. Chinesen schöpfen ihr Vertrauen primär aus persönlichen Beziehungen. Im Markt orientieren sie sich vorwiegend am Word Of Mouth von Nahestehenden. Vertrauenspotential ist der Lackmustest für die Markenbindung in China.

Von Matthias Fargel

„Meine chinesischen Geschäftspartner haben wiederholt die Verträge ignoriert, zu ihrem Vorteil umgedeutet und ständig versucht, nachzuverhandeln. Sie waren nicht vertragstreu.“, klagte ein deutscher Geschäftsführer auf der Podiumsdiskussion „Doing Business in China“*. Er hatte sich vor den Unwägbarkeiten im Chinageschäft mit ausgefeilten Verträgen vermeintlich optimal abgesichert. Es kam offenbar anders.

Selbst mit honorigen Partnern kann es zu weit reichenden Missverständnissen führen, wenn man eine Geschäftsbeziehung ausschließlich auf ein formelles Vertragswerk aufbaut. Chinesen handeln überwiegend nach der Devise: „Verträge sind gut, Freundschaft ist besser“; in der Steigerungsform auch: „Familie ist am besten“. Diese Lehre geben Chinesen seit Jahrtausenden ihrem Nachwuchs mit auf den Weg und ist bis heute verhaltensprägend. Francis Fukuyma** klassifiziert China als eine typische „low trust“ Kultur. Bedeutet im chinesischen Alltag, dass man Personen, die nicht zu den zwei inneren „Guanxi-Kreisen“***, dem Familienclan und dem Netzwerk mit gegenseitigen Verpflichtungen angehören, zunächst wenig traut.

Nach der gleichen Nomenklatur ordnet Fukuyama Deutsche und US-Amerikaner den „high trust“ Kulturen zu; in dieser Hinsicht die kulturellen Antipoden Chinas. Angehörige der „high trust“ Kulturen sehen ihr Vertrauen in bisher Unbekannte durch allgemein gültige Sitten, detaillierte Gesetze und individuelle Verträge gerechtfertigt. Sie erwarten dasselbe vom Gegenüber, auch in China. Vieles auf dem Weg zu Chinas hippen Geschäftsadressen erscheint den Angehörigen aus „high trust“ Gesellschaften „wie überall in der zivilisierten Welt“. High-Tech-Flughäfen, gleißende Hochhausfassaden, internationale Hotelketten, vertraute Logos globaler Konsummarken, WTO–Beitritt, reformierte Gesetzestexte, smarte Consultants mit gutem Englisch, gestylte Sitzungsräume, Geschäftspartner, die sich per Handschlag mit westlichen Vornamen vorstellen... So umrahmt lässt sich leicht übersehen, dass in Shenzen, Shenyang oder Shanghai im Umgang untereinander dennoch genuin chinesisch gepolte Werte und Spielregeln gelten. 

Chinesen leben in einer Beziehungs- und Kontextkultur; das Verhalten richtet sich flexibel am aktuellen Gegenüber aus. Die Idee einer vertrauensstiftenden, universellen Rechtssicherheit mit Gleichheitsanspruch für jedermann in allen Standardsituationen hat in China weder Tradition noch Gegenwart. In China weiß schon jedes Kind, dass wahre Macht darin besteht, sich über Konventionen hinweg setzen zu können. Chinesen scheuen sich nicht, die hierarchische Hackordnung situativ auszuloten, mit Symbolik und Taten. Gerade zu Beginn einer Beziehung. Dazu gehören üppige Bewirtungen und großzügige Gesten, imponierende Statussymbole, respekterheischendes „name-dropping“ und Abfragen von Beziehungen - als diskrete Demonstrationen, mit wem man es zu tun hat.

„Mein Vater ist Li Gang!“ ist zum geflügelten Wort erboster Chinesen geworden. Ein Satz, der die Rechtsrealität zynisch umschreibt. 2010 hatte der zweiundzwanzig Jährige Li Qinming auf dem Campus der Hebei Universität zwei Studentinnen überfahren und Fahrerflucht begangen. Als er von Wachleuten, die den tödlichen Unfall beobachtet hatten am Campustor aufgehalten wurde, schleuderte er ihnen entgegen: “Macht nur, verklagt mich, wenn Ihr Euch traut. Mein Vater ist Li Gang!“ Li Gang war stellvertretender Sicherheitspolizeichef des Distriktes. Sein Sohn meinte eingedenk der familiären Macht, dass für ihn weder Verkehrs- noch Strafrecht oder Verantwortung gälten.

Das alte chinesische Sprichwort „Die Berge sind hoch und der Kaiser ist weit“ mahnt seit Jahrtausenden, dass der rechtliche Arm der himmlisch abgeleiteten Ordnung im irdischen Alltag nicht weit reicht. Wo krumme Mächtige und deren Prinzlinge die Finger im Spiel haben, lauern erfahrungsgemäß Rechtsbeugung, Zensur, Desinformation, Korruption und im schlimmsten Falle Vernichtung. 

Für Chinesen sind daher Gesetze und daraus abgeleitete Verträge nur so viel wert, wie der Einfluss der Kontrahenten und deren guten Absichten reichen. In einem solchen unsicheren Milieu reift eine Kultur, in der sich Einzelne eingewoben in ein Netz aus Familienangehörigen und belastbaren Freundschaften absichern. Freundschaften brauchen Zeit zum Entwickeln, Beobachten und zur Bewährung. Mit erprobten Freunden kann man die geschäftlichen Dinge situativ gestalten; flexibel, so wie es die Umstände – oder die Interessen – fordern. Verträge sind in diesem Kontext eher Startlinie einer Geschäftsbeziehung anstatt einer detaillierten Streckenbeschreibung.

Für Chinesen muss Vertrauen in Gestalt eines bekannten Gesichts kommen und zum Greifen erlebbar sein. Anonymität ist suspekt. Es verbirgt sich, wer Ungutes im Schilde führt. Das bezieht sich auf (inzwischen verbotene) Tarnnamen im Internet genauso wie auf anonyme Umfragen, auf offizielle Produktinformationen, Testberichte und Garantien. Dass in China Anonymität eher als Vertrauenskiller anstatt als Vertrauensgaranten wirkt, ist sicher keine ermunternde Interpretation der Gemengenlage im Land der Mitte für unsere Standesregeln. Doch dem müssen wir uns stellen.

In diesem Zusammenhang kommt dem Markenartikel eine herausragende Rolle zu: Die Marke als vertrauensstiftender Freund in der Masse heutiger Produktvielfalt auch in China. Die Marke als Freund darf nie enttäuschen. Das Vertrauen zu einer Marke in China hat fünf wesentliche Wurzeln. Ihre Tragfähigkeit lässt sich empirisch überprüfen anhand folgender Fragen:

  • Dient sie dem Kunden verlässlich im Sinne des Produktversprechens?
  • Vermittelt und leistet sie zuverlässig Sicherheit und Qualität? 
  • Wird sie von den Angehörigen der relevanten Bezugsgruppen empfohlen?
  • Taugt sie als angemessenes Statussymbol? Verleiht sie Gesicht? Wird man als Kunde seitens des Handels und Herstellers gebührend respektiert?
  • Bewährt sich die Marke im Krisenfall? Verhält sich der Kundenservice wie ein wahrer Freund? Wie steht es mit Erreichbarkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, Kulanz?

In einigen Marktsegmenten wie Kleidung, Lebensmittel, Finanzdienstleister und Reisen sichern sich chinesische Labels Marktanteile, in dem sie „Vertrauen“ (oder „Gesicht“) im oben genannten Sinne zum Kernanliegen von Marketing, Vertrieb und Service machen.

Zu Kaufentscheidungen ziehen Chinesen bevorzugt „WOM“- (Word of Mouth) Erfahrungen und Empfehlungen zurate, wiederum seitens Angehöriger, Freunde und Kollegen – Menschen, die man persönlich kennt. Bei größeren Anschaffungen lassen sich Chinesen gern von den Vertrauten begleiten - kleine Happenings am POS. In zweiter Linie setzen sie auf digitales WOM seitens „Freunde“ aus den Social Media.****

Also, so ganz im Vertrauen: Rein Sachlich geht es in China eher selten zu; fast immer persönlich. Das geht oft gut, wenn man zu persönlichen Einsätzen bereit ist und man sich als glaubwürdiger Freund beweist, der dann leistet, wenn man ihn braucht. China bleibt vermutlich noch auf längere Zeit reine Vertrauenssache. Anwälte lesen dies vermutlich nicht gern. Aber vielleicht andere Marktversteher.

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* Chinajahr Köln 2012, Doing Business in China, 4.6. 2012, Fachhochschule Köln
** Francis Fukuyma: „Trust: The Social Virtues and the Creation of Prosperity“,
*** siehe den Artikel "Guanxi und die Marktforschung" bei marktforschung.de
**** Vergl. Epsilon „Loyality Study 2012“

 

 

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