Versicherungsvertrieb ist eine Wissenschaft für sich

Oliver Gaedeke, Christoph Müller (YouGov)

Von Dr. Oliver Gaedeke, YouGov-Vorstand und Leiter Finanzmarktforschung, und Christoph Müller, Senior Consultant in der Finanzmarktforschung bei YouGov

Customer-Journey-Analysen im Versicherungsvertrieb liefern optimierte Steuerungssysteme

In weniger als drei Sekunden wechseln bis zu 19 Mechaniker die vier Hochleistungs-Pneus beim Formel-1-Boxenstopp. Jeder Handgriff ist auf die Millisekunde definiert und wird auf maximale Leistungskonstanz trainiert. Gleichzeitig liefern über 200 Sensoren permanent Informationen aus dem dahinflitzenden Boliden in die Computer der Boxengasse, um die Leistung optimal auf den Zustand des Fahrzeugs, des Piloten und die äußeren Bedingungen abzustimmen.

Auch im Vertrieb geht es um eine maximale Performance, die mit gegebenen Mitteln erreicht werden soll. Je konkurrierender der Markt, desto größer sind die Anstrengungen, die Informationswege des Kunden vom ersten Impuls bis hin zum Abschluss zu verstehen und für sich zu beeinflussen. Das Extrembeispiel Formel 1 steht damit in einem Gegensatz zu den Vertriebsanstrengungen in vielen Branchen, wie etwa der Assekuranz, in denen wenig über den Kaufprozess und seine Stellhebel bekannt ist und deshalb häufig eine systematische Steuerung mit eher groben Stellhebeln erfolgt.

Fragestellung: Vertriebsmanagement erkundet den Rennkurs

Langsam aber stetig verändert sich der Versicherungsmarkt. Dabei ist es jedoch weniger die Mentalität der Konsumenten, die sich verändert: So sind Service- und Vermittlerorientierung der Kunden auf gleich hohem Niveau wie noch vor zehn Jahren und der Drang nach Selbstbedienung und besonders niedrigen Preisen immer noch auf geringem Stand (vgl. Kundenmonitor Assekuranz, 1996-2014). Tatsächlich hat das Internet nicht die Grundhaltung der Versicherungsnehmer verändert, sondern den Ablauf der Such-, Informations- und Beratungs- sowie Abschlussreise. Das Vertriebsmanagement fühlt sich zu Recht aufgefordert, diese Kundenreise vom ersten Impuls bis zum Abschluss besser zu verstehen. Schließlich gilt es für die Vertriebsstrategen von Ausschließlichkeitsversicherern den bisherigen Traffic an Bestands- und Neukunden dem bestehenden Agentur- und Geschäftsstellennetz zuzuführen/ anzugleichen. Deswegen steht der Ausbau einer Omnikanal-Bedienung, also das Zusammenspiel zwischen Off- und Online-Kontaktpunkten in einem ganzheitlichen Neu- und Bestandskundenführungssystem in vielen Versicherungsgesellschaften auf Platz eins der Investitionsagenda (vgl. Abb. 1, Servicestrategien im Finanzdienstleistungsmarkt). Hierfür ist es notwendig zu wissen, in welcher Phase der Kundenreise und mit welchen Fragen Abschlussinteressierte die unterschiedlichen Kontaktpunkte anfahren. Dazu ermittelt die von YouGov entwickelte Customer-Journey-Analyse die Quantität der genutzten Informations- und Beratungspunkte, ihre Reihenfolge sowie die Nutzungsmotive in einer Expost-Erhebung. Allein dieses Mengengerüst liefert wichtige Informationen für den Ausbau und die Gestaltung der verschiedenen Off- und Online-Kontaktpunkte. So steht z. B. zurzeit die attraktive, themenbezogene und diskrete Gestaltung von Agenturen und Geschäftsstellen zu Recht ganz hoch im Kurs. Kunden wünschen sich vermehrt eine Beratung in den Räumen des Vermittlers.

Abb. 1: Servicestrategien im Finanzdienstleistungsmarkt

Analysen: To-Go-Mentalität vs. Selfservice

Viele Strategen hatten von der Informationsvielfalt des Internets transparentere Märkte und selbstentscheidendere Konsumenten sowie auch Versicherungsnehmer erwartet. Ganz im Gegenteil ist jedoch zunehmend eine To-Go-Mentalität zu beobachten: Der angehende/potenzielle Kunde delegiert das Informieren und das Auffinden einer individuellen Lösung an Dienstleister und möchte dann ohne weiteren Aufwand mit dem neuen Produkt „losfahren“. YouGov Customer-Journey-Analysen für den Kfz-Versicherungsmarkt (z. B. die jährliche YouGov Studie „Wechselverhalten in der Kfz-Versicherung“) haben gezeigt, dass bereits in der Impulsphase die kommerziellen (z. B. Vergleichsrechner im Internet, Makler/Vertreter) und privaten Unterstützer (Freunde und Bekannte) einen großen Einfluss auf den Verlauf der Kundenreise haben. Auch die weiteren Informations- und Beratungspunkte beeinflussen das Kaufverhalten ungemein. So konnte maßgeblich durch die genutzten Informations- und Beratungspunkte der letztlich genutzte Abschlussweg (Geschäftsstelle/Agentur/Maklerbüro, online oder telefonisch beim Direktanbieter und Vergleichsportal) zu über 70 Prozent Trefferquote mit einem Log-Linearen-Modell vorhergesagt werden. Bemerkenswert ist die Relevanz, die ein Informationspunkt für den tatsächlichen Abschluss innehält. Trifft ein Informationspunkt die Kundenerwartungen besser als andere, besteht dort auch eine größere Chance auf einen Abschluss. Bisher ist es nach wie vor der Vermittler (Vertreter, Makler oder Bankberater), der die To-Go-Mentalität der Konsumenten mit Abstand am besten bedienen kann. Mit einer Conversion-Quote von zwei Dritteln ist er selbst in der Kfz-Versicherung der mit Abstand effizienteste Informations- und Beratungspunkt. Neben dem Log-linearen-Modelling inkl. Prädiktorenanalyse verfügt die YouGov-Customer-Journey-Analyse auch über qualitative Bausteine.

So werden im psychologischen Labor die zu gestaltenden Online-Kontaktpunkte durch die angestrebte Zielgruppe überprüft. In unterschiedlichen Szenarien wird die Wirksamkeit entlang klassischer Dimensionen wie z. B. Gefallen, Verständlichkeit, Glaubwürdigkeit, Aktivierung und Bedienbarkeit untersucht. Aber auch die Effizienz der Kontaktpunkte ist von besonderem Interesse, sodass ebenso neue Wirkungsdimensionen wie „Delivering Surprising Clear Answers“ und „Evoking Trust and Willingness for Interaction“ mit spezifisch dafür entwickelten Ansätzen überprüft werden.

Methodik: Alle möglichen Verläufe in die Analyse aufnehmen

In der Customer-Journey-Analyse setzt YouGov auf eine Expost-Repräsentativstichprobe mit Interessenten, Käufern bei Wettbewerbern und Käufern bei der eigenen Marke, um sowohl den Loss gegenüber anderen Marken, als auch den Abbruch einer Reise zu überprüfen. Hierfür sind sowohl geschichtete Quotenstichproben für CAPI- also auch Online-Befragungen einsetzbar. Die große Kunst liegt darin, für das seltene Ereignis “Versicherungsabschluss“ die kritische Größe zu einem angemessenen Aufwand in einer Stichprobe zusammenzubringen, um das wichtige Modelling und die Treiberanalysen valide durchführen zu können. Aus Kostengründen werden häufig Panel-Befragungen durchgeführt. Hierbei achtet YouGov auf die Schichtung nach Soziodemografie und Versicherungsmentalität bei den entsprechenden Interessenten und Abschließern, um den durch die Online-Erhebung möglichen Verzerrungen (Online-Bias) von vornherein vorzubeugen. Die Befragung verläuft dann entlang der tatsächlichen Erfahrungen im Ablauf der Customer Journey, die nicht in allzu langer Vergangenheit liegen sollte (vgl. Abb. 2).

Abb. 2: Expost-Befragung der Customer Journey

YouGov empfiehlt vor der Kundenbefragung die Kontaktpunkte des Anbieters und die der Mitbewerber zu prüfen, sowie das vorliegende oder noch zu entwickelnde Marketingspektrum des Auftraggebers zu erheben. Sowohl der Fragebogen als auch die Analysen sind so auszurichten, dass konkrete Maßnahmen zur Verfeinerung der Vertriebssteuerung und zur kontinuierlichen Marktbeobachtung abgeleitet werden können.

Neben den schon beschriebenen psychologischen Labor-Untersuchungen (vgl. Web2Stay – Online-Kundendialog in der Assekuranz) rät YouGov auch zu Content-Analysen der eigenen Kontaktpunkte sowie die des Wettbewerbs. Die Gestaltung der Print- und insbesondere Online-Medien wird sich zunehmend als Differenzierungsmerkmal generieren und benötigt aufgrund der technologischen Dynamik einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess.

Fazit: Customer-Journey-Analysen verfeinern die Vertriebssteuerung

Die Customer-Journey-Analyse betrachtet den Kaufprozess vom ersten Impuls bis zum Abschluss. Ziel der Untersuchung ist es herauszufinden, an welchen Kontaktpunkten und mit welchen Inhalten die Kundenreise vom Impuls wie stark und in welche Richtung beeinflusst wird. Damit werden die Stellschrauben und ihr Einfluss auf das von einem Anbieter bereitgestellte Angebot an Kontakt- und Abschlusspunkten definiert. Mit diesen Daten lassen sich Modelle entwickeln, anhand derer eine Kosten-Nutzen-Berechnung im Sinne einer Nachfrage-Elastizität überprüft werden kann. Damit lässt sich Vertriebs- und Marketingeffizienz, die in vielen Versicherungsgesellschaften mit zunehmender Aufmerksamkeit betrachtet wird, durch die ganzheitliche und verzahnte Betrachtung zielführend optimieren. Diese verfeinerte Vertriebssteuerung liefert nicht nur eine höhere Marktausschöpfung, sondern auch genauere Planungen und Prognosen, die dem Management sowie den Vertriebspartnern und -mitarbeitern ein auskömmliches Wirtschaften erlauben.

Nicht der Zufallstreffer der schnellsten Runde ist dem Rennstall-Management wichtig. Was zählt ist eine konstante Leistungsqualität. Auch für das Vertriebsmanagement ist die Konstanz in der Leistung mit Abstand das wichtigste. So kann die Renn- und Vertriebsleistung systematisch ausgebaut werden.

Quellen:

YouGov (1996-2014). Kundenmonitor Assekuranz. Bevölkerungsrepräsentative Befragung.

YouGov (2014). Servicestrategien im Finanzdienstleistungsmarkt. Online-Befragung von Entscheidern in Banken, Bausparkassen, Finanzvertrieben, Fondsgesellschaften, Sparkassen und Versicherungsgesellschaften.

YouGov (2014). Wechselverhalten in der Kfz-Versicherung. Befragung von Wechselwilligen Kfz-Versicherungsnehmern im Nov. und Dez. 2013 im YouGov-Panel.

YouGov (2013). Web2Stay. Online-Kundendialog in der Assekuranz. Psychologische Laboruntersuchung zur Nutzung und Dialogfähigkeit von Online-Kontaktpunkten.

 

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