Kolumne von Dr. Susanne Schmidt-Rauch UX Research – demokratisieren wir das Richtige?
Dr. Susanne Schmidt-Rauch meint: Ein gutes Interview zu führen, liegt nicht jedem und vor allem nicht, wenn man das so viel seltener macht als jemand, der jeden Tag Interviews führt. (Bild: picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun)
UX Research braucht es unter anderem bei der Entwicklung digitaler Produkte. Das können Apps sein, Fachapplikationen, Websites, Portale, aber auch hybride oder „embedded“ Systeme wie das Navigationssystem im Auto, Steuerungsgeräte mit ihrer Steuerungssoftware oder medizinische Geräte. Hier ist die Spannweite groß. Allen gemeinsam ist, dass je neuer das Umfeld ist, in dem das digitale Produkt zum Einsatz kommt, desto eher eignen sich agile Vorgehensweisen.
Das hat zur Folge, dass Erkenntnisse schneller als früher benötigt werden und auch in kleineren Portionen. Also wollen Produktmanager und Product Owner die Forschungsaufgabe im Produktteam erledigen. Lean-Debatten erschweren – oft zu Recht – zusätzlich „kopflastige“ Vorgehensweisen, die verzögernd auf Entwicklungsstarts oder Releases wirken.
Und immer intelligentere Unterstützungssysteme erlauben es, dass Methoden der UX Research zugänglicher für Laien-Anwender werden. Hat das Risiken? Ja.
Demokratisierung der UX Research – woher kommst du?
Mir ist die Demokratisierungsbestrebung mit dem Aufkommen von immer mehr und immer größeren agilen Organisationen begegnet, als ich noch kein Wort dafür hatte. Agile Teams, Produktentwicklungsteams wollen alle Fähigkeiten im Produktteam haben, die es braucht, um das Produkt zu entwickeln. Als UX-Expertin wurde ich „Entwickler“. Das war keine schlechte Zeit. Das Produkt brauchte Forschung und es brauchte Konzeption.
„Wir wollen nicht „ein“ Produkt bauen, wir wollen „das“ Produkt bauen“, sagen zum Beispiel Produktmanager von Bloomberg an der CHI 2021.
Doch wir UX Researcher bleiben wenige und wir bleiben wenige mit typischerweise wenig organisatorischer Power. Deshalb werden Demokratisierungsprogramme nicht wie bei Bloomberg geregelt eingeführt unter den wachsamen Augen von ausreichend Seniorität aus den Researcher-Reihen sondern ad hoc, assoziativ, ungesteuert und ausschließlich methodenfixiert.
Lässt sich etwas anderes als die Methoden demokratisieren?
Unser aller Vorbild, die NN/group, notiert zurecht ein paar Vorteile der Demokratisierung, die sich besonders im «Getting research done» manifestieren, also dass Research überhaupt stattfindet.
Denn die Anzahl von Researchern im Verhältnis zu anderen Professionen in IT-Projekten ist weiterhin erschreckend gering.
Mir scheint aber, dass im Artikel von NN/group nicht weiter nach unten gescrollt wird, wo die Gefahren aufgelistet werden. Statt das wirklich Wichtige dem Unternehmen ganzheitlich zugänglich zu machen, nämlich die Erkenntnisse, werden die Methoden allen zugänglich gemacht, was eigentlich der viel schwierigere Weg ist. Und er führt zu hohen Produktrisiken für die Entwicklungsteams, die auf der Laienforschung Entscheidungen basieren.
Was ist das Resultat von misslungener Demokratisierung der UX Research?
Es gibt bei einer aus meiner Perspektive misslungenen Demokratisierung ungewollte Effekte, die sich schnell zeigen:
- Die Forschung ist oberflächlich: Das führt zu nicht viel neuen Erkenntnissen, was Teams demotiviert, erneut zu forschen. Wozu auch?
- Isolierte Erkenntnisse: Oft isoliert auf die eine Person, die Interviews gemacht hat. Die Forschung wird unzureichend dokumentiert. Die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse durch Personen, die nicht an der Erhebung beteiligt sind, ist begrenzt. Die Erkenntnisse sind schnell verloren.
- Steile Thesen: Die Grenzen werden zu wenig diskutiert, reflektiert und kommuniziert (weil sie auch gar nicht bekannt sind).
- Aufstand der Forscher: Interne Forscher – ob aus UX Research oder Marktforschung – werden zu Bad Guys, die die schönen kleinen Erkenntnisse torpedieren und Gates schließen. Das schlägt auf die Kultur und die Zusammenarbeit.
- Alternative zum Aufstand der Forscher: Rückzug aus der Produktentwicklung. Forschende lächeln auf der Portfolioebene oder weit weg als Stabsstelle leise in Richtung Produkt und messen sein Scheitern bei der nächsten Kundenzufriedenheitsumfrage.
Eine gelungene Demokratisierung ist in der Tat selten, aber möglich. Die Effekte lassen ein bisschen länger auf sich warten. Sie beinhaltet aber nie, die Experten aus der Produktentwicklung weg zu lassen. Produktteams schulen sich in ihrer Intuition, erleben, wie sie ihre Haltung vollständig überschreiben müssen, um sich vom lösungsorientierten Redner zum problemzentrierten Zuhörer zu wandeln und verstehen deutlich besser, wann es eine Expertin oder einen Experten braucht, wann ihr Produkt Forschung braucht.
Was fehlt, ist die Demokratisierung der Erkenntnisse. Denn genau das würde ermöglichen, den ständigen Insights-Hunger zu stillen und nicht die Tendenz provozieren, strategische Entscheide auf der Basis einer Befragung von vier Personen zu basieren.
Und besser als auf der Basis von keiner Befragung ist das nicht. Denn ohne die vier Personen wüsste ich zumindest, dass meine Schlussfolgerungen Unfug sind. Das weiß ich jetzt nicht mehr.
JEKAMI und DIY bei User Research – geht das?
Jeder und jede kann lernen, wie UX Research funktioniert – genauso wie jeder und jede lernen kann, wie Buchhaltung funktioniert, eine Astronautin zu sein oder Bäcker. Dahinter stehen eine fundierte Ausbildung und Übung.
Es ist und bleibt ein Unterschied, ob ein trainierter, ausgebildeter Forscher eine rigorose Forschung betreibt oder eine produktverantwortliche Person ein informelles Kundengespräch führt. Es ist aber ebenso ein Unterschied, ob ich isolierte, kleinzahlige Primärforschungen durchführe oder eine entsprechende Forschungsstrategie für das Produkt oder die Produktlinie führe. Wer demokratisiert, sollte wissen, was er tut und was sich überhaupt demokratisieren lässt.
Bei Holger Geissler in seinem Artikel zu DIY-Research lassen sich einige Fallstricke bei Umfragen durch Laien nachlesen. Besonders der Aufbau von Fragebögen erscheint ja so oft so einfach. Um zu verdeutlichen, was bei der qualitativen Forschung (Arbeit mit offenen Fragen) zur irrigen Annahme führt, dass das jeder schnell kann, zähle ich hier zehn ausgewählte Aufgaben eines UX Researchers auf, sortiert nach steigendem Schwierigkeitsgrad:
- Ein Interview führen
- Ein Interview organisieren
- Ein Interview protokollieren und Körpersprache beobachten
- Eine Forschungsfrage formulieren
- Nutzende im Kontext beobachten
- Beobachtungen protokollieren
- Qualitative Daten codieren
- Qualitative Daten interpretieren
- Qualitative Daten in sinnvolle Aktivitäten überführen (Anschlussfähigkeit)
- Forschungsstrategien für Produkte und Produktlinien erstellen
Natürlich gibt es weit mehr Aufgaben, die wir erledigen. Aber dieser Ausschnitt genügt bereits, sich zu überlegen, dass das Interview selbst tatsächlich im Tageskurs erlernbar ist. Aber alles Weitere ist einfach viel anspruchsvoller – auch im Aufwand. Spätestens ab Aufgabe 4 beginnen die Aufgaben auch immer unbekannter zu sein. Diese unbekannten Aufgaben sorgen dafür, dass die Forschungsqualität sinkt, wenn sie nicht oder halbherzig gemacht werden. Sinkt diese, steigt das Produktrisiko „Akzeptanz“. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass ich für mein Produkt einen Entscheid treffe, der die Nutzenden motiviert, wird geringer. Wie in der Softwareentwicklung entstehen über Abkürzungen Schulden – nicht „technical debt“, sondern „insight debt“.
Und mal von allen Möglichkeiten des Zugangs zu UX Methoden durch Laien abgesehen:
Genug Menschen werden beim Kontakt mit UX Research einsehen müssen, ein gutes Interview zu führen, liegt nicht jedem und vor allem nicht, wenn man das so viel seltener macht als jemand, der jeden Tag Interviews führt.
Denn das ist eine Tatsache für jeden Laien-Forscher: Der Hauptinhalt ihres Jobs ist ein anderer. Dieser verursacht zusätzlich Verzerrungen. Natürlich und verständlich, aber auch risikoerhöhend für die Produktentwicklung.
Und wie demokratisiert man nun Erkenntnisse?
Mein Vorschlag – und vielleicht ist das eine Perspektive, die euch inspiriert: Lasst uns doch einfach mal nicht an diesen fancy Methoden laienhaft rumschrauben, sondern lasst uns gemeinsam lernen, wie wir Erkenntnisse so zugänglich machen, dass sie den richtigen Personen zur richtigen Zeit verständlich zur Verfügung stehen.
Was man bei allem JEKAMI nämlich auch immer wieder beobachten kann, ist, dass Forschungen mehrmals gemacht werden, Untersuchungen ohne Forschungsfrage später als „sinnlos“ unbeachtet dem Vergessen überlassen werden oder Studien und Erkenntnisse, die die Welt außerhalb des Unternehmens generiert hat, völlig ausgelassen werden.
Allerdings gibt es auch genug Gelegenheiten, einen Research-Report nicht mehr zu finden, die Inhalte nicht zu verstehen, die Ansprechpartner nicht mehr zu finden und die Bedeutung nicht einschätzen zu können. Da müssen Researcher und ihre Organisationen wirklich nachlegen. Und wir leben in 2023 – wo sind die Research Repositories im Einsatz? Wo arbeiten die Teams mit rationalem Auftragsmanagement, unterstützt durch vernünftige Tools? Wir bleiben hier an proprietären Systemen hängen, Berichte im Word oder Powerpoint – tote Informationshalden, Triangulation nur anstrengend möglich. Von der Verknüpfung mit den Data Scientists mag ich noch gar nicht anfangen.
Unternehmen wollen Produkte wie das iPhone bauen und wir setzen dazu Hilfsmittel wie den Faustkeil ein. Puh.
Dazu kommen assoziative Forschungsprozesse, deren Qualität sich nicht voraussagen lässt und die sich deshalb auch schlecht durch Tools unterstützen lassen. Ansätze wie das Atomic Research sind eine Möglichkeit, das Forschungsvorgehen zu rationalisieren. Gegen die Einführung scheinen viele aber resistent.
Lasst es uns unseren Organisationen einfach leichter machen, an Insights zu kommen, die sie verwerten können, die sie selbst auffinden können, die sie gut genug verstehen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und wir sorgen dafür, eine strategische Research-Agenda zu verfolgen. Dafür müssen wir uns mehr mit dem Zweck der Ergebnisse befassen und mit den Nutzenden unserer Ergebnisse sprechen, ihre Bedürfnisse viel genauer kennen und ernst nehmen. UX Research durchführen für unser Produkt Erkenntnisse sozusagen!
Und falls eine geneigte Leserin oder Leser an diesem Punkt des Textes meint, ersetzen wir die Researcher doch einfach durch KI, hab ich noch einen letzten Vorschlag: Geben Sie Ihren Researchern Tools und lassen Sie sie lernen, wie sie KI einsetzen und wann (noch) nicht. Viel geiler!
Über die Person
Dr. Susanne Schmidt-Rauch ist Mitgründerin und Beraterin bei evux, einem UX-Beratungsunternehmen in Zürich. Sie ist seit mehr als 15 Jahren im Umfeld der digitalen Produktentwicklung tätig. Ihre Spezialgebiete sind UX-Methodiken und User Research Methoden. Susanne ist Informatikerin und hat an der Universität Zürich zum Dr. Inform. promoviert. Dort fand sie ihren Zugang zur sozialwissenschaftlichen Forschung und den Forschungsfeldern Information Systems, Collaborative Systems und Human Computer... mehr
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