Kolumne Unstatistik des Monats Unstatistik des Monats: Immer mehr Kinder übergewichtig

Der Anteil der adipösen Kinder und Jugendlichen in Deutschland ist während Corona entgegen vieler Meldungen nicht unverhältnismäßig gestiegen, deckt die neue Unstatistik des Monats auf. (Bild: picture alliance / empics | Chris Radburn)
Die dicken Kinder von Hessen
Die Unstatistik des Monats Juli "Die dicken Kinder von Hessen" ist die von vielen Medien kolportierte starke Zunahme der Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. So titelte bild.de am 5. Juli „Die dicken Kinder von Hessen“, hessenschau.de schrieb „Immer mehr Kinder sind extrem übergewichtig“ und laut der Überschrift einer von Zeit.de übernommenen Meldung der Deutschen Presse-Agentur (dpa) ist der „Anteil übergewichtiger Kinder stark gestiegen“.
Zeit.de spricht von „einem Zuwachs von fast zwölf Prozent“ an Jungen und Mädchen mit Adipositas zwischen 2019 und 2021 in Thüringen. Die online-Ausgabe der Bild-Zeitung berichtet, dass der Zuwachs in Hessen sogar mehr als 15 Prozent beträgt. Auch hätten die absoluten Zahlen stark übergewichtiger Kinder, diesmal über zehn Jahre gerechnet, dramatisch zugenommen. Zurück gehen die Meldungen auf Auswertungen der Barmer Krankenkasse.
Absoluter Anstieg adipöser Kinder um 0,36 Prozentpunkte
Aber wie viel ist „fast zwölf Prozent“? Laut dem „Arztreport 2023“ der Barmer Krankenkasse stieg der Anteil adipöser Kinder (das heißt solche mit einem Body-Mass-Index von 30 und mehr) während der Coronazeit in den Jahren 2019 bis 2021 von 3,19 Prozent auf 3,55 Prozent. Das ist ein absoluter Anstieg um 0,36 Prozentpunkte, also wenig bemerkenswert. Angesichts der durch Bewegungsarmut und ausgefallenen Sportveranstaltungen geprägten Coronajahre könnte man fast von einer erfreulichen Entwicklung sprechen.
Immerhin sind selbst über die Coronajahre über 96 Prozent aller deutschen Kinder nicht fettleibig geworden.
Aus einem kleinen absoluten Anstieg wird durch die Darstellung in relativen Wachstumsraten und absoluten Zahlen eine große Sache
Bei Zeit Online, bei bild.de und in vielen anderen Medien dagegen wurde wie so oft bei absolut kleinen Risiken vorzugsweise mit relativen Wachstumsraten oder absoluten Zahlen operiert. Der relative Zuwachs adipöser Kinder beträgt, wie man leicht ausrechnen kann, 11,3 Prozent.
Vielfach ging man auch noch weiter in die Vergangenheit zurück, dadurch wurden die relativen Wachstumsraten wie auch der absolute Zuwachs der Zahl der adipösen Kinder nochmals größer. Das ist aber aus drei Gründen statistisch unzulässig. Einmal lassen sich die Daten des Arztreports 2011 der Barmer Ersatzkasse, der als Grundlage der langfristigen Vergleiche dient, wegen zwischenzeitlicher Fusionen mit anderen Krankenkassen nicht mit denen des Jahres 2021 vergleichen. Ferner darf angezweifelt werden, ob man aus Kundendaten der Barmer Ersatzkasse überhaupt auf die Gesamtbevölkerung hochrechnen kann. Hier handelt es sich auf keinen Fall um eine Zufallsstichprobe aller Kinder in der Bundesrepublik. Und selbst in diesem Idealfall wäre wegen des unvermeidbaren Zufallsfehlers bei jeder Stichproben-Hochrechnung ein Anstieg um 0,36 Prozentpunkte leicht dem Zufall zuzuschreiben. Und dann hat auch die Anzahl der Kinder und Jugendlichen bis zum Alter von 14 Jahren von 2011 auf 2021 in Deutschland um fast eine Million zugenommen. Allein das erklärt zumindest einen Teil des vielfach beklagten Anstiegs der Anzahl adipöser Kinder.
Weitere Fake-News von Spiegel.de
Wie groß die Angabe einer relativen Wachstumsrate ein faktisch wohl eher kleines Problem macht, zeigt auch die bei Spiegel.de am 21. Juli veröffentlichte Meldung „Zahl der abgewiesenen Deutschen in Großbritannien verzehnfacht“. Demnach ist die Zahl der an der Grenze zurückgewiesenen Bundesbürger nach dem Brexit „massiv“ gestiegen, seit dem Jahr 2019 hat sie sich auf 805 verzehnfacht. Mit durchschnittlich etwas mehr als zwei zurückgewiesenen Bundesbürgern pro Tag dürfte das Problem an der Grenze sich trotzdem in Grenzen halten.
Quelle: Unstatistik.de
Über die Personen
Walter Krämer war bis 2017 ordentlicher Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der TU Dortmund, bis Mitte 2021 Sprecher eines DFG-Sonderforschungsbereiches zur angewandten Statistik. Zahlreiche Rufe an auswärtige Universitäten hat er abgelehnt. Träger verschiedener Auszeichnungen und Preise („Lesbare Wissenschaft“, DAGStat-Medaille für herausragende Verdienste um die deutsche Statistik), ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (von 2016 bis 2021... mehr
Katharina Schüller leitet seit fast 20 Jahren das Beratungsunternehmen STAT-UP mit Fokus auf Datenstrategien, Data Science und KI und ist Vorstandsmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft. Als Expertin für Datenkompetenz verfasste sie u. a. für das BBSR Studien und Beiträge, etwa zur Smart City Charta des Bundes. Sie berät das BMBF zur „Initiative Digitale Bildung“ sowie zur „Roadmap Datenkultur und Datenkompetenz“ im Rahmen der Datenstrategie und ist festes Mitglied des Digital-Gipfels... mehr
Prof. Gerd Gigerenzer, langjähriger Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, leitet das Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam. Er war Professor an der University of Chicago und John M. Olin Distinguished Visiting Professor an der School of Law der Universität von Virginia. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina), der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der American Academy of Arts and Sciences und der... mehr
Prof. Dr. Thomas K. Bauer hat 2003 den Lehrstuhl für Empirische Wirtschaftsforschung an der Ruhr-Universität Bochum übernommen. Seit 6. Februar 2004 ist er Vorstandsmitglied des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, seit 2009 dessen Vizepräsident. Er betreut bereichsübergreifend Forschungsprojekte und begleitet die Kooperation zwischen RWI und Ruhr-Universität Bochum. Von 2011 bis 2019 war er Mitglied im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, von... mehr
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