Kolumne Unstatistik des Monats Unstatistik des Monats: Der Gardasee ist halb leer

Die Nachricht schockierte im Mai: Der Gardasee trocknet aus. Doch statt Wassernotstand zwischen Brescia und Verona liegt die Ursache in der falschen Interpretation der gemessenen Pegelstände, wie die neueste Unstatistik analysiert. Ursache dafür ist die Verwechslung der Referenzklasse. Und die mangelnde Zahlenkompetenz der schreibenden Zunft.

Gehören solche Bilder bald der Vergangenheit an? Trocknet der Gardasee wirklich aus? (Bild: picture alliance / DocRB_PhotoDesign/Shotshop | DocRB PhotoDesign)

Beliebtes Urlaubsziel fällt trocken: Gardasee nur noch zu 38 Prozent gefüllt“, alarmierte uns der Stern und befürchtete: „Drohen Duschverbote und leere Pools?“ Das RedaktionsNetzwerk Deutschland meldete: „Der Gardasee, das größte Wasserreservoir Italiens, ist bei nur noch 35 Prozent seiner Speicherkapazität angelangt.

Ähnlich berichtete auch das Handelsblatt: „Der Gardasee führt so wenig Wasser wie seit 70 Jahren nicht mehr. Laut neuesten Satellitenaufnahmen erreicht er nur um die 40 Prozent seines Fassungsvermögens.“ (2. Mai, 2023, S. 14) Merkur.de zeigte sogar Satellitenbilder, die den dramatischen Rückgang des Wassers demonstrieren sollten – und die Kronen Zeitung warnte: „Dramatisches Video zeigt austrocknenden Gardasee.“ 

Was ist mit dem schönen Gardasee geschehen? Wie soll man noch baden gehen, wenn der See nur noch weniger als die Hälfte des Wassers hat und man anscheinend von Sirmione bis Riva del Garda in einen leeren Abgrund blickt? Verschiedene Medien haben versucht, die Ursachen zu finden: zu wenig Regen, kaum Schneereserven, ein ungewöhnlich trockener und warmer Winter – und dann die Klimakrise. All dies ist richtig, aber wie sollen diese Faktoren den Gardasee innerhalb kürzester Zeit zur Hälfte entleeren?

Trotz aller Aufregung in der deutschsprachigen Medienwelt berichteten die Gäste am Gardasee vorort von einem wunderschönen Urlaub. Auch auf den Satellitenbildern können wir beim besten Willen keinen Unterschied im Wasserstand zwischen diesem und dem vergangenen Jahr erkennen.

Wo liegt hier das Problem? Die Antwort: in der Zahlenblindheit mancher Medien. 

Leicht zu verwechseln: die Referenzklasse

Woher kommen also die Absenkungen über 38 Prozent, 40 Prozent oder die Halbierung des Wasserstands?

Merkur.de meldete beispielsweise am 21. April, dass sich der Wasserstand des Gardasees halbiert habe – von 99 Zentimetern Mitte März 2022 auf 46 Zentimeter Mitte März 2023. Der Wasserstand wird an einem Pegel in Peschiera gemessen und misst die Höhe des Wasserspiegels über dem Pegelnullpunkt. Diese Höhe ist aber nicht die Wassertiefe des Sees, sondern ein willkürlicher Wert an der Messlatte, der in der Regel leicht unter dem niedrigsten Wasserstand über viele Jahre hinweg angesetzt wird. Der Gardasee ist an der tiefsten Stelle 346 Meter tief und hat eine Durchschnittstiefe von etwa 135 Metern. Zudem wird er künstlich reguliert. Das Ablassen von Wasser wird gestoppt, sobald der Nullpunkt erreicht wird.

Wie kann man den Sachverhalt richtig und ohne Aufmerksamkeits-Hype darstellen? Etwa so:

Im Vergleich zum Vorjahr war Mitte März 2023 der Wasserstand des Gardasees 53 Zentimeter niedriger. Also 53 Zentimeter von etwa 135 Metern – nicht die Hälfte des Fassungsvermögens des Sees oder gar mehr.

Hinzu kommt, dass der Pegelstand stark über das Jahr hinweg schwankt. Zudem lag er am 22. Mai 2023 auch schon wieder bei 80 Zentimetern – mit steigender Tendenz. Der Pegelstand schwankt überdies stark von Jahr zu Jahr. Am 15. Mai 2007 lag er beispielsweise ebenfalls bei 46 Zentimetern, wie in der derzeit alarmierenden Meldung. Zehn Jahre später, am 15. Mai 2017, lag er dann bei 107 Zentimetern. Jede Veränderung muss man gegen die natürlichen Schwankungen abwägen.

Die Geschichten über den halb leeren Gardasee folgen einem weit verbreiteten Fehler in der Kommunikation. Eine absolute Veränderung (der Wasserstand im Gardasee ist 53 Zentimeter niedriger) wird unnötigerweise in Prozent kommuniziert (ca. 50 Prozent weniger) und damit wird es leicht, die Referenzklasse zu verwechseln, auf die sich die Prozentangabe bezieht. Und diese ist eben nicht das Fassungsvermögen des Gardasees, sondern der Pegelnullpunkt an der Messlatte. Mit „53 Zentimeter weniger“ hätte man wohl auch nicht die große Aufmerksamkeit und Aufregung erzeugen können, die die Nachricht vom halb leeren Gardasee erzeugte. Zahlenblind zu sein, kann also gut für das Geschäft sein, solange die Leser es auch sind.

Viele Medien warnen uns vor Fake-News. Manche produzieren diese allerdings gleich selbst, ohne es zu bemerken. Denken mit Zahlen sollte endlich Teil der Allgemeinbildung werden.

Quelle: Unstatistik.de

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Über die Personen

Prof. Gerd Gigerenzer, langjähriger Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, leitet das Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam. Er war Professor an der University of Chicago und John M. Olin Distinguished Visiting Professor an der School of Law der Universität von Virginia. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina), der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der American Academy of Arts and Sciences und der... mehr

Walter Krämer war bis 2017 ordentlicher Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der TU Dortmund, bis Mitte 2021 Sprecher eines DFG-Sonderforschungsbereiches zur angewandten Statistik. Zahlreiche Rufe an auswärtige Universitäten hat er abgelehnt. Träger verschiedener Auszeichnungen und Preise („Lesbare Wissenschaft“, DAGStat-Medaille für herausragende Verdienste um die deutsche Statistik), ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (von 2016 bis 2021... mehr

Prof. Dr. Thomas K. Bauer hat 2003 den Lehrstuhl für Empirische Wirtschaftsforschung an der Ruhr-Universität Bochum übernommen. Seit 6. Februar 2004 ist er Vorstandsmitglied des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, seit 2009 dessen Vizepräsident. Er betreut bereichsübergreifend Forschungsprojekte und begleitet die Kooperation zwischen RWI und Ruhr-Universität Bochum. Von 2011 bis 2019 war er Mitglied im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, von... mehr

Katharina Schüller leitet seit fast 20 Jahren das Beratungsunternehmen STAT-UP mit Fokus auf Datenstrategien, Data Science und KI und ist Vorstandsmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft. Als Expertin für Datenkompetenz verfasste sie u. a. für das BBSR Studien und Beiträge, etwa zur Smart City Charta des Bundes. Sie berät das BMBF zur „Initiative Digitale Bildung“ sowie zur „Roadmap Datenkultur und Datenkompetenz“ im Rahmen der Datenstrategie und ist festes Mitglied des Digital-Gipfels... mehr

Diskutieren Sie mit!     

  1. Peter Scheungrab am 30.05.2023
    Vielen Dank für diese Klarstellung!
    Ich denke auch zu wissen warum diverse Medien auf disen Zug aufgesprungen sind: Klicks zu generieren für die Werbeeinnahmen.
    Da sind Fakten natürlich völlig egal!
  2. Eberhard Deubert am 31.05.2023
    Guten Tag,

    meine Frau und ich waren von Anfang Mai bis gestern am Gardasee im Urlaub.
    Ich würde Ihnen gerne ein paar Fotos senden, von Niedrigwasser ist hier nichts zu sehen. Gegenüber unserer Unterkunft ist eine kleine Insel vorgelagert mit 2 Gebäuden und einem kleinen Strand. Wäre der Gardasee nur einen halben Meter höher, wäre der Strand komplett überspült und die 2 Häuser stünden im Wasser.
    Auch haben wir eine Schifffahrt um den kompletten See unternommen, eine Insel, welche man zu Fuß erreichen kann, haben wir nicht gesehen.
    Diese Beobachtungen habe ich auch drei Unternehmen der Printmedien geschildert und empfohlen doch mal vor Ort zu recherchieren, bevor man solche düsteren Szenarien abdruckt und veröffentlicht. Hierauf habe ich keine Antwort erhalten.
    Wohl gemerkt, ich bin kein Klimaleugner, aber man sollte doch bei der Wahrheit bleiben, im Übrigen ist der Klimaveränderung und den nötigen Maßnahmen mit Lügen nicht geholfen.

    Freundliche Grüße

    Eberhard Deubert

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