KOLUMNE UNSTATISTIK DES MONATS September Unstatistik des Monats: Brustkrebs – Mammographie-Screening überbewertet?

Die Unstatistik des Monats September behandelt das Thema Mammakarzinom, allgemein bekannt als Brustkrebs. Laut einer neuen Studie verlängern Screenings das Leben nicht. Wieso wird darüber aber in deutschen Medien nicht berichtet? Und wieso werden Mammographie-Screenings sogar auf Frauen ab 70 Jahren ausgeweitet?

Screenings retten keine Leben! - Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie (Foto: picture alliance / Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-Zentralbild/dpa | Klaus-Dietmar Gabbert).

In wenigen Tagen wird die Welt wieder pink, denn es beginnt der Brustkrebsmonat Oktober. Passenderweise gab es in den vergangenen Wochen zwei wichtige neue Nachrichten über Krebs-Früherkennung. Die Erste: Das höchste Gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, der Gemeinsame Bundesausschuss, kündigte am 21. September an, die Altersgrenze der kostenlosen Brustkrebsfrüherkennung für gesetzlich Versicherte von 69 auf 75 Jahre anzuheben. Die zweite Nachricht kam von der bisher umfangreichsten Metastudie zu sechs Krebsscreenings mit über 2 Millionen Teilnehmern. Sie wurde am 28. August in JAMA, eine der angesehensten medizinischen Zeitschriften, veröffentlicht. Diese Metastudie fand keinen Hinweis, dass eine Teilnahme am Mammographie-Screening das Leben verlängert. Das gilt auch für Prostatakrebs-Screening mit PSA-Test, Stuhltest und Koloskopie für Darmkrebs und Niedrigdosis-Computertomographie (CT) für Lungenkrebs. Einzig die kleine Darmspiegelung (Sigmoidoskopie) scheint das Leben um etwa 3 Monate zu verlängern.

Wie gehen nun deutsche Medien damit um, wenn einerseits das Mammographie-Screening ausgeweitet wird, doch andererseits die wissenschaftliche Metaanalyse keinen Hinweis findet, dass es Leben verlängert? Man könnte beides berichten und sich dann fragen, warum Wissenschaft kaum zur Kenntnis genommen wird. Über die Metaanalyse war jedoch so gut wie nichts zu hören und lesen. Eine begrenzte Suche über Google, Yahoo und NewsReader für die vergangenen 4 Wochen ergibt 24 Medienberichte über die Ausweitung auf 75 Jahre, aber nur vier über die Metastudie. Letztere waren in der ÄrzteZeitung, Ärzteblatt, Medscape und Onkologie kompakt zu finden, alles medizinische Zeitschriften und Onlineportale, die von der allgemeinen Bevölkerung kaum gelesen werden.

Deutsche Medien erwähnen die Metastudie zu Krebsscreenings kaum

Die 24 Medienberichte über die Ausweitung des Mammographie-Screenings auf 75 Jahre erwähnten die wissenschaftlichen Ergebnisse der Metastudie nicht. Dazu gehört die tageschau.de, NDR, die Frankfurter Rundschau, der Berliner Tagesspiegel, der Stern, NWZ online und die Sächsische.de. Während sich die deutsche Medienlandschaft weitgehend ausgeschwieg, ist dies in anderen Ländern nicht passiert. Beispielsweise haben der Guardian, CNN und abc.net.au ausführlich berichtet.

In Deutschland wird mit dem Slogan „Screening rettet Leben“ geworben. Also denkt man, es sei bewiesen, dass man mit Screening länger statt ohne Screening lebt. Dem ist jedoch nicht so – mit der möglichen Ausnahme der kleinen Darmspiegelung. Der Gemeinsame Bundesausschuss behauptet auch nicht, einen Nachweis einer Verlängerung des Lebens durch Mammographie-Screening bei Frauen in irgendeinem Alter zu haben, sondern definiert Nutzen lediglich als Verringerung der brustkrebsspezifischen Sterblichkeit. Diese liegt bei Frauen im Alter von 50 bis 69 Jahren bei 1 in je 1.000 Frauen. Aber es ist schon lange bekannt, dass unter jenen, welche zur Früherkennung gehen, zugleich 1 in je 1.000 Frauen mehr mit einer anderen Krebsdiagnose stirbt (oft ist die Todesursache nicht eindeutig zuzuordnen). Also sterben gleich viele Frauen an Krebs (einschließlich Brustkrebs), mit oder ohne Mammographie-Screening. Damit wird klar, warum das Screening kein Leben rettet oder verlängert. Die Faktenbox des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam macht diesen Sachverhalt für jeden einfach verständlich.  Diese Erkenntnisse könnte man ehrlich allen Frauen erklären, aber stattdessen werden im Brustkrebsmonat Oktober von Promis rosa Schleifchen, Teddybären und Flamingos verteilt.

Frauen sollten informiert entscheiden können

Der Auftrag der Medien, gerade der öffentlich-rechtlichen, wäre eigentlich, die Bürger über wissenschaftliche Erkenntnisse zu unterrichten, die für ihr Leben wichtig sind. Zugleich berichten sie regelmäßig über neue Screening-Tests für Krebs, selbst wenn keine wissenschaftlichen Studien, sondern nur Geschäftsinteressen vorliegen, wie bei der „Weltsensation Bluttest“ der Universitätsklink Heidelberg (siehe die Unstatistik des Monats“ vom Februar 2019). Krebsscreening ist leider auch zu einem Milliarden-Geschäft mit der Angst vor dieser schrecklichen Erkrankung geworden. Die meisten Medien schweigen sich jedoch über die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus oder nehmen sie gar nicht zur Kenntnis. Frauen und Frauenorganisationen sollten sich das nicht mehr gefallen lassen und auf ihrem Recht bestehen, informiert entscheiden zu können, statt sich unbewusst von kommerziellen Interessen steuern zu lassen.

Wir sind neugierig, welche Medien über diese Unstatistik berichten werden.

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Über die Personen

Prof. Gerd Gigerenzer, langjähriger Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, leitet das Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam. Er war Professor an der University of Chicago und John M. Olin Distinguished Visiting Professor an der School of Law der Universität von Virginia. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina), der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der American Academy of Arts and Sciences und der... mehr

Katharina Schüller leitet seit fast 20 Jahren das Beratungsunternehmen STAT-UP mit Fokus auf Datenstrategien, Data Science und KI und ist Vorstandsmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft. Als Expertin für Datenkompetenz verfasste sie u. a. für das BBSR Studien und Beiträge, etwa zur Smart City Charta des Bundes. Sie berät das BMBF zur „Initiative Digitale Bildung“ sowie zur „Roadmap Datenkultur und Datenkompetenz“ im Rahmen der Datenstrategie und ist festes Mitglied des Digital-Gipfels... mehr

Walter Krämer war bis 2017 ordentlicher Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der TU Dortmund, bis Mitte 2021 Sprecher eines DFG-Sonderforschungsbereiches zur angewandten Statistik. Zahlreiche Rufe an auswärtige Universitäten hat er abgelehnt. Träger verschiedener Auszeichnungen und Preise („Lesbare Wissenschaft“, DAGStat-Medaille für herausragende Verdienste um die deutsche Statistik), ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (von 2016 bis 2021... mehr

Prof. Dr. Thomas K. Bauer hat 2003 den Lehrstuhl für Empirische Wirtschaftsforschung an der Ruhr-Universität Bochum übernommen. Seit 6. Februar 2004 ist er Vorstandsmitglied des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, seit 2009 dessen Vizepräsident. Er betreut bereichsübergreifend Forschungsprojekte und begleitet die Kooperation zwischen RWI und Ruhr-Universität Bochum. Von 2011 bis 2019 war er Mitglied im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, von... mehr

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