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Interview mit Dr. Karlheinz Steinmüller, Z_punkt GmbH The Foresight Company "Um sinnvolle Aussagen über Künftiges treffen zu können, braucht man ein breites Wissen über die Gegenwart"

marktforschung.dossier: Herr Dr. Steinmüller, Sie haben vor kurzem in der neuen "Zeitschrift für Zukunftsforschung" einen Beitrag über die Geschichte der Zukunftsforschung in Deutschland geschrieben. Können Sie uns einen kurzen Überblick geben?
Dr. Karlheinz Steinmüller: Die Wurzeln der Zukunftsforschung reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Noch im Kaiserreich hat sich ein mehr oder weniger systematischer Umgang mit Zukunftsthemen herausgebildet, und in der Weimarer Republik haben immer wieder Experten dezidiert Stellung zu Fragen der Demographie oder der technologischen Entwicklung bezogen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat jedoch die Futurologie, wie man damals sagte, nach dem amerikanischen Vorbild eine breitere Wirkung entfaltet. In den fortschrittsbegeisterten 1960er Jahren und im Kontext des Kalten Kriegs erlebten zumeist technologieorientierte Prognosen ihre Hochzeit.
Spannenderweise wandten sich auch die Anhänger der 1968er Bewegung der Futurologie zu. Sie sahen in ihr eine Gesamttheorie gesellschaftlichen Wandels – und damit ein Potential für die revolutionäre Systemveränderung. Auf die überzogenen Erwartungen und das Gegeneinander von systemkritischer und kybernetisch-systemtechnischer Futurologie folgte – nach den „Grenzen des Wachstums“ und dem Ölpreisschock – in den späten 1970er und 1980er Jahren eine regelrechte Krise. Gleichzeitig aber etablierte sich die Zukunftsforschung in den Unternehmen, Technikvorausschau und regionale Vorausschau differenzierten sich aus. Heute verfügen wir in Deutschland über ein einigermaßen breites Spektrum von einschlägigen Denkfabriken und über die ersten Lehrstühle für Zukunftsforschung.
marktforschung.dossier: Was sind die Methoden der Zukunftsforschung? Wie kommt man zu Aussagen über neue Trends und Entwicklungen? Inwieweit kann die Marktforschung dabei einen Beitrag leisten oder stört sie nur?
Dr. Karlheinz Steinmüller: Um sinnvolle Aussagen über Künftiges treffen zu können, braucht man ein breites Wissen über die Gegenwart. In der Regel starten wir daher mit umfänglichen Recherchen und nutzen dabei bewährte Konzepte, um die Daten- und Faktenflut zu strukturieren, und versuchen, längerfristige Trends und kurzfristige Moden und Hypes, sehr wahrscheinliche Entwicklungen und Wild Cards (geringwahrscheinliche, aber höchst wirkungsvolle Überraschungen) auseinander zu halten. Praktisch alle Methoden bauen auf irgendeiner Art von Umfeldanalyse (horizon scanning) auf: Trendextrapolationen, Expertenumfragen (oft in Form eines Delphi), Modellierungen. Auch bei der Konstruktion von Szenarien müssen die heutigen und absehbaren künftigen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Allerdings wird in der Zukunftsforschung auch ein gutes Maß an Phantasie benötigt: Denn es könnte immer auch anders kommen... Unter diesem Gesichtspunkt beobachten wir sehr genau, wo sich Hinweise auf anstehende Veränderungen, vielleicht sogar auf eine Disruption abzeichnen. Oft wird in dem Zusammenhang von Schwachen Signalen gesprochen.
Obwohl die Zeithorizonte von Marktforschung und Zukunftsforschung weit auseinanderklaffen, besteht doch zumindest eine Gemeinsamkeit darin, dass sie mit signifikanten Unsicherheiten bzw. Ungewissheiten umgehen müssen. Nicht selten greift die Zukunftsforschung auf Ergebnisse der Marktforschung zurück, etwa wenn es um die Erfolgschancen von Innovationen geht oder bei der Identifikation von Schwachen Signalen im Konsumentenverhalten.
marktforschung.dossier: Gibt es Themenbereiche, in denen man einfacher oder welche in denen man schwieriger Trends für die Zukunft erkennen kann?
Dr. Karlheinz Steinmüller: Jeder gute Experte betrachtet seinen Gegenstandsbereich als besonders komplex und schwierig. Bringt man allerdings Zeithorizonte mit ins Spiel, lassen sich Bereiche sehr dynamischen und solche trägeren Wandels erkennen. Die Demographen können mit vergleichsweise hoher Sicherheit ein, zwei Jahrzehnte vorausschauen. Bei technologischen Entwicklungen geben physikalische Gesetze einen gewissen Rahmen vor und etwa im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnoligen herrscht seit Jahrzehnten eine hohe, doch relativ konstante Dynamik, so dass man zumindest grob abschätzen kann, wann die nächste disruptive Innovation auf den Markt kommen könnte. Bei gesellschaftlichen Entwicklungen habe ich Phasen anscheinenden Stillstands und Eruptionen von Veränderung erlebt, bei denen in kurzer Zeit Verhältnisse umgewälzt werden, die als stabil angesehen wurden. In Abständen von wenigen Jahren passiert dergleichen, mal hier und mal da auf dem Globus, 9/11, Finanzkrise, Arabellion, um nur einige zu nennen. Und bestenfalls wenige wirklich weitsichtige Menschen hatten sie auf dem Radarschirm. So gesehen kann ich sagen: Am schwierigsten wird es da, wo der ganz alltägliche homo sapiens ins Spiel kommt. Und das geschieht in der Zukunftsforschung stets.
marktforschung.dossier: Sind Megatrends eher technologiegetrieben oder soziologischen Ursprungs?
Dr. Karlheinz Steinmüller: Wir bei Z_punkt arbeiten mit einem Portfolio von etwa 20 Megatrends, gesellschaftlichen technologischen, politischen, wirtschaftlichen. Sie sind ausnahmslos untereinander vernetzt. Da macht es wenig Sinn, Henne und Ei zu unterscheiden. Wenn man die Perspektive wählt, dass die meisten Trends durch die Technologiedynamik getrieben werden, handelt man sich eine deterministische Sicht ein: Die Technologie bestimmt, in welche Richtung sich die Welt bewegt. Tatsächlich aber scheitern manche Technologien an Akzeptanzfragen, andere werden von gesellschaftlichen Bedarfen oder individuellen Wünschen förmlich vorangepeitscht – und man kann vorher oft nicht sagen, ob das eine oder das andere der Fall sein wird.
marktforschung.dossier: Hat Zukunftsforschung auch manchmal etwas mit Science Fiction zu tun?
Dr. Karlheinz Steinmüller: Die Zukunftsforschung braucht Phantasie, offenes, durchaus auch spekulatives Zukunftsdenken im Stile von „Was wäre wenn...“, wie es für die Science Fiction typisch ist; es muss nur methodisch kontrolliert, letztlich argumentativ nachvollziehbar sein. Manche Zukunftsstudien sind einfach zu abstrakt und daher trocken, ein Schuss Science Fiction würde sie verständlicher und konkreter machen. Andererseits muss sich Science Fiction nicht um Realismus scheren; als Autor postuliert man einfach die Welt, die man für eine spannende Geschichte braucht. Und das ist völlig in Ordnung. Mich stört es nur, wenn beides vermengt wird, wenn beispielsweise Experten behaupten, dass in wenigen Jahrzehnten das menschliche Bewusstsein auf einen dauerhafteren Träger als das Gehirn „hochgeladen“ werden könnte oder dass die Fortschritte der Medizin uns in wenigen Jahren unsterblich machen würden. Derartige „transhumanistische“ Thesen haben mit seriöser Zukunftsforschung nichts zu tun, sie sind aus der Science Fiction entliehen (wo sie zu ertragreichen philosophischen Spekulationen genutzt werden können) und werden hier unter einem falschen Etikett verkauft.
marktforschung.dossier: Gibt es einige aktuelle Zukunftstrends, die Sie uns nennen können?
Dr. Karlheinz Steinmüller: Die Auswahl ist groß... Spannend finde ich, was sich aktuell mit der Nutzung von Big Data abzeichnet. Wir alle hinterlassen ja breite digitale Spuren. All die Daten können im Prinzip fusioniert und analysiert und dann auch zu einer Kunden-Mikrosegmentierung genutzt werden (bis hin zu einem individuellen Targeting in der Werbung). Die üblichen Umfragemethoden der Marktforschung wären dann vielleicht nur noch zu Vergleichszwecken und zur Kalibrierung der Modelle nötig. Das wäre eine kleine Revolution! Aber noch versinken wir eher im unergründlichen Sumpf der Daten...
marktforschung.dossier: Herr Dr. Steinmüller, herzlichen Dank für dieses Gespräch!
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