Kommentar von Hartmut Scheffler, Kantar TNS Überlegungen zur Wahlprognose in den USA
Ich möchte mich hier nicht zu der Argumentation äußern, man habe – was die landesweite Stimmenverteilung betrifft – oft nur 2 Prozent und damit absolut im Rahmen der Fehlertoleranz danebengelegen. Es war ja wohl jedem klar, dass es den nächsten Präsidenten zu prognostizieren gab und da dann eben die besondere Situation mit Staaten, Wahlmänner, Swing States zu beachten war.
Ich möchte zunächst hervorheben, dass die implizit und manchmal explizit vorgenommene Gleichsetzung zwischen den hier vorgenommenen Prognosen einiger Wahlforscher und der Sozialforschung wie der Marktforschung insgesamt nicht gerechtfertigt ist. Warum? Auch bei den aktuellen Prognosen wurde wieder überwiegend mit etablierten, seit Jahrzehnten eingesetzten Verfahren gearbeitet, obwohl längst bekannt ist, in wie hohem Maße Phänomene wie Nichtwähler, Wechselwähler, Letztentscheider an der Wahlurne, soziale Wünschbarkeit und fehlendes Bekennertum Prognosen erschweren. Und wie lief es bei der Mehrzahl der Prognosen jetzt? Es wurden wieder 1.000 oder 2.000 Personen befragt. Die Daten wurden auf Basis von Erfahrungen und oft auch individuellem Forscher-Know-how gewichtet und das Ergebnis wurde – oft einem finanzierenden Medienunternehmen – geliefert. Also alles (fast) genauso wie vor vielen Jahren und Jahrzehnten.
Schaut man sich die Sozialforschung oder die Marktforschung an, so haben sich dort in den letzten Jahren demgegenüber die Verfahren deutlich verändert. Endlich kommt auch ein Aspekt immer mehr zu Wort, der von mir selbst schon seit Jahrzehnten thematisiert wurde: Gute Forschung muss sich (wieder mehr, denn das gab es schon mal!) der Erkenntnisse der Psychologie und Sozialpsychologie bedienen. Dass endlich Behavioural Economics ernst genommen wird, dass über indirekte Messverfahren und implizites Messen mehr und mehr diskutiert wird, dass zusätzliche qualitative Verfahren eingesetzt werden, sind nur einige Beispiele.
Und was waren Reaktionen befragter Wahlforscher, woran es denn gelegen haben könnte? Da liest man dann "CATI wäre besser als online", "Online besser als CATI", "Am besten ein Methoden-Mix", "Social-Media-Analysen hätten gezeigt …" etc. Was man nicht liest, ist die (Rück-)Besinnung auf grundsätzlich andere Herangehensweisen. Eine Erklärung könnte sein, dass die Prognosen entweder von den Instituten für eigene PR erstellt werden oder von Medien in der Regel für kleines Geld eingekauft werden.
Was wir doch eigentlich längst wissen: Die Anzahl der Wechselwähler nimmt zu und mit qualitativen und psychologischen Verfahren gilt es herauszufinden, warum dies so ist und wie die Wechselwähler "ticken". Die Warum-Frage auch unter psychologischer Sichtweise scheint mir nicht ausreichend beantwortet und dann methodisch in Prognoseansätze überführt zu sein. Dies gilt in gleicher Weise für das zunehmende Phänomen, die Entscheidung in letzter Sekunde zu treffen. Es gilt für die Nichtwähler und die Frage, wer denn doch im letzten Moment noch wählt, wer im letzten Moment doch nicht wählt und wer grundsätzlich und warum nie wählt. Und bei einer zunehmenden Aufsplittung des Parteienspektrums gerade auch hin zu den Rändern sowie in Zeiten von wachsendem Populismus und Opportunismus gewinnen Fragen des Bekennertums und der sozialen Wünschbarkeit an Relevanz.
Was heißt das für Prognosen in Zukunft? Es heißt Schluss mit den täglichen Schnellschüssen von fünf bis zehn Fragen an 1.000 bis 2.000 Personen – schnell, preiswert, PR-fähig.
Es hätte in den USA schon einmal bedeutet, umfassende Studien in jedem der Swing States durchzuführen: Denn dort spielte ja die Musik. Es heißt grundsätzlich, erst einmal kontinuierlich über qualitative Verfahren, über indirekte Messungen zu verstehen, wie und wie viele Wechselwähler, Last-second-Entscheider, Nichtwähler wie ticken. Ob es dann gelingt, diese Erkenntnisse in ein quantitatives Messinstrument zu integrieren (sei es direkt in Form von optimierten Fragen oder in Form von abgeleiteten Gewichtungsfaktoren) wird die Zukunft zeigen müssen. Vielleicht wird man am Ende davon abrücken, exakte Zahlen nennen zu können und sich auf Entwicklungen/Richtungstrends beschränken. Es wird den Wahlforschern für die Vorwahl-Prognosen nichts anderes übrig bleiben, als von der methodischen Diskussion in die methodologische einzutauchen: Also wirklich wissenschaftstheoretisch an Thema und aktuelle Problematik heranzugehen. Auch wenn das Ergebnis eines solchen wissenschaftstheoretischen Diskurses (mit zukünftig deutlich anspruchsvollerer Herangehensweise an diese Thematik) offen ist, so sind zwei Dinge sicher: Es geht besser und es wird viel aufwendiger und teurer. Gute Vorwahl-Prognosen sind, wie auch schon längst die Hochrechnungen am Wahltag, anspruchsvolle Wissenschaft!
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