Tinder für die Marktforschung?

Von Prof. Dr. Holger Lütters

Die Marktforschung wird mobil. Auch wenn seit der Ankündigung des mobilen Internet inzwischen fast 20 Jahre ins Land gegangen sind, erscheint die rasante mobile Entwicklung den Marktforscher auch im Jahr 2016 noch zu überraschen.

Laut GreenBook Research Industry Trends Report (GRIT) vom Dezember 2015 sind nicht einmal die Hälfte aller Befragungen der professionellen Marktforschung derzeit optimiert für Mobilgeräte. Als Forscher ist man fast geneigt die gute alte WAP-Browser-Zeit zu loben, als man eine .mobi -Domain nur bekam, wenn man sich verpflichtete, die Inhalte auch mobilfähig auf der Seite bereitzustellen. 

Zehn Jahre mobile Entwicklung ohne Beteiligung der Onlineforschung

Etablierte Ansätze computerbasierter Forschung machen immer noch einen Bogen um das Mobilgerät – und dies hat wohl hauptsächlich technische Gründe. So sind zum Beispiel einige tolle Entwicklungen von Regalsimulationen oder Avatar-Darstellungen flashbasiert entwickelt worden und daher heute nicht mehr mobilfähig. Vielversprechende Methodenentwicklungen sind damit auf der technischen Müllhalde gelandet und können nur auf älteren Geräten zum Einsatz gebracht werden. HTML5 scheint für die nächsten Jahre der technische Imperativ zu sein, dem die Entwicklung folgt – bis es wieder eine bessere Lösung gibt.

Parallel zur technischen Entwicklung stellte sich dem Forscher die Frage, ob die Marktforschung die bestehenden Konzepte einfach auf kleinere Geräte übertragen kann. Fragebögen wurden kleiner und blieben dennoch oft schwarz-weiß. Neue Methoden, die der steigenden mobilen Nutzung Rechnung tragen, sucht der Forscher auf den kleinen Screens bisher vergebens.

Eine kleine Idee für Device-agnostische Befragungen

Auf der Suche nach neuen Fragetypen hat das Entwicklungsteam der pangea labs bereits verschiedene technische Versuche unternommen, unterhaltsame Fragetypen für ernsthafte Marktforschung zu generieren. Eine jüngere Entwicklung ist ein vergleichsweise simpler Fragetyp, der auf den zweiten Blick jedoch das Potenzial hat, zu einem Standard in der mobilen Befragung zu werden und der gleichzeitig als Fragetyp in jedem browserbasierten Umfeld funktionsfähig ist.

TinSort ist ein Schnellsortiertyp, der letztendlich eine dichotome Ausprägung eines Zustands mit visueller Unterstützung bei Frage und Antwort darstellt. Der Teilnehmer hat hierbei in Anlehnung an die Usability der Dating-App Tinder die Möglichkeit seine Antworten auf eine immer gleiche Art abzugeben. Ein Wisch nach rechts bedeutet Zustimmung, Kenntnis oder eine andere semantische Beschreibung einer positiven Ausprägung. Ein Wisch nach links bringt eine negative Ausprägung zum Ausdruck. Der Mechanismus wird bereits millionenfach genutzt und scheint von der Masse der Internetnutzer verstanden zu werden. Diese Idee wurde im SaaS-Marktforschungstool questfox als frei konfigurierbarer Fragetyp integriert.

TinSort-Umsetzung mit textbasierten Items
TinSort-Umsetzung mit textbasierten Items

TinSort ist also eine Art Multiple-Choice-Frage, deren dichotome Ausprägung in sequenzieller Abfolge mit optionaler grafischer Unterstützung abgefragt wird. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das duale Bedienkonzept aus Wischen oder Klicken ermöglicht es nahezu jedem Teilnehmer die Nutzung in seinem präferierten Interaktionsmodus auf verschiedenen Arten von Geräten.

Ergebnisse erster empirischer Überprüfungen

Eine erste Vergleichsstudie zeigt, dass der Fragetyp TinSort in unterhaltsamer Weise eine Vielzahl von gültigen Antworten produziert. Dem Forscher drängt sich dabei die Frage nach der Validität der Antworten auf: Ein Vergleich in einer Panelbefragung mit dem EntscheiderClub von GapFish und in der "I love my media"-App von RTL Deutschland vom Oktober 2015 wurden identische Items als Multiple-Choice-Liste im Vergleich zur TinSort-Bewertung abgefragt. Der Item "Non-Response" sollte im Vergleich identisch ausfallen. Erstaunlicher Weise erzeugt Tinsort eine signifikant höhere Anzahl an Antworten im Vergleich zu einer Multiple-Choice-Anordnung der Items.

TinSort vs. Multiple-Choice: der direkte Vergleich
TinSort vs. Multiple-Choice: der direkte Vergleich

 
Im Hintergrund fand eine Messung der Antwortzeit statt, welche belegt, dass der Fragetyp nahezu genauso schnell ist. Anwender benötigen für 24 Items nicht einmal eine Sekunde länger.

Antwortzeitvergleich bei 24 zu beantwortenden Items
Antwortzeitvergleich bei 24 zu beantwortenden Items
Sobald der Fragetyp von Befragten "gelernt" ist, darf davon ausgegangen werden, dass die Antwortzeit sogar kürzer ausfallen könnte. Im "magischen" Dreieck von Qualität, Kosten und Zeit ergibt dieser Fragetyp nach ersten Erkenntnissen eine höhere Item-Response bei gleicher Antwortzeit und damit gleichen Kosten.

Es bleibt zu bedenken, dass durch die Gestaltung eventuell Lizenzkosten oder Kosten der Grafikentwicklung entstehen könnten. Dieser Effekt wird aber durch die erhöhte Teilnahmebereitschaft wohl deutlich überkompensiert.

Welche Einsatzszenarien sind denkbar?

Mit dem TinSort-Fragetyp lassen sich letztendlich verschiedene weitere Elemente einer Erhebung ansteuern. Sehr gute Erfahrung hat das Entwicklerteam mit der Reduktion von Marken durch TinSort gemacht, welche dann in weiteren Modellen Verwendung finden können. Methodisch interessant ist insbesondere der Einsatz als Vorstufe zur Variablenreduktion für nachgelagerte Methodensets, zum Beispiel der Reduktion von Entscheidungsalternativen im "Analytic Hierarchy Process"-Verfahren.

In der Zukunft könnte sich die Methode durch zusätzliche Steuerungskomponenten weiterentwickeln, wie zum Beispiel implizite Messmethoden unter Verwendung von Zeitmessung beziehungsweise Zeitdruck. Als Stimuli der Zukunft werden auch Audio- und Videoelemente in Frage kommen. Dies würde etwa die Abfrage der Wiedererkennung von Mediacharts nützlich verändern oder Werbecliptests ermöglichen. Die datenintensiven Dienste Audio und Video rufen jedoch momentan in der mobilen Welt beim Respondenten noch längere Übertragungszeiten und Kosten für Datenvolumina hervor. Spätestens mit dem Ausbau der 5G-Netze sollten diese technischen Fragen aber in wenigen Jahren der Vergangenheit angehören.

Gamification in der Marktforschung ist noch weit entfernt

Insgesamt ist zu betonen, dass TinSort ein Device-agnostischer Fragetyp ist. Er funktioniert auf allen Geräten ohne technische Anpassungen, das heißt sowohl auf dem Desktop als auch auf Touchdisplays. Diese Tendenz ist lobenswert, denn die Marktforschung braucht nicht zusätzliche mobile Fragetypen, sondern Interaktionsformen, die unabhängig von der Gerätewahl und ohne technische Eingriffe sofort einsatzfähig sind.

Die bisherige Diskussion um Surveytainment und Gamification in Research wird dadurch erneut befeuert. TinSort ist aber bei näherer Betrachtung noch weit von einem echten Gamification-Ansatz entfernt. Die Vorstellungskraft der Gamer übertrifft hierbei die Vorstellungskraft der Marktforscher regelmäßig um Längen. Deshalb ist dieser Fragetyp hierbei nur ein kleiner Spieltrick auf dem Weg in echte Gamification-Umgebungen.

Stellen wir uns eine Befragungswelt vor, in der alle Interviews TinSort enthalten. So what? Grundsätzlich scheint es ohnehin so, als würden wir seit Jahrzehnten mit denselben Arten von Fragen arbeiten. Da kann etwas Abwechslung sicher nicht schaden. Es bleibt besonders spannend abzuwarten, mit welchen kreativen Methodenkombinationen die Forscher diesen neuen Fragetyp nutzen.

Die Welt erwartet heutzutage von allen Industrien mobile Lösungen. Die Marktforschung wird sich vor dieser Aufgabe nicht drücken können. Die ersten Schritte sind gemacht. Es gibt keine Ausreden mehr.

Der Autor

Holger Lütters, HTW Berlin
Prof. Dr. Holger Lütters ist Hochschullehrer an der HTW Berlin und erforscht das Nutzerverhalten in digitalen Interaktionen der Marktforschung. Als wissenschaftlicher Beirat der pangea labs unterstützt er die Forschung und Entwicklung von neuen technischen und methodischen Entwicklungen in der Onlineforschung. Mehr Info unter www.luetters.com

Hier gibt es ein Live-Beispiel der Kombination aus TinSort und Analytic Hierarchy Process.

 

Diskutieren Sie mit!     

  1. Sebastian Berger am 06.04.2016
    "Neue Methoden, die der steigenden mobilen Nutzung Rechnung tragen, sucht der Forscher auf den kleinen Screens bisher vergebens."

    Nein, gibt es - z.B. online eye-tracking für Smartphones und Tablets, siehe z.B. GOR 2015 Beitrag: Online Eye-Tracking of Dynamic Advertising Content in Mobile Web-Surveys

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