TIC in der China-Marktforschung

Das Akronym TIC hat während der letzten Jahre in der Volksrepublik China Karriere gemacht als Stoßgebet, Fluch, Drohung und philosophische Kurzformel. Für Markt- und Motivforscher vor Ort ein wichtiger Schlüsselbegriff.

„T.I.C.- This is China“. So lautet die letzte, nicht mehr hinterfragbare Antwort auf dieses Land. Vorsicht ist angebracht, wenn jemand diesen verbalen Joker zieht – in der Regel verheißt er nichts Gutes; weder für den harmlos Reisenden, noch für die dort Lebenden und schon gar nicht für um tieferes Verständnis bemühte Motivforscher: TIC heißt für den Beobachter „Ende des Erklärbaren“. Oder oft auch nur, Ende des Gespräches zu dem angeschnitten Thema. Dabei erfüllt ein TIC vielfältige Funktionen:

Im harmloseren Fall begleitet ein resignierter TIC-Ausruf den Frust über Drängeleien, Warteschlangenspringer, Rauchen in Verbotszonen und ergiebige Schleimspucker. Wie kann es nur sein, dass in Meister Konfuzius‘ Land heute solche Undiszipliniertheiten wuchern? Eingeweihte sprechen dann von TIC-Momenten – Augenblicke, in denen Chinas garstige Seiten aufblitzen. Doch es gibt wesentlich härtere TIC-Momente: Während man sich in Singapur, Taiwan und, seit Überwindung von SARS, auch in Hong Kong auf saubere Toiletten in chinesischer Obhut verlassen kann, gehören jene Örtlichkeiten in der Volksrepublik zu den anspruchsvollsten Prüfungen im Alltag fernab der "4 plus Sterne-Hotels". Nur zu oft ekelerregende Abtritte; bisweilen ohne Sichtschutz, Spülung und Papier. Wieso kapitulieren die stolze Volksrepublik und deren 4.000 jährige Hochkultur mit den Zehntausend Raffinessen vor so etwas Banalem wie hygienische Klos für die Allgemeinheit? Jeder vor Ort kennt das Ärgernis; viele stören sich daran; wenig ändert sich, Schulterzucken und „TIC- this is China“, es gehört zum Gesamtbild Chinas dazu.

Gefährlicher wird TIC als Schlachtruf aus dem Munde jener Festlandschinesen, die sich ertappt sehen beim Überschreiten ihrer eigenen Regeln. Wo andere ein verschämtes „Tut mir leid“ oder zumindest ein flüchtiges „Sorry“ hinterlassen, ist das zugerufene „This is China!“ die dreiste Variante jener, die sich nicht entschuldigen wollen. Denn wer sich ohne Not entschuldigt und Fehler eingesteht, verliert Gesicht. Mit TIC drehen rüde Chinesen den Spieß um. TIC wird zum Vorwurf an den entrüsteten Betrachter: „TIC - Du hast ja keine Ahnung, was hier im neuen China gerade abgeht! Du bist naiv; Du bist zu dumm, um hier zu sein“.

TIC ist auch der Vorbote eines befürchteten Imperialismus, mit dem manche Chinesen im Ausland Hoheitsansprüche durch eigenwillige Benimm- und Duftmarken setzen. „Hoppla, jetzt komm‘ ich“ unter dem mächtigen Schutzschirm der neuen Weltmacht. Besonders empfindlich reagieren darauf die Einwohner Hong Kongs und Taiwans, aber auch benachbarter Staaten wie Philippinen oder Vietnams. Als in Hong Kong im Frühjahr 2014 eine chinesische Touristenfamilie ihr Kind auf offener Straße seine Notdurft verrichten ließ, braute sich zunächst ein Sturm der Entrüstung in den Hong Kong-Medien zusammen, die in diesem Malheur ein Sinnbild der rohen Manieren der Festlandschinesen sahen – erwidert durch einen noch gigantischeren Shitstorm an die Hong Kong-Adresse, entfesselt von chinesischen Print- und E-Medien: „This is China!“ – auch Hong Kong sei nur ein winziger Teil von Großchina und dessen Einflusssphären; schaut doch, was das mit dem „Ein Land – zwei Systeme“ als Sonderverwaltungszone auf Zeit in Wirklichkeit auf sich hat. In ähnlichen Zusammenhängen mögen Pessimisten „TIC - This is China“ auch als das neue „vae victis“ des 21. Jahrhunderts deuten.

Darüber hinaus ist TIC ist mehr als nur ein Instrument im Gerangel um „Gesicht“, kulturellen Einfluss, wirtschaftliche Macht und politische Dominanz. TIC steht für eine chinesische Weltanschauung, „mei you wei shen me“ – Du kannst nicht immer nach dem Warum fragen“. Ein Spruch, mit dem Lehrer ihre Schüler disziplinieren. Lerne, die Welt zu nehmen wie sie ist: nämlich unveränderlich - zumindest für Dich. Füge Dich und verhalte Dich klug; gehe dem Übermächtigen rechtzeitig aus dem Weg und kümmere Dich um Deine eigenen Belange. TIC – Let it be.

Eine pragmatische Anschauung, um sich konfliktarm durch den Alltag Chinas zu lavieren. Jedoch äußerst hinderlich für die motivsuchende Marktforschung. Kennen Sie noch die gute alte Laddering Technique als qualitative Explorationsmethode? In der man ein „Warum“ an das nächste hängt, bis man sich zu den unbewussten Bedürfnissen und mutmaßlichen Urmotiven durchgebohrt hatte? Glauben Sie es mir: Kein chinatauglicher Ansatz, siehe oben: „Du kannst nicht immer nach dem Warum fragen“. Freundliche Kollegen vor Ort, die einem die Mysterien der chinesischen Philosophien und deren Auswirkungen auf die heutigen Realitäten ersparen wollen, sagen dann vielleicht „Du bist kein Chinese, das wirst Du nicht – nie – verstehen“. Auch wenn Büros, Kleidung und Malls in den Großstädten kosmopolitisch und westlicher denn je wirken: China ist anders.

„Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm“. Dieses pädagogische Konzept der deutschsprachigen Sesamstraße fördert Neugierde, führt hin zur Analyse von Ursache und Wirkung. Westliche Marktforschung beruht auf solchen kulturellen Prinzipien – jedoch sind sie nicht universell. Weder in Asien, schon gar in China. Chinesische Kinder, Jugendliche und Studenten lernen überwiegend Fakten ganzheitlich auswendig; fleißig, akkurat, ohne all zu viel Fragen im obigen Sinne. Bildung in China ist auf Prüfbarkeit und Titel aus bestandenen Examina ausgelegt, nicht primär auf Anwendung und Verständnis. - Nicht nur deswegen schicken die neuen Eliten Chinas ihre Kinder gern ins westliche Ausland an dortige Schulen und Universitäten; sie kennen die Eigenart des chinesischen Bildungssystems.

Meine These lautet, China hat bisher keine allgemein akzeptierte Kultur des Nachfragens entwickelt, die sich u.a. als Biotop für westliche, explorative Marktforschung eignet. Sondern eine alternative Kultur des Speicherns, Akzeptierens, Agierens und Experimentierens. Westliche Marktforschung stößt mit den direkten Fragen zu Hintergründigerem auf unvorbereitete Zielpersonen. Fragen, die über das Faktische hinausgehen, zu Motiven und Gefühlen, sind ungewohnt und zudem unschicklich. „Du kannst nicht immer nach dem Warum fragen“. Chinesen sind erzogen, sich indirekt über andere zu informieren, das Verhalten des Gegenübers situativ zu beobachten, seine Reaktionen auszuloten und daraus auf dessen Motive zu schließen. Das Verhalten spricht Bände; die kleinen und großen Gesten, deren Timing und Unterlassen verraten dem Eingeweihten, was gemeint ist – nicht das gesprochene Wort, nicht die verbale Antwort. „This is China“ – TIC , nicht nur für Marktforscher.

 

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