Martins Menetekel Teil 2: Referenz- oder schon Prognosekurve?

Trotz einer derzeit unsicheren Prognoselage wagt Martin Lindner in seinem aktuellen Beitrag einen weiteren Blick auf die Referenz- und Prognosekurven der Covid19-Pandemie. Dabei erläutert er den Verlauf und die Prognoselage anhand eines Wasser-Becken-Beispiels mit einer glattpolierten Goldkugel und einem zerknüllten Papierball und erklärt, was die bildhaften Ergebnisse für die Referenzkurve der Pandemie bedeuten.

Kolumne Martin Lindner: Referenz- oder schon Prognosekurve? (Bild: SNFV GmbH)

Wir befinden uns zur Zeit  in einer völlig unsicheren Prognoselage. Ich hatte letztes Mal einen Versuch gewagt und 2.400.000 als obere Grenze angegeben, es aber nicht als Prognose wissen wollen.

Ich möchte den Unterschied erklären.

Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Wenn wir von einem 10-Meter-Brett in das Wasser springen, so landen wir nach ca. 1,4 s auf der Wasseroberfläche. Das kennen wir: Ist v(t) unsere Geschwindigkeit, so ist v(t) = gt mit g = 9,81 m/s^2 , die Erdbeschleunigung. Das ist das mathematische Modell der gleichmäßig beschleunigten Bewegung. Eine Zeitreihe mit gemessenen Werten von v und den Werten des Modells zeigt am Anfang eine genaue Übereinstimmung, aber schon nach wenigen Sekunden werden die gemessenen Werte immer kleiner. Das Modell stimmt nicht mehr, weil durch turbulente Reibung die Beschleunigung abnimmt. Ab dieser Zeit ist:

b(t) = g - ßv(t)^2 und ß drückt diese Limitierung aus, wieder eine Differentialgleichung.

So würde eine Geschwindigkeit - Zeit - Kurve aussehen:

Aber es kommt viel schlimmer. In einem realen Gas gibt es schon eine Reibung, die linear von v abhängt, also wird b(t) noch einen Tick kleiner, wenn v wächst. Jetzt nehmen wir eine leichte Balsaholzkugel, sie fällt noch etwas langsamer, weil der Auftrieb nicht zu vernachlässigen ist, der Höhepunkt:

Wir lassen Papier fallen, zerknüllt fällt es noch langsamer, als Flugzeug gefaltet schwingt es in Bögen und Kurven zu Boden, da Auftriebs- und Schwerkräfte dazukommen. Das Modell stimmt überhaupt nicht mehr, obwohl sich an g nichts geändert hat.

So ist es auch bei der Pandemie. Die erste Näherung als Exponentialfunktion und die nächstbessere als Verhulstkurve mit Limitierung L = 1/S stimmen immer noch, aber als Prognosemodell taugt es noch nicht, da neue Viren eingetragen werden, AHA nicht genügend beachtet wird und Varianten das Leben schwer machen. Unsere Pandemie entspricht eher dem zerknüllten Papier (ein gewagter und kühner Vergleich!) als der glattpolierten Goldkugel.

Als Referenzkurve taugen aber die Modelle alle Male und wenn man den freien Fall einer Papierkugel messen würde, lieferte das Werte für die lineare und quadratische Reibung und den Auftrieb.

So wollen wir es mit unserer Referenzkurve halten:

Noch bewegt sich die blaue Fallzahlenkurve genügend dicht an der Referenzkurve, um beruhigt zu sein.

Wie gut die Annäherung ist, zeigt die Zuwachskurve:

Wie man sehen kann, haben die reellen Zuwächse noch kein gleichmäßiges Aussehen. Dabei können die blauen Säulen ruhig auch größer als die roten Balken sein, wenn sie danach wieder darunter fallen. Sie müssen um die rote Referenzlinie schwanken. Hoffen wir das Beste.

Erst wenn die Zuwächse konstant und gleichmäßig kleiner werden und ihr Logarithmus eine abfallende Gerade ist, werden wir sie wieder durch eine Zerfallsreihe modellieren (!) können, und damit gewinnen wir zuverlässige Prognosedaten. Das wird der Fall sein, wenn einigermaßen konstant geimpft wird und keine leichtfertigen Lockerungen beschlossen werden.

Martin Lindner
Martin Lindner ist promovierter und habilitierter Mathematikprofessor im Ruhestand und beschäftigt sich intensiv mit nachhaltiger Wirtschaft und der Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Lebensformen. Zusätzlich hat er eine Ausbildung und auch Berufserfahrung in Wirtschaftsmediation.

 

 

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